Der Regenmörder

1. KAPITEL

Ein Würger trieb sein Unwesen in den Straßen von London. Bis jetzt hatte er sechs Frauen ermordet. Die Polizei war verbittert und die Stadt in Aufruhr.

Für die Londoner Zeitungen aber war das natürlich ein gefundenes Fressen und Anlaß für schreiende Schlagzeilen:

WANN WIRD DER WÜRGER DAS NÄCHSTE MAL ZUSCHLAGEN? LONDON IM WÜRGEGRIFF DES SCHRECKENS WAS TUT DIE POLIZEI FÜR DIE SICHERHEIT DER FRAUEN?

Hunderte Telefonanrufe gingen bei Scotland Yard ein. Alle wollten wissen, was die Polizei zu tun gedenke, um den Mörder zu fangen. Die Leute waren in Panik. „In meinem Hinterhof macht sich ein Einbrecher zu schaffen." „Ich glaube, da ist einer, der nachts zu meinem Schlafzimmerfenster hereinschaut."

„Mein Nachbar sieht aus wie ein Mörder. Könnte er der Würger sein?"

„Soll ich mir einen Wachhund zulegen?"

Inspector West von Scotland Yard leitete die Ermittlungen. Es war der schwierigste aller seiner bisherigen Fälle. Es gab keinerlei Hinweise auf den Mörder. Absolut keine. Seine Sekretärin sagte: „Inspector, der Polizeipräsident ist am Telefon für Sie!"

Der Polizeipräsident hatte den Inspector inzwischen ein halbes Dutzend Mal angerufen, und West hatte ihm jedesmal zu erklären versucht, daß er alles Menschenmögliche tue. Er hatte die Fingerabdruckexperten an den Tatort geschickt, aber der Mörder hatte keine Fingerabdrücke hinterlassen. Er hatte die Polizeihunde eingesetzt, um eine Spur des Mörders aufzunehmen, aber es war zwecklos gewesen. Er hatte sich in der Hoffnung, von ihnen brauchbare Hinweise auf den Täter zu bekommen, die Polizeispitzel kommen lassen, aber diese hatten nichts Brauchbares mitteilen können.

Der Mörder war wie ein Phantom, das seine Opfer tötete und dann spurlos verschwand.

Inspector West griff zum Telefonhörer und meldete sich. „Guten Morgen, Herr Polizeipräsident." „Wie steht es?" forschte der Polizeipräsident. „Sie müssen irgend etwas unternehmen! Haben Sie eine Ahnung, unter welchem Druck ich hier stehe? Die Zeitungen treiben mich zum Wahnsinn und lassen uns wie Idioten aussehen. Sogar die Königin persönlich hat mich heute morgen angerufen. Haben Sie mich verstanden? Die Königin persönlich! Sie will wissen, was wir tun, um diesem Verrückten das Handwerk zu legen!" „Wir tun alles Menschenmö ..."

„Das genügt eben nicht! Ich will Resultate sehen! Die Frauen fürchten sich, auf die Straße zu gehen. Niemand weiß, wann und wo dieser Würger das nächste Mal zuschlagen wird. Haben Sie denn gar keine Spur?"

„Wenn ich nur eine hätte! Aber dieser Mörder schlägt einfach immer nur zu, ohne System und Spuren. Er tötet und verschwindet wieder."

Es trat eine lange Pause ein. Dann sagte der Inspector: „Dürfte ich Sie um einen Gefallen bitten, Herr Polizeipräsident?"

„Sicher. Alles, was der Lösung dieses Falles dient."

„Da ist ein junger Polizeisergeant, von dem ich gehört habe. Er hat schon eine ganze Menge Fälle gelöst. Den möchte ich haben."

„Wie heißt er denn?" „Sergeant Sekio Yamada. Könnten Sie das veranlassen?" „Schon geschehen. Sergeant Yamada meldet sich in einer Stunde bei Ihnen."

Genau nach einer Stunde saß Sekio Yamada im Büro bei Inspector West. Er war ein noch junger Mann, sah sehr gut aus und war überaus höflich.

Yamadas Vater besaß eine kleine EIektronikfirma und hatte eine Filiale in London eröffnet. Er hatte gehofft, sein Sohn werde die Firma einmal übernehmen. Aber dieser war schon als Junge an der Verbrechensbekämpfung interessiert gewesen. „Ich will den Menschen helfen."

Er hatte heftige Auseinandersetzungen deswegen mit seinem Vater gehabt, aber es war zwecklos gewesen. Sekio konnte ziemlich hartnäckig sein, wenn er sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte. Er war bei der Polizei angenommen worden und hatte inzwischen schon ein halbes Dutzend Fälle aufgeklärt.

Die Familie war nun sehr stolz auf ihn. Seine Mutter machte sich allerdings auch Sorgen. „Ist denn deine Arbeit nicht sehr gefährlich?" fragte sie ihn.

