2. KAPITEL

Sergeant Sekio Yamada wußte - er wußte es einfach! -, daß es indem Vorgehen des Würgers irgendein Verhaltensmuster geben mußte. Wie suchte er seine Opfer aus? Wie näherte er sich ihnen, um sie töten zu können, ohne daß sie um Hilfe riefen? Es war ihm klar, daß er systematisch vorgehen und ganz von vorne beginnen mußte.

Das erste Opfer war eine Hausfrau gewesen. Sekio ging zu ihrer Wohnung. Ihr Ehemann machte ihm auf. Er sah aus, als habe er seit Tagen nicht geschlafen. Er ließ ihn eintreten. „Was wollen Sie?"

Sekio zeigte ihm seine Polizeimarke. „Ich bin Sergeant Sekio Yamada von der Polizei. Wenn Sie ein paar Minuten Zeit hätten?"

„Es ist wegen des Mordes an meiner Frau, nicht? Also kommen Sie herein." Er führte ihn in das Wohnzimmer. „Ich wüßte niemanden, der einen Grund gehabt hätte, sie zu ermorden. Sie war eine wunderbare Frau ohne Feinde." „Einen muß sie wohl gehabt haben", stellte Sekio fest. „Das muß ein Wahnsinniger gewesen sein." „Möglich", räumte Sekio ein. „Aber wir müssen alle Aspekte genau erforschen. Hat sie mit irgend jemandem Streit gehabt in letzter Zeit?" „Nein."

„Hat sie irgendwelche ungewöhnlichen Telefonanrufe oder Briefe bekommen?"

„Nein."

„Und soviel Sie wissen, ist sie auch von niemandem ausdrücklich bedroht worden?"

„Das kann ich mir nicht denken. Sie war überall sehr beliebt." „Sind Sie und Ihre Frau mit den Nachbarn gut ausgekommen?"

Der Ehemann machten diese Fragen immer ungehaltener. Sekio merkte es und wollte ihn nicht noch weiter bedrängen. Hier bekam er keine neuen Auskünfte, das war klar. Vielleicht hatte der Mann ja auch recht, und die Frau war einfach nur zufällig einem wütenden Wahnsinnigen in die Hände gefallen.

Sekio begab sich zur Wohnung des zweiten Opfers. Das war eine Lehrerin gewesen, die bei ihren Eltern gelebt hatte. Auch diese waren keine Hilfe.

„Sie war allgemein beliebt", sagten auch sie ihm.

„Warum sollte jemand sie ermorden wollen?"

Genau das wollte Sekio herausfinden. „Sie hatte keine Feinde?"

„Nein."

Er beschloß, sich auch in der Schule, wo sie Lehrerin gewesen war, zu erkundigen, und redete mit dem Rektor. „Ich ermittle den Mord an Miß Templeton", sagte er. „Eine schreckliche Geschichte."

„Haben Sie irgendeine Vermutung, daß irgendwer ein Motiv gehabt haben könnte, sie zu ermorden?"

Der Rektor zögerte, sagte aber dann: „Nein."

Sekio blieb dieses kurze Zögern nicht verborgen. „Sie wollten offenbar noch etwas anderes sagen?"

Der Rektor war leicht verlegen. „Das sollte ich vielleicht lieber nicht."

„Alles, was Sie wissen, könnte hilfreich sein." „Nun ja, die Wahrheit ist, Miß Templeton hatte Probleme mit ihrem Freund. Sie wollte Schluß machen mit ihm, aber er ... na ja, er machte Schwierigkeiten."

„Wenn Sie sagen, Schwierigkeiten, was meinen Sie damit genau?"

„Nun, er hat sie geschlagen." „Aha. War er der gewalttätige Typ?" „Das könnte man sagen, ja. Ein unangenehmer Mensch."

„Vielen Dank für Ihre Mühe."

Sekio ging noch einmal zu Miß Templetons Eltern.

„Ich würde gerne etwas von Ihnen über den Freund Ihrer Tochter hören."

„Er hieß Ralph Andrews. Aber er war nicht mehr ihr Freund.

Sie hatte Schluß gemacht mit ihm."

„Aber anscheinend akzeptierte er das nicht?"

„Ja, das stimmt wohl."

„Dann möchte ich Ihnen eine konkrete Frage stellen; Mrs. Templeton. Halten Sie Ralph Andrews für imstande, einen Mord zu begehen?"

Nach einer langen Pause sagte Mrs. Templeton schließlich: „Ja."

Ralph Andrews war Mechaniker. Yamada fand ihn bei der Arbeit in der Werkstatt in der Mount Street. Er war groß und breitschultrig und hatte muskelbepackte Arme. „Mr. Andrews?" „Ja?"

Yamada wies sich aus. „Ich möchte mit Ihnen über den Mord an Miß Templeton reden."

„Sie hat den Tod verdient", sagte Andrews. „Zuerst hat sie versprochen, mich zu heiraten, und mich dann sitzengelassen." „Haben Sie sie deshalb umgebracht?" „Wieso ich?"

