5. KAPITEL

Ein helles Licht schien ihr ins Gesicht, und sie hörte lautes Schreien um sich her und dachte: Jetzt bin ich gestorben, ich bin tot und an irgend einem sehr seltsamen Ort „Sie lebt", hörte sie eine Stimme sagen. Da fand sie den Mut, die Augen aufzumachen. Sie lag auf dem Gehsteig im Regen, und jemand hatte ihr einen Mantel unter den Kopf gelegt. Ein Dutzend Leute standen um sie herum und schienen gleichzeitig zu reden.

Akiko mühte sich zum Sitzen hoch. „Was ist... was ist passiert?" fragte sie. Und dann fiel es ihr auf einmal wieder ein. Sie konnte den Strick spüren, wie er in ihren Hals schnitt, und den bösen Mann, der dazu grinste. Sie hatte zu schreien versucht... und dann war alles um sie her schwarz geworden.

Ein gutaussehender junger Mann half ihr hoch.

„Ist wieder alles in Ordnung mit Ihnen?" erkundigte er sich.

„Ich... weiß nicht", stammelte sie mit zitternder Stimme.

„Ich bin Sekio Yamada von Scotland Yard."

Akiko sah sich angstvoll um. „Wo ist der Mann, der mich umzubringen versucht hat?"

„Der ist, fürchte ich, entkommen", sagte Sekio Yamada. „Sie haben sehr viel Glück gehabt. Zufällig kam gerade ein Taxi vorbei. Als der Fahrer sah, was der Mann im Begriff war, zu tun, hielt er an. Da geriet der Mörder in Panik und rannte davon. Der Taxifahrer rief bei der Polizei an, und hier sind wir."

Akiko holte tief Atem. „Ich dachte, ich sterbe."

Yamada musterte sie genau. Sie war jung und schön. Er fragte sich, ob sie verheiratet sei.

Akiko sah ihn ihrerseits an und dachte: Ein wirklich gutaussehender Mann, und freundlich und fürsorglich scheint er obendrein zu sein. Sie fragte sich, ob er wohl verheiratet sei.

Sekio wollte sie möglichst sofort eingehend befragen, um eine Beschreibung des Mörders zu bekommen. Aber er sah, daß sie völlig außer sich war und beschloß, doch lieber bis morgen zu warten. Dann konnte er ihr immer noch die nötigen Fragen stellen. Er sah sich um, ob irgendwelche Hinweise auf den Mörder da waren, die dieser in der Hast der Flucht hinterlassen habe. Aber da war nichts. Nur die aus der Einkaufstüte herausgefallenen Lebensmittel lagen weit verstreut herum. Er fragte: „Sind das Ihre Sachen?" Akiko zeigte sich von dieser Frage überrascht. „Ja, natürlich."

Sekio war die Tomate wieder eingefallen, die er am Tatort des letzten Verbrechens gefunden hatte, und da kam ihm auf einmal ein Gedanke.

„Wo haben Sie diese Sachen eingekauft?"

Akiko sah ihn ziemlich erstaunt an. „Wo ich sie eingekauft habe?"

„Ja! Diese Lebensmittel alle."

„Na, im Mayfair-Markt. Was hat das mit..."

„Schon gut, nicht so wichtig", log Yamada. Er war sich jetzt bereits sicher, daß er da eine erste Spur hatte. Natürlich: es mußte dem Mörder doch ein Leichtes sein, seine Opfer dort zu finden und sich herauszupicken, indem er ihnen anbot, ihre Einkaufstüten tragen zu helfen, um sie dann zu ermorden. Er war sich ganz sicher, daß er auf dem richtigen Weg war, den Mörder zu stellen.

Er sagte von alledem jedoch kein Wort zu Akiko, aber auch nicht zu Detective Blake oder sonst jemandem. Einer der herumstehenden Männer hatte inzwischen Akikos Einkäufe aufgehoben.

„Wir brauchen Ihre Personalien noch", sagte Sekio Yamada zu Akiko.

„Kanomori. Akiko Kanomori"

Sekio Yamada schrieb es in sein Notizbuch, ebenso wie ihre Adresse. Als er alles hatte, sagte er: „Einer meiner Leute wird Sie nach Hause bringen."

