Sergeant Sekio Yamada und seine Leute lagen noch bis fünf Uhr morgens im Mayfair-Markt auf der Lauer. Erst als sich auch dann der Würger nicht gezeigt hatte, beschloß Yamada, die Aktion abzubrechen.
„Ihr könnt alle nach Hause gehen", sagte er: „Er kommt nicht mehr."
Er war sehr enttäuscht. Er war sich so sicher gewesen, direkt auf der Spur des Würgers zu sein. Ich habe mich also geirrt, dachte er. Er hatte keine Ahnung, daß der Würger ihn und seine Leute gesehen und erkannt hatte und geflüchtet war. Yamada fuhr nach Hause und schlief sich erst einmal richtig aus, was er dringend nötig hatte. Er träumte von Akiko. Daß sie verheiratet waren und in einer schönen Wohnung lebten. Als er aufwachte, lächelte er noch immer selig. Er rasierte sich, duschte und zog sich an. Er überlegte, wie weit Akiko wohl mit dem modellierten Kopf des Würgers war. Er rief sie an, und sie erkannte seine Stimme sofort. „Hier ist Sergeant Yamada."
„Ja, ich weiß", sagte sie. Es gefiel ihm, daß sie ihn bereits an der Stimme erkannte. Er erkundigte sich, wie weit sie war. „Es ist nicht so leicht, wie ich gedacht hatte", sagte Akiko. Es war nicht leicht für sie, zuzugeben, was mit ihr geschehen war. Der Kopf des Würgers war wie etwas Böses. Jedesmal, wenn sie daran weiterarbeiten wollte, schien er lebendig zu werden. Als sie seine Augen formte, schienen sie sie anzustarren. Als sie seine Lippen modellierte, schienen sie sich abschätzig zu kräuseln. Sie hatte das Gesicht nun schon mehrmals angefangen, aber jedesmal hatte sie dieses Angstgefühl gepackt, und sie hatte das Gesicht sofort wieder zerstört.
Jetzt sagte sie am Telefon nur: „Ich habe ein wenig Schwierigkeiten damit."
„Das tut mir leid zu hören", sagte Sekio. Er hatte darauf gezählt, daß sie ihm das Gesicht des Würgers verfertigte. „Aber keine Sorge", sagte Akiko, „ich kriege ihn schon fertig. Es dauert lediglich ein wenig länger, als ich dachte. Vielleicht bin ich bis morgen soweit."
„Also gut", sagte Sekio Yamada. „Dann komme ich morgen mal vorbei und sehe nach, wie es steht?" „Ja, tun Sie das."
Als Akiko den Hörer auflegte, dachte sie: Ich mag ihn wirklich sehr. Ob ich ihn wohl, wenn dies alles vorbei ist, auch noch wiedersehe?
Sie hoffte es sehr. Sie ging in ihr Atelier und stand mit dem Klumpen Ton in der Hand, mit dem sie weiter an seinem Gesicht arbeiten wollte, nachdenklich vor dem Kopf des Würgers von London. Sie begann zu modellieren. Aber wieder kam sie nicht voran. Ich schaffe es einfach nicht. Jedenfalls jetzt nicht, dachte sie. Ich muß eine Weile weg. Ich brauche frische Luft. Sie ging durch die Straßen Londons und versuchte, nicht an den Würger zu denken. Sie ging bis zum Piccadilly Circus, wo die ganzen Theater waren. Riesige Neonschriften leuchteten von den Häusern und kündigten die verschiedenen Theaterproduktionen an.
Der Piccadilly Circus ist kein Zirkus, sondern ein sehr geschäftiger und belebter Platz. Akiko vertiefte sich in die Betrachtung der Menschenmenge. Die Theater waren wundervoll. Die besten der Welt, wahrscheinlich. Sie hatte Laurence Olivier auf der Bühne den Hamlet spielen sehen. Und auch Lohn Guildguld und Maurie Evans hatte sie gesehen. Die Engländer sind die besten Schauspieler der Welt, dachte sie. Schon mehrmals hatten ihr Produzenten Rollen in Filmen oder Theaterstücken angeboten. Aber sie hatte sie alle abgelehnt.
„Das solltest du aber machen", hatte ihr Vater gesagt. „Schauspieler verdienen viel Geld."
„Ich bin keine Schauspielerin", hatte sie geantwortet. „Ich bin Bildhauerin."
