Sekio und Akiko waren beide selig. Sie hatten in dem Lokal gegessen, aber kaum bemerkt, daß sie es taten und was sie aßen, so versunken ineinander und in ihre Gespräche und ihr gemeinsames Lachen waren sie. Und sie merkten gar nicht, wie die Zeit verging.
Das Lokal war sehr voll, und längst warteten andere Leute auf ihren Tisch, bis der Kellner kam und sich erkundigte: „Darf es noch etwas sein, Sir?"
Akiko blickte hoch und bemerkte jetzt erst die auf den Tisch wartenden Leute, deren Blicke nicht sehr freundlich waren. „Nein, danke, das ist alles", sagte Sekio Yamada. „Wenn Sie mir dann die Rechnung bringen, damit der Tisch frei wird. Ich sehe, daß die Leute warten." „Bitte sehr."
Sie traten hinaus in die kühle Abendluft. Sekio sah zum Himmel hinauf und dachte: Gott sei Dank regnet es nicht, da wird der Würger heute abend nicht zuschlagen.
Im selben Moment wunderte sich Alan Simpson in Akikos Wohnung, wo sie denn blieb. Sie ist jetzt schon ziemlich lange weg, dachte er. Er war ziemlich nervös. Er ging unruhig herum und schaute immer wieder aus dem Fenster, ob Akiko denn nicht endlich kam.
Die Wettervorhersage hatte Regen versprochen, aber es sah nicht nach Regen aus. Die Narren wissen auch nicht, was sie sagen, dachte er. Und außerdem, wozu brauche ich zum Morden unbedingt Regen? In Wirklichkeit allerdings wußte er sehr genau, warum. Alles mußte exakt so sein wie an jenem Tag, als er die Wahrheit über seine Mutter erfahren hatte. Der Regen mußte das Böse von seinen Opfern abwaschen.
Aber Regen oder nicht Regen, dachte er sogleich weiter, diese Akiko Kanomori muß sterben, so oder so.
Er sah auf die Uhr. Wenn sie sich doch etwas beeilen würde!
Akiko und Sekio fuhren zu dieser Zeit gerade zurück zu ihrer Wohnung. In ein paar Minuten, dachte Akiko, bekommt er den Kopf des Würgers von mir, und dann verläßt er mich wieder, und vermutlich sehe ich ihn danach nie mehr. Es drängte sie zu sagen: Rufen Sie mich mal an? Aber sie wollte nicht aufdringlich sein. Dazu war sie viel zu zurückhaltend. Als hätte er ihre Gedanken lesen können, sagte Sekio: „Sagen Sie, Akiko, könnten wir vielleicht, auch wenn dieser Fall erledigt ist, wieder einmal zusammen essen gehen?" Akiko hüpfte das Herz im Leib vor Freude. „Sehr gerne", sagte sie.
Sekio lächelte. Er wußte jetzt, daß alles gut verlief. Er wollte mit dieser Frau sein ganzes Leben lang zusammensein. Er mußte nur zuerst noch den Würger fassen. „Wollten Sie immer schon Polizist werden?" fragte Akiko. „Schon, seit ich zehn Jahre alt war", sagte er. „Damals geschah bei uns in der Nachbarschaft ein Mord, der allgemeines Entsetzen verursachte. Wir hatten Angst, der Mörder werde auch uns heimsuchen. Die Polizei war sehr freundlich. Man sagte uns, wir sollten uns keine Sorgen machen, der Mörder werde schon gefaßt, und dann seien wir alle wieder sicher vor ihm. Da wußte ich, daß ich auch Polizist werden wollte, als Freund und Helfer der Menschen."
Ganz erstaunlich, dachte Akiko. Was er da erzählt, ist genau, was jetzt gerade passiert. Ein Mörder geht um und verbreitet Angst und Schrecken, und Sekio bemüht sich, für Sicherheit zu sorgen. Sie sah ihn an und dachte: Er ahnt überhaupt nicht, wie wundervoll er ist.
Sie fuhren an Kensington Gardens vorbei. Der Park sah im Mondschein wie verzaubert aus.
„Haben Sie schon mal von einem Schriftsteller namens J. M. Barriegehört?" fragte Sekio. Denn in diesem Park stand eine Statue des berühmten Geschöpfs dieses Schriftstellers. „Nein, habe ich nicht."
„Er hat eine wunderschöne Geschichte geschrieben: Peter Pan. Das war ein Junge, der sich weigerte, erwachsen zu werden und also ewig ein Knabe blieb. Seine Mutter wies ihn aus dem Haus, und da flog er ins Nimmerland. Eine sehr schöne Geschichte."
„Sie klingt wunderschön, ja", sagte Akiko. Und sie dachte im stillen dazu: Irgendwie ist er auch noch wie ein richtiger Junge. So enthusiastisch und begeisterungsfähig. Sie näherten sich ihrem Wohnhaus. Ein paar Minuten noch, dachte sie, dann muß ich den Kopf vollenden und ihm mitgeben. Aber sie hatte jetzt wenigstens keine Angst mehr. Denn er war ja bei ihr und blieb auch an ihrer Seite, während sie ihre Arbeit beendete. Der Modellierton sollte ihr jetzt keine Angst mehr machen.