Akiko hatte gehofft, Yamada würde das selbst tun. Sie war etwas enttäuscht.

Aber Sekio Yamada hatte es eilig, zum Mayfair- Markt zu kommen. Er war sich sicher, daß dort der Ausgangspunkt aller Taten des Mörders war. Eine gewisse Erregung hatte ihn befallen.

Er schreckte aus seinen Gedanken auf, als er ein Auto scharf anhalten hörte. Es war voller Reporter.

Schon war Billy Cash mit seiner Kamera bei ihm. „Was ist passiert?" rief er. „Hier soll es wieder einen Mord gegeben haben!"

„Alles ist unter Kontrolle", sagte Yamada. „Fahrt nur weiter." Billy Cash sah Akiko an und bemerkte die Strangulationsmale an ihrem Hals. „Sie sind das angegriffene Opfer gewesen? Es war der Würger, der Sie umbringen wollte, nicht? Sie sind die erste, die ihm entkommen ist."

Und er hob seinen Fotoapparat und machte ein Bild von Akiko. Sergeant Yamada wurde wütend. „Das reicht jetzt! Dieses Foto werden Sie nicht drucken! Sie gefährden das Leben der jungen Frau damit! Ist das klar?"

„Sicher doch", sagte Billy Cash und fragte Akiko ungerührt weiter: „Wie heißen Sie?"

„Das geht Sie gar nichts an", fuhr ihn Sekio Yamada an. „Und jetzt verschwinden Sie."

Er sah Billy Cash und seinen Kollegen ungehalten nach, als sie abzogen. „Tut mir leid", sagte er dann zu Akiko. „Der Mann ist eine öffentliche Gefahr."

Akiko lächelte. „Dann habe ich heute abend schon zwei solcher Gefahren überlebt."

Sekio Yamada wandte sich an seine Leute. „Seien Sie so gut, und bringen Sie Miß Kanomori nach Hause. Sehen Sie zu, daß sie auch wirklich sicher ankommt." „Ja, Sir."

Er wandte sich wieder an Akiko. „Können wir sonst noch etwas für Sie tun?"

„Ich bin noch ein wenig zittrig", sagte Akiko, „aber es geht schon." Ein Schauder überlief sie. „Diesen Supermarkt werde ich bestimmt nicht mehr betreten."

Sekio Yamada jedoch dachte: Aber andere Frauen werden es tun, so wie auch der Mörder wieder, doch dann schnappen wir ihn uns. Er sah Akiko nach, wie sie in das Polizeiauto stieg. Sie beugte sich noch einmal heraus und sagte zu ihm: „Vielen Dank, und gute Nacht."

Sergeant Sekio Yamadas nächster Weg war sein Büro, wo er sich ein Foto von Nancy Collins besorgte, des letzten Opfers des Würgers. Danach fuhr er zum Mayfair-Markt.

Dort ging es ziemlich zu, als er ihn betrat. Der Supermarkt war durchgehend geöffnet, Tag und Nacht. Leute, die tagsüber keine Gelegenheit zum Einkaufen hatten, fanden es praktisch, ihre Besorgungen abends erledigen zu können.

Ein Angestellter kam auf ihn zu. „Kann ich Ihnen helfen?"

„Ich möchte den Geschäftsführer sprechen."

Ein paar Minuten danach saß er ihm gegenüber.

„Was kann ich für Sie tun?" erkundigte sich der Filialleiter.

Yamada zeigte seine Polizeimarke und holte das Foto von Nancy Collins aus der Tasche. „Ich wüßte gerne, ob Ihrem Personal diese Frau hier als Kundin bekannt ist. Vielleicht kaufte sie regelmäßig hier ein?"

Der Manager zuckte nur resigniert mit den Schultern. „Ach, wissen Sie, bei uns kaufen Tausende von Leuten ein, wie soll sich da jemand bestimmte Personen merken." „Es wäre nett, wenn Sie trotzdem einmal herumfragen könnten. Eventuell erkennt sie ja doch jemand."

„Bitte", sagte der Geschäftsführer. „Dann versuchen wir es eben."

Sie gingen durch den riesigen Markt und zeigten den einzelnen Angestellten das Foto. „Nein, nicht daß ich wüßte."