„Du solltest aber lieber Schauspieler in werden."
„Das finde ich nicht", hatte sie gesagt. „Meiner Meinung nach muß man zur Schauspielerin geboren sein."
„Unsinn!" Doch Akiko glaubte wirklich daran, daß man mit einem bestimmten Talent geboren sein mußte, um Schauspielerin oder Autorin oder Bildhauerin zu werden. Das war eine Gottesgabe. Sie war dankbar für ihr spezielles Talent.
Ihre Liebe war das Formen von Skulpturen.
Es war schon einige Zeit her, seit sie zuletzt in der Kunstgalerie gewesen war, welche ihre Arbeiten verkaufte. Sie beschloß, hinzugehen und sich umzusehen. Der Inhaber, Mr. Yohiro, war ein kleiner, hagerer Mann mit hektischen Bewegungen. Er erinnerte Akiko an einen Vogel.
„Gut, daß Sie kommen!" sagte er. „Ihre Sachen verkaufen sich prächtig. Die Nachfrage ist groß."
."Das freut mich zu hören", sagte Akiko.
„Können wir in zwei Wochen eine neue Ausstellung machen?"
„Ja", antwortete Akiko.
Sie erwähnte nicht, daß sie an dem Kopf des Würgers arbeitete; Mr. Yohiro klatschte erfreut in die Hände.
„Großartig. Meine Kunden werden sehr zufrieden sein. Und vergessen Sie ja nicht, daß die Venusstatue dabei ist."
„Ja, ich weiß schon." Aber ich muß erst den Würgerkopf fertig haben, dachte sie im stillen. Dann erst kann ich die anderen Arbeiten in Angriff nehmen, die ich noch vorhabe.
Mr. Yohiro lud sie zum Essen ein.
Sie gingen in ein kleines Lokal in der Nähe, ein Pub. Akiko mochte die Londoner Pubs. Das Essen dort war zwar einfach, aber gut, und die Leute waren sehr freundlich. Viele hatten Dartscheiben, auf die die Gäste Pfeile warfen. Ein paarmal hatte Akiko selbst mitgespielt und gefunden, daß sie ganz gut in Darts war.
Als sie bestellt hatten, sagte Mr. Yohiro: „Ich bin wirklich stolz auf Sie. Ich wußte vom ersten Augenblick an, daß Sie talentiert sind und großen Erfolg haben würden. Und Sie haben mich nicht enttäuscht."
„Danke", sagte Akiko. „Ich liebe meine Arbeit. Wenn ich nicht müde würde und ab und zu auch mal schlafen müßte, würde ich Tag und Nacht arbeiten." Sie lächelte. „Es klingt vielleicht etwas arrogant, aber ein wenig ist es, als spielte man Gott, wenn man Ton formt und so zum Leben erweckt." Natürlich hatte Akiko, als sie dies sagte, keine Ahnung, daß auch Alan Simpson sich wie Gott fühlte, weil er Menschen das Leben nehmen konnte.
„Ihre Ausstellung in zwei Wochen wird meine erfolgreichste überhaupt werden", sagte der Galeriebesitzer, „doch dann werde ich Sie vermutlich bald an eine bedeutendere Galerie verlieren."
„Aber nein", widersprach ihm Akiko lebhaft. „Sie waren der erste, der sich meiner angenommen hat, bei Ihnen bleibe ich. Loyalität zählt im Leben."
„Ich will mich ja nicht in Ihr Privatleben mischen, aber ich bin trotzdem neugierig. Sie sind so eine hübsche junge Frau, aber immer allein, sooft ich Sie sehe. Haben Sie denn keinen Freund?"
Akiko schüttelte den Kopf. „Nein. Ich bin zwar mit mehreren Männern ausgegangen, aber keiner hat mich wirklich interessiert." Doch noch während sie dies sagte, dachte sie:
Außer Sekio Yamada. Ich möchte wissen, ob er eine Freundin hat. Hoffentlich nicht.
Zu Mr. Yohiro sagte sie: „Eines Tages möchte ich heiraten und Kinder haben, aber nur zu heiraten, um verheiratet zu sein, ist nicht das Richtige. Man sollte sich schon zuvor der gegenseitigen Liebe sicher sein."
Mr. Yohiro nickte.. „Ganz meine Ansicht. Ich bin mit meiner Frau seit dreißig Jahren verheiratet, und wir führen immer noch eine glückliche Ehe."