„Waren Sie es denn nicht?"

„Natürlich nicht. Es war ein anderer. Vermutlich noch einer, den sie sitzenließ."

„Hatte sie denn andere Freunde?"

„Kann man sich denken! Aber Sie sind der Kriminaler, finden Sie es doch heraus!"

Sekio Yamada gefiel die Art nicht, wie der Mann sich benahm. Seinem Gefühl nach war er durchaus eines Mordes fähig. „Mr. Andrews, wo waren Sie vor fünf Tagen in der Nacht, als Miß Templeton ermordet wurde?"

„Ich habe Karten gespielt", sagte Andrews. „Eigentlich war ich mit ihr verabredet, aber sie kam nicht, und da habe ich dann mit meinen Freunden Karten gespielt." „Zu wie vielen wart ihr denn?" „Sechs, mit mir."

„Wenn Sie mir ihre Namen nennen möchten." „Warum nicht!"

Sekio Yamada schrieb sich alles auf, aber er hatte das Gefühl, daß es pure Zeitverschwendung war. Nie im Leben konnte Andrews gleich fünf Zeugen dazu bringen, für ihn zu lügen. Also mußte eigentlich stimmen, was er aussagte. Er hatte recht damit. Alle fünf erklärten übereinstimmend, daß sie an jenem Abend mit Andrews zusammengewesen waren. Er konnte nichts mit dem Mord zu tun haben. Sekio war wieder ganz am Anfang. Er überprüfte, ob die verschiedenen Opfer einander vielleicht gekannt hatten, aber das war nicht der Fall. Er überprüfte außerdem, ob es etwa sonstige Verbindungen zwischen ihnen gab, wie etwa: derselbe Friseur oder derselbe Arzt. Aber auch das ergab nichts. Er konnte keinerlei Gemeinsamkeiten oder Verbindungen zwischen den Mordopfern entdecken.

Als er ins Büro zurückkam, warteten Reporter auf ihn. „Wir haben gehört, Sie sind mit dem Fall beauftragt worden", sagte einer von ihnen, ein gewisser Billy Cash, der für seine Lästigkeit bekannt war. „Was unternehmen Sie, um den Würger zu fassen?"

„Es arbeiten eine ganze Anzahl Kollegen an diesem Fall", sagte Yamada, „und wir tun das Menschenmögliche." „Sind Sie nicht sehr jung für einen so großen Fall?"

„Was hat das Alter damit zu tun?" sagte er ungehalten.

Er redete nicht gern mit Reportern. Dieser Fall hatte ohnehin schon viel zuviel öffentliche Aufmerksamkeit erregt. Er ging in sein Büro und schickte nach Detective Blake.

„Ab sofort", sagte er zu Blake, als der da war, „übernehmen Sie den Umgang mit der Presse. Ich will mit denen nicht reden."

„Ist gut. Die Burschen können ziemlich aufdringlich sein, das stimmt."

„Das interessiert mich nicht, ich will nur, daß die Frauen in der Stadt nicht noch mehr beunruhigt werden. Es ist schon schlimm genug." Er schlug mit der Faust auf den Schreibtisch. „Ich will diesen Wahnsinnigen fangen." „Für einen Wahnsinnigen ist er allerdings ziemlich intelligent", sagte Detective Blake. „Wir wissen schließlich noch immer nichts von ihm. Nicht, wer er ist, und nicht, warum er mordet." „Wir werden bereits ein Menge über ihn wissen", sagte Yamada, „wenn wir erst herausgefunden haben, warum er nur mordet, wenn es regnet."

Es war für Sekio Yamada schon schwer verständlich, warum irgend jemand überhaupt Menschen tötete, und erst recht, aus welchem Grund jemand völlig unschuldige Frauen umbrachte. Er selbst stammte aus einer glücklichen Familie. Er hatte drei Schwestern und liebevolle Eltern. Sie waren zuerst nach Amerika gegangen, wo Sekio sehr gerne gelebt hatte, bevor sie nach England zogen.

Er hatte damals alles über England gelesen, was er nur finden konnte, um über das neue Land, in das sie kamen, informiert zu sein. Engländer und Amerikaner waren recht verschieden. Bis in das 18. Jahrhundert hatte Amerika England gehört, das damals fast die ganze Welt beherrschte; Australien, Indien und Amerika waren alles englische Kolonien.

Aber in Amerika hatten sich Menschen angesiedelt, die ihre eigene Heimat verlassen hatten, um dort Freiheit zu finden. Die Amerikaner waren sehr selbstbewußt.

König George, der damals in England herrschte, hatte jedoch dafür wenig Verständnis. Er war in Geldnot und beschloß dem abzuhelfen, indem er eine Teesteuer einführte. Wenn die Amerikaner nun Tee aus England bekamen, sollten sie dafür diese Teesteuer bezahlen.

Als sie davon erfuhren, waren sie empört. Als dann ein Schiff mit Tee im Hafen von Boston eintraf, warfen sie die Teeballen, statt dafür die neue Steuer zu bezahlen, wütend ins Meer. Das nannte man später die Bostoner Tea-Party, und es war der Anfang der amerikanischen Revolution, der Unabhängigkeitsbewegung.