„Ich passe schon auf mich auf, Mutter, keine Angst" antwortete Sekio darauf. Aber Tatsache war, sein Beruf war wirklich sehr gefährlich. Nach alter Tradition waren die Polizisten in England unbewaffnet gewesen. Nur hatte in den letzten Jahren die Gewalttätigkeit stark zugenommen, und jetzt waren die Polizisten deshalb nicht nur mit Pistolen ausgerüstet, sondern sogar mit automatischen Waffen. Nachdem immer wieder Polizisten im Dienst ihr leben verloren, hatte der Polizeipräsident verfügt, daß die Polizei bewaffnet wurde. Sekio wollte seine Mutter allerdings nicht beunruhigen und erklärte ihr deshalb stereotyp: „Nein, nein, was ich tue, ist nicht gefährlich."

Aber er hatte schon einen Juwelendieb dingfest gemacht, der der Polizei entkommen war, einen Drogenschmuggler und einen Mörder. Bei der ganzen Polizei genoß er bereits hohes Ansehen.

Jetzt fand er sich dem Leiter von Scotland Yard, Inspector West, gegenüber. Er war ein wenig nervös. Er hatte großen Respekt vor dem Mann, vor dem er saß.

„Sie kennen den Würger-Fall ja wohl, wie?"

„Ja, Sir." Ganz London weiß vom Würger.

„Wir brauchen Sie dazu."

„Ja, Sir?"

„Sie haben große Erfolge vorzuweisen." „Vielen Dank."

„Unser Problem ist, daß wir keinerlei Hinweise oder Spuren haben."

Der Inspector stand auf und ging hin und her. „Ich weiß nicht, wieviel Sie über Serienmörder wissen, also über Mörder, die einen Mord nach dem anderen begehen."

„Ein wenig weiß ich schon darüber, Sir."

„Dann wissen Sie auch, daß sie normalerweise einem bestimmten Schema folgen. Beispielsweise tötet ein

Serienmörder nur Prostituierte oder nur kleine Mädchen oder nur Frauen seines eigenen Alters und so weiter. Er folgt eben einem Schema, einem Muster."

„Ja, Sir."

„Unser Problem in diesem Fall besteht darin, daß kein solches Schema erkennbar ist. Einige der getöteten Frauen waren alt, andere jung, einige verheiratet, andere ledig. Eine war Klavierlehrerin, eine andere Hausfrau und eine dritte Model. Sie verstehen, was ich meine? Überhaupt kein einheitliches Verhaltensmuster. Er schlägt einfach nur zu, völlig systemlos." Sekio Yamada zeigte Stirnfalten. „Entschuldigen Sie, Sir, aber so stimmt das nicht."

„Wie bitte?"

„Es gibt immer ein Verhaltensmuster. Wir müssen es nur entdecken."

Inspector West sah ihn regungslos an. „Und Sie glauben, Sie können es finden?"

„Das weiß ich nicht, Sir. Aber ich würde es auf jeden Fall gerne versuchen."

„Gut, junger Mann. Meine Sekretärin gibt Ihnen eine Liste aller Opfer. Sie können mit Ihren Ermittlungen sofort beginnen."

Sergeant Sekio Yamada stand auf. „Ja, Sir. Vielen Dank für den Auftrag und Ihr Vertrauen."

„Zwei Dinge müssen Sie wissen", sagte der Inspector.

„Sir?"

„Alle Opfer hatten etwas auf dem Rücken." „Was genau war das?"

„Wir sind uns nicht ganz sicher, was es ist. Sieht aus wie eine Verletzung. Wie eine Art Kratzer oder so."

„Könnte es von einer Injektionsnadel oder dergleichen stammen?"

„Nein, nein. Die Haut ist nicht verletzt. Und dann das zweite." „Sir?"

„Der Würger tötet nur, wenn es regnet."

Einige Meilen entfernt ging zur selben Zeit ein Mann auf einen Zeitungskiosk am Sloane Square zu und besah sich die neueste Schlagzeile:

ACHTEN SIE AUF DEN WETTERBERICHT! WÜRGER SCHLÄGT NUR BEI REGEN ZU

Der Mann lächelte. Das stimmte. Es lag ihm daran, seine Opfer zu erwürgen und ihr Gesicht dann himmelwärts zu drehen, damit Gottes Regen ihre Sünden abwusch. Alle Frauen waren Sünderinnen. Gott wollte, daß sie getötet wurden. Er tat Gottes Werk und befreite die Welt vom Übel. Er konnte nicht verstehen, warum ihn die Polizei suchte und verfolgte; warum sie ihn bestrafen wollte. Eigentlich sollte sie ihn doch dafür belohnen, daß er diese bösen Frauen aus der Welt schaffte!