„Ich schaue mir doch nicht die Gesichter der Kunden an, dazu habe ich gar keine Zeit." „Nie gesehen."

„Ist das nicht die Frau, die ermordet wurde?"

„Nein, habe ich nie... Augenblick... Ja, genau, die habe ich neulich bedient."

Scotland Yard. Sekio Yamada saß in einer Besprechung mit Inspector West.

„Dieser Angestellte hat sie als Kundin identifiziert. Im selben Supermarkt, wo auch Akiko Kanomori einkaufte." „Viel beweist das noch nicht", sagte Inspector West. „Ich bin ganz sicher, daß dies die richtige Spur ist", beharrte Yamada aber. „Diese Tomate am Tatort von Nancy Collins Ermordung muß ihr aus der Einkaufstüte gefallen sein. Alle anderen Einkäufe sammelte der Würger ein und nahm sie mit. Kein Zweifel, wenn nicht zufällig das Taxi gekommen wäre, hätten wir Miß Kanomoris Lebensmitteleinkäufe nicht gefunden. Nach meiner Ansicht treibt sich der Würger mit einem Regenschirm am Mayfair-Markt herum, sucht sich eine Frau ohne Schirm aus und bietet ihr seine Begleitung nach Hause an. Und auf dem Weg bringt er sie um. Diese Male, die wir bei allen Opfern gefunden haben, könnten gut von der Spitze eines Regenschirms stammen. Er stößt sie ihnen vermutlich in den Rücken, sie lassen vor Schmerz ihre Einkaufstüten fallen, und inzwischen hat er den Überraschungseffekt ausgenutzt und ihnen seinen Würgestrick um den Hals gezogen. Er tötet sie und verschwindet spurlos."

Inspector West saß eine ganze Weile regungslos da und musterte sein Gegenüber. Ein eifriger junger Mann. „Interessante Theorie", sagte er schließlich. „Und was wollen Sie mit ihr anfangen?"

„Ich hätte gerne", antwortete Sekio Yamada, „ein halbes Dutzend Leute zusätzlich. Keine Sorge, nur an regnerischen Abenden. Sie sollen als getarnte Arbeitskräfte in den Supermarkt eingeschleust werden und dort unauffällig nach Männern mit einem Regenschirm Ausschau halten, die Frauen ihre Hilfe und Begleitung und den Schutz unter ihrem Schirm anbieten."

Der Inspector seufzte. „Eine Offenbarung ist das nicht gerade, aber sehr viel mehr können wir im Moment wohl nicht tun. Also meinetwegen."

„Danke, Sir", sagte Yamada höflich.

„Wann wollen Sie denn anfangen?"

„Noch heute."

Die Polizeibeamten waren über den gesamten Supermarkt verteilt. Sie hatten übliche Arbeitskittel an und versuchten auch sonst wie normale Arbeitskräfte auszusehen. „Paßt auf wie die Habichte", hatte ihnen Yamada eingeschärft. „Wir suchen einen Mann, der so tut, als kaufte er ein. Aber vermutlich kauft er nichts. Das einzig Sichere ist, daß er einen Regenschirm bei sich haben wird. Er wird Ausschau nach Frauen halten, die einkaufen waren und dann ohne Regenschirm dastehen. Auf diese Art macht er sich an seine Opfer heran. Wenn sie hinausgehen, und es regnet, bietet er ihnen seine Begleitung nach Hause an. Behaltet alle den Haupteingang im Auge. Sobald ihr eine solche Szene, wie ich sie euch gerade beschrieben habe, seht, schreiten wir ein. Alles klar? Noch Fragen?"

Sie waren bereits seit Stunden in dem Supermarkt. Es regnete immer noch, aber von einem Mann, wie sie ihn suchten, war weit und breit nichts zu sehen. „Na ja", vermutete Detective Blake, „heute ging ihm etwas schief, da kommt er bestimmt nicht noch einmal."

„Im Gegenteil", sagte Yamada, „eben deswegen kommt er noch einmal. Zum ersten Mal ist ihm heute etwas schiefgegangen. Das hat ihn bestimmt wütend gemacht, und es treibt ihn herum, so daß er ein neues Opfer sucht, das er haben muß. Er hat ja keine Ahnung, daß wir ihm schon auf der Spur sind."