Zwei Häuserblocks vor ihrem Wohnhaus sahen sie einen Verkehrsunfall. Ein Auto war von einem Lastwagen fast zerdrückt worden, Trümmer waren über die ganze Straße verstreut, und auf dem Pflaster lag stöhnend ein verletzter Fußgänger.
Sekios Gesicht spannte sich an. Er griff nach seinem Funkgerät. „Hier Wagen siebzehn. Unfall auf Höhe Pont Street 2624. Schickt rasch einen Notarzt."
Dann schaltete er ab und sagte zu Akiko: „Tut mir leid, ich setze Sie ab und kümmere mich um den Unfall. Ich folge dann in ein paar Minuten nach." „Ist gut."
Hoffentlich, dachte sie, war dem auf der Straße liegenden Fußgänger nichts Schlimmes passiert. Sekio trat aufs Gas und fuhr sie noch schnell bis vor ihre Haustür. „Ich komme, so schnell es geht."
„Schon in Ordnung. Bis dahin habe ich dann auch den Kopf ganz fertig."
Sie blieb noch am Randstein stehen, bis er weggefahren war.
Dann erst drehte sie sich um und ging ins Haus.
Der Mann, der auf der Straße lag, war zum Glück nicht schwer verletzt. Sekio beugte sich über ihn und fühlte ihm den Puls.
„Wie geht es Ihnen?" erkundigte er sich.
„Na ja, ein bißchen zittrig bin ich."
„Haben Sie das Gefühl, daß irgend etwas gebrochen ist?"
Der Mann befühlte seine Arme und Beine. „Es scheint alles in Ordnung zu sein. Es muß mich aus dem Wagen geschleudert
haben, als der Lastwagen auf mich prallte."
„Können Sie aufstehen?"
„Ich denke schon."
Der Mann rappelte sich hoch. Sekio untersuchte ihn.
Der Mann schien leicht unter Schock zu stehen, aber nicht schwerwiegend verletzt zu sein.
„Der Notarzt muß jeden Augenblick da sein und bringt Sie ins Krankenhaus.. "
„Das ist nicht nötig. Mir fehlt nichts", sagte der Mann und schaute auf sein zerdrücktes Auto. „Meine Frau bringt mich um. Es ist ihr Wagen."
Ein Polizeiauto kam herangefahren, zwei Polizisten stiegen aus.
„Verletzte?" fragte der eine.
„Ich denke nicht", erklärte ihm Sekio. „Aber Sie können sich um das Unfallprotokoll kümmern." Er wollte möglichst rasch weg; um bei Akiko den Kopf des Würgers abzuholen, den er bei Inspector West abliefern mußte. „In Ordnung."
Er stieg ein und fuhr los. Vielleicht ist sie inzwischen ja schon fertig, dachte er.
Akiko betrat ihre Wohnung und summte leise vor sich hin. Das Zusammensein mit Sekio hatte sie beschwingt. Es war sehr still in der Wohnung. Sekio würde bald hier sein. Ich muß nur noch die Lippen machen, dann ist der Kopf fertig, und ich habe es hinter mir, dachte sie.
Sie ging ins Atelier und blieb, noch in der Tür, wie angewurzelt stehen und starrte mit aufgerissenen Augen. Der Kopf, den sie aus. Ton modelliert hatte, lag in einem halben Dutzend Scherben auf dem Boden.
Ihr erster Gedanke war, daß der Kopf zum Leben erwacht sei und sich selbst zerschmettert habe. Aber bevor sie noch weiterdenken konnte, fühlte sie sich von hinten gepackt und spürte ein Messer im Genick.
„Keinen Laut!" sagte Alan Simpson, „oder ich bringe Sie auf der Stelle um."
Akiko war zu verblüfft, um sich bewegen zu können. „Bitte", stammelte sie, „tun Sie mir nichts." Er schob sie in das Atelier hinein. „Also, Sie wollten das da der Polizei zeigen, wie?"
Sie wußte nicht, was sie sagen „Nein.. .ich..."
„Lügen Sie mich nicht an!" Sie drehte sich zu ihm um. Es war, als schaue sie in das Gesicht, das sie modelliert hatte. Er sah genauso aus, wie sie sich an ihn erinnerte.
Sie war ihm schon einmal entkommen, aber es war ihr klar, daß sie nun in seiner Gewalt war. Ich muß Zeit gewinnen, dachte sie. Sekio kann jede Minute dasein. Er wird mich beschützen.
Sie wunderte sich, daß der Würger gar keine Schnur in der Hand hatte, und überlegte, was er vorhaben mochte. Wollte er sie etwa mit einem Messer erstechen? Bisher hatte er doch alle seine Opfer erdrosselt?
„Kommt der Polizist wieder?" fragte Alan Simpson.