Der Mörder hieß Alan Simpson. Als kleinen Jungen hatte man ihn immer allein gelassen. Sein Vater arbeitete schwer in einer Seifenfabrik außerhalb Londons und war tagsüber nicht da. Seine Mutter sollte eigentlich zu Hause sein und sich um ihn kümmern, aber immer, wenn er von der Schule nach Hause gekommen war, fand er die Wohnung leer. Seine Mutter war jung und schön gewesen, und er vergötterte sie. Nur etwas mehr Beachtung hätte er sich von ihr gewünscht. „Wirst du da sein, Mama, wenn ich aus der Schule komme?" „Aber natürlich, Schatz." Und er glaubte ihr.

Doch tatsächlich war sie nie da. „Du hast gesagt, du bist da." „Ja, ich weiß. Aber es ist etwas Wichtiges dazwischen gekommen."

Ständig kam etwas Wichtiges dazwischen.

„Aber dafür mache ich dir heute abend etwas ganz Gutes, mein Liebling."

Darauf hatte er sich dann gefreut. Nur war sie auch abends nicht da. Immer ging sie schon frühmorgens Weg und kam zu spät, um noch rechtzeitig Abendessen zu machen, so daß sein Vater und er sich ein paar Konservendosen öffnen und wärmen mußten. Als er ein wenig älter war, bereitete er dann selbst das Abendessen zu.

Er fragte sich, was denn seine Mutter den ganzen Tag über so Wichtiges zu tun hatte. Sie arbeitete ja nicht, und er, als kleiner Junge, konnte sich nicht vorstellen, wozu sie sonst die ganze Zeit weg sein konnte.

Aber als er zwölf Jahre alt war, trieb ihn die Neugierde, es herauszufinden.

Er versteckte sich eines Tages, statt zur Schule zu gehen, auf der anderen Straßenseite vor ihrem Wohnhaus und wartete. Es dauerte nicht lange, da kam seine Mutter heraus und hatte ihr hübschestes Kleid an. Sie ging die Straße entlang, als hätte sie es furchtbar eilig, und er folgte ihr in sicherem Abstand, damit sie ihn nicht entdecken konnte.

Es begann zu regnen, während seine Mutter zwei Häuserblocks weiterging, wo er sie dann in einem Haus verschwinden sah. Wo geht sie denn da hin? fragte er sich. Er konnte sich nicht denken, was sie da zu tun hatte. Er kannte alle ihre Nachbarn, aber von denen wohnte keiner in diesem Haus dort. Er blieb vor dem Haus stehen und beobachtete. Im zweiten Stock sah er an einem Fenster einen Mann, und auf einmal erschien neben ihm seine Mutter. Er starrte ungläubig, als der Mann sie in die Arme nahm und sie sich küßten. „Mama!" schrie er voller Zorn.

Also das war es, was seine Mutter die ganze Zeit tat! Statt sich um ihn zu kümmern und ihn zu versorgen, betrog sie ihren Mann mit einem anderen! Und nicht nur seinen Vater, sondern auch ihn, ihren Sohn, betrog sie damit! Sie war eine Hure! An diesem Tag war Alan Simpson zu der Ansicht gelangt, alle Frauen seien Huren, und daß sie dafür bestraft, nämlich getötet werden müßten.

Er verschwieg seiner Mutter, daß er ihr Geheimnis entdeckt hatte. Aber von diesem Tag an haßte er sie. Er wartete, bis er alt genug war, um das Elternhaus verlassen zu können, trieb sich dann herum und arbeitete alles Mögliche. Weil er die Schule nicht abgeschlossen hatte, fehlte ihm nun eine richtige Erziehung und Ausbildung, und so konnte er auch keine guten Stellungen finden. Er war Page in einem Hotel, Träger in einem Kaufhaus und Verkäufer in einem Schuhgeschäft. Weil er gut aussah und ganz ordentliche Manieren besaß, ging es ihm gar nicht so schlecht. Vor allem schöpfte niemand auch nur den geringsten Verdacht, daß so ein tödlicher Haß auf Frauen in ihm brannte.

Seine brillante Idee kam ihm, als er in einem Lebensmittelgeschäft arbeitete, bei der Beobachtung der Frauen, die dort für das Abendessen einkauften. Er dachte bei sich: Sie kochen Abendessen sowohl für ihre Ehemänner als auch für ihre Liebhaber und tun so, als seien sie gute Ehefrauen und Geliebte, aber die ganze Zeit betrügen sie nur jeden. Und deshalb sollten sie getötet werden. Nur die Angst, erwischt zu werden, hielt ihn vorerst davon ab, selbst etwas in diesem Sinne zu unternehmen.

Noch während er dies dachte, entdeckte er, als er nach draußen sah, daß es zu regnen begann. Viele dieser Frauen hasteten ohne Regenschirm nach draußen mit ihren Einkaufstaschen, und genau da kam Alan Simpson seine Eingebung. Er wußte mit einem Schlag, wie er sie töten konnte, ohne entdeckt zu werden.

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