So plauderten sie und sprachen über Kunst und verschiedene Maler, die in der Galerie vertreten waren, aber den Würger erwähnte Mr. Yohiro mit keinem Wort. Akiko wurde klar, daß er offensichtlich ihr Foto in den Zeitungen nicht gesehen hatte. Denn sonst hätte er sich doch zweifellos nach der Sache erkundigt. Sie beschloß, von sich aus nicht davon zu reden. Das alles würde sowieso bald vorüber sein. Sobald sie den Kopf des Würgers fertig modelliert und Sergeant Yamada übergeben hatte, würde der Mörder rasch gefaßt werden. „Wollen Sie noch mit in die Galerie kommen?" fragte Mr. Yohiro.
„Danke, nein", sagte Akiko. „Ich muß zurück an meine Arbeit." Zurück zum Würger. Sehr glücklich war sie darüber nicht.
„Na gut, es war nett, daß wir uns zum Essen getroffen haben, bis bald dann."
Mr. Yohiro bezahlte, und sie gingen hinaus auf die Straße. „Auf Wiedersehen." „Auf Wiedersehen."
Mr. Yohiro sah Akiko noch eine Weile nach. Er dachte: Was für ein hübsches Mädchen, und mit Talent obendrein. Als er in seine Galerie zurückkam, fiel ihm plötzlich ein, daß er etwas vergessen hatte. Er hatte ihr gar nicht erzählt, was für ein Plakat er für ihre neue Ausstellung hatte drucken lassen. Es war ein sehr schönes Plakat mit Akikos Porträt darauf und dem Text dazu:
AKIKO KANOMORI KUNSTAUSSTELLUNG 12. - 17. NOVEMBER
Ich hänge gleich einmal eines ins Schaufenster, dachte er beschwingt. Er ging in das Hinterzimmer und holte ein Plakat, trug es nach vorne und hängte es in das Galerieschaufenster. Keine fünf Minuten später kam Alan Simpson an der Galerie vorbei. Fast hätte er das Plakat übersehen, doch im letzten Moment, als er schon so gut wie vorbei war, sah er es noch aus den Augenwinkeln, und es riß ihn geradezu. Er blieb stehen. Er konnte sein Glück kaum fassen. Hier, direkt vor ihm, hing das Bild der Frau, die er suchte; der einzigen Person auf der ganzen Welt, die ihn bei der Polizei identifizieren konnte. Er grinste zufrieden. So, also Akiko Kanomori hieß sie. Und Künstlerin war sie. Ziemlich bald ist sie eine tote Künstlerin, dachte er, und betrat die Galerie, Mr. Yohiro begrüßte ihn. „Guten Tag, Sie wünschen ?" „Ich bin Zeitungsreporter", log Alan Simpson. „Und ein großer Bewunderer von Miß Kanomori,"
„O ja, das sind wir alle, Sie ist eine großartige Künstlerin." „Ganz meine Meinung. Meine Zeitung möchte ein Interview mit ihr. Sie hat doch demnächst eine Ausstellung bei Ihnen, nicht wahr?"
„Ja. Das Plakat hängt bereits im Fenster vorne." „Ach ja?" sagte Alan Simpson und tat überrascht. „Das habe ich glatt übersehen. Um so besser. Ein Interview wird dann besonders nützlich sein. Das bringt zusätzliche Publicity, nicht wahr? Wenn Sie mir vielleicht ihre Adresse geben könnten... ?"
„Ja, ich weiß nicht... Wissen Sie, Miß Kanomori ist sehr öffentlichkeitsscheu. Sie gibt üblicherweise keine Interviews." „Es nimmt wirklich nur ein paar Minuten in Anspruch", sagte Alan Simpson. „Und ich versichere Ihnen, daß es sehr rücksichtsvoll sein wird."
Der junge Mann hatte so gute Manieren. Da nickte Mr. Yohiro schließlich. „Also gut. Ihre Adresse ist 2422 Pont Street." „Verbindlichsten Dank", sagte Alan Simpson. „Ich freue mich wirklich sehr auf die Begegnung mit ihr." Er musterte Mr. Yohiro und dachte: Aus deiner Ausstellung, lieber Freund, wird wohl nichts werden. Deine Künstlerin wird bald nicht mehr leben.