Akiko zögerte. Sie war sich nicht sicher, was besser war zu sagen, Ja oder Nein.
„Nein", sagte sie dann.
„Sie sagen mir besser die Wahrheit."
„Was haben Sie mit mir vor?"
Alan Simpson wußte selbst noch nicht genau, was er mit ihr machen sollte. Daß sie sterben mußte, war klar. Aber er brachte es nicht über sich, es zu tun, solange es nicht regnete. Es mußte regnen. Genau wie an dem Tag, wo er seine Mutter dabei überrascht hatte, wie sie es mit einem Fremden trieb. Ich muß sie von hier wegschaffen. Ich bringe sie in meine Wohnung und halte sie dort fest, bis es regnet, und dann töte ich sie!
In diesem Augenblick klopfte es an der Wohnungstür. Simpson fuhr überrascht hoch. „Wer ist das?" flüsterte er. „Ich... ich weiß nicht."
„Sie lügen!" Sein Gesicht war zornrot. „Das ist er, nicht? Na, dann müßt ihr eben beide daran glauben." Sie spürte wieder sein Messer im Nacken.
„Nein, bitte!" flehte Akiko. „Tun Sie ihm nichts!" Sie war auf einmal schrecklich besorgt, daß er Sekio etwas antun würde. Mehr noch als sie sich um sich selbst ängstigte. Simpson stand da und überlegte fieberhaft. Er mußte diesen Polizisten loswerden.
„Er kommt, um diesen Kopf von mir zu holen, wie?" „Ja."
„Warum haben Sie ihm den nicht vorher schon gegeben?" „Weil er noch nicht fertig war." Akiko hoffte, daß dieser Wahnsinnige Sekio unbehelligt ließ, wenn sie ihm die Wahrheit sagte.
„Also gut", sagte Simpson, „Sie tun jetzt genau, was ich Ihnen sage. Sie sagen ihm, daß der Kopf noch nicht fertig ist, aber daß er ihn morgen früh bekommt. Haben Sie verstanden?"
Er drückte ihr das Messer tiefer in den Nacken, so daß sie bereits einige Blutstropfen spürte.
„Ob Sie verstanden haben?"
„Ja."
„Gut. Machen Sie die Tür auf, aber nur einen Spalt. Eine falsche Bewegung, und Sie haben das Messer im Genick." Es klopfte noch einmal.
„Los jetzt!" zischte er ihr zu. Er blieb dicht hinter ihr und hatte sie mit einer Hand an der Schulter, mit der anderen hielt er sein Messer in ihrem Nacken. Er trieb sie vor sich her zur Tür. Von draußen war Sekio zuhören. „Akiko? Sind Sie da?"
Ihr Mund war vor Angst so trocken, daß sie fürchtete, keinen Laut herauszubringen.
„Antworten Sie!"zischelte Simpson. „Ja. Ich bin ... ich bin da!"
„Machen Sie einen Spalt auf", flüsterte Simpson.
Akiko holte tief Luft und machte die Tür halb auf. Sie spürte das Messer auf der Haut in ihrem Genick. Der Würger stand hinter der Tür, wo ihn Sekio nicht sehen konnte.
Sekio sah Akiko an, und sie erschien ihm ungewöhnlich blaß.
„Ist etwas?" fragte er. „Was ist los?"
Akiko hätte ihm am liebsten zugeschrien, daß sie in der Gewalt des Würgers war, der ihr eine Messerklinge in den Nacken drückte. Und daß er um sein Leben laufen sollte. „Nein, nein", sagte sie statt dessen nur, „alles in Ordnung." Aber ihre Stimme war schwach.
„Kann ich hereinkommen?" Akiko setzte schon zu einer Entgegnung an, als sie den sich verstärkenden Druck des Messers in ihrem Nacken spürte.
„Seien Sie mir nicht böse", sagte sie also, „tut mir leid, aber als ich heimkam, fühlte ich mich auf einmal so müde, und da konnte ich nicht an dem Kopf weiterarbeiten." Sekio sah enttäuscht aus. „Ach so. Das ist schade. Ich hatte gehofft... "
„Ja, ich weiß. Ich mache ihn auch gleich morgen früh fertig. Ich rufe Sie an, wenn es soweit ist." Es war ein merkwürdiger Ausdruck in ihrem Gesicht. Sekio machte sich Sorgen. „Sie sind doch nicht krank, wie? Soll ich nicht hereinkommen und..."
Wieder spürte sie den Druck des Messers. „Nein. Ich bin wirklich sehr müde. Morgen früh geht es mir bestimmt wieder besser!"
Sie mußte ihn anlügen, aber sie tat es, um sein Leben zu retten.
Wenn er hereinkam, brachte der Würger ihn um.
Sekio sagte zögernd: „Na gut, wenn Sie meinen. Dann gehe ich eben. Ich komme dann morgen früh wieder."
„Ja", sagte Akiko. „Tun Sie das."
Er musterte sie lange, ehe er sich umdrehte und ging.
Alan Simpson drückte die Tür zu.
Sie war allein mit dem Würger.