König George war außer sich. Er schickte sofort seine Truppen nach Amerika, um diese Aufrührer Mores zu lehren. Aber es kam ganz anders. Die Amerikaner besiegten trotz ihrer ungenügenden Waffen die britischen Rotröcke und erklärten ihre Unabhängigkeit von England. Damit hatte England eine seiner reichsten Kolonien verloren. Und alles wegen einer Teesteuer!

Sekio Yamada hatte diese Geschichte von jeher faszinierend gefunden. Er bemerkte immer stärker, welche großen Unterschiede zwischen Engländern und Amerikanern es gab. Die Amerikaner erschienen ihm offener und freundlicher. Dagegen kamen einem die Engländer mufflig und zurückhaltend vor - bevor man sie genauer kannte. Selbst die Sprache war anders, stellte er fest. Was in Amerika ein elevator war, ein Aufzug, hieß in England lift. Die Motorhaube wurde in England bonnet genannt, in Amerika aber hood. Wenn in Amerika ein Theaterstück bombte, war das ein Durchfall mit Pauken und Trompeten, in England aber ein Riesenerfolg. Die Amerikaner aßen potato chips, Kartoffelchips, aber in England sagten sie dazu crisps. In England war ein Lieferwagen ein van, aber in Amerika ein truck, und ein amerikanischer Apotheker oder Drogist -druggist - hieß in England chemist. Und so gab es noch eine Menge Verschiedenheiten.

Aber so sehr Sekio Amerika gemocht hatte, England mochte er genauso gern. In England gefiel ihm lediglich das Wetter nicht. In Amerika hatten sie schöne warme Sommer erlebt, wo die Sonne den ganzen Juni, Juli und August schien. Aber in England war es die meiste Zeit im Sommer kühl und regnerisch.

Das Wort regnerisch erinnerte ihn wieder an den Würger. Hatte dieser Mann je in seinem Leben Liebe erlebt? War er vielleicht als Kind geschlagen worden? Haßte er seine Mutter? Es muß Frauen gegeben haben, dachte Sekio, die ihm Schreckliches antaten, und deshalb rächt er sich jetzt dafür. Er setzte sich in seinem Stuhl zurück und dachte über den Mörder nach. Niemand hatte sein Gesicht gesehen, es gab keinerlei Beschreibung von ihm. Er hatte seine Opfer einfach angefallen, getötet und war wieder verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt. Nicht die kleinste Spur hinterließ er, nichts. Kein Wunder, daß die Zeitungen Zeter und Mordio schreien, dachte er. Bisher war dieser Mann wirklich sehr raffiniert gewesen.

An der Wand hinter ihm in dem Büro, das ihm zugeteilt worden war, befand sich ein Stadtplan. Mit Stecknadeln waren die Tatorte angezeigt.

„Sehen Sie sich das mal an", sagte er zu Detective Blake. „Fällt Ihnen da etwas auf?"

Blake sah genau hin. „Die Stecknadeln bilden einen Kreis in Whitechapel"

Whitechapel war eine eher verrufene Londoner Gegend mit heruntergekommenen Häusern und schäbigen Wohnungen.

Vielleicht wohnt der Täter in dieser Gegend, und vielleicht kannte er seine Opfer, dachte Sekio Yamada und beschloß einen Ortstermin als Augenschein. Vielleicht ergab sich dort ein Hinweis oder eine Spur.

Er fuhr in einem neutralen Dienstwagen in den Straßen von Whitechapel herum und versuchte, sich mit der Gegend vertraut zu machen. War dies wirklich das Viertel, wo der Würger lebte, oder kam er nur her, um sich hier wahllos seine Opfer zu suchen?

Zusammen mit Detective Blake erkundete er die Straßen samt ihren Lebensmittel- und Möbelgeschäften, Blumenläden und Eisenwarenhandlungen.

„Wonach suchen wir eigentlich?" fragte Blake. Genau dies war natürlich das Problem.. „Nach nichts und allem", sagte Yamada. Vielleicht ergab sich in der näheren Umgebung der Tatorte irgendein Hinweis. Doch nirgends gab es das geringste zu entdecken, was aufschlußreich oder verdächtig gewesen wäre. Der Mörder stand auch nicht auf der Straße und rief: „Hier!"

Wie sollte man einen anonymen, gesichtslosen Mann in einer Millionenstadt finden?

Es braucht einfach ein Quentchen Glück, dachte Sergeant Yamada. Vielleicht wird er unvorsichtig und macht mal einen Fehler.

Tatsache allerdings war, daß sich der Würger bis jetzt noch jeder Fahndungsannäherung entzogen hatte.

Detective Blake sagte: „Vielleicht hat er ja schon genug vom Morden und ist fort, und es gibt keine weiteren Morde von ihm."

Aber gerade da begann es zu regnen. Und der Mörder schickte sich zu einer neuen Tat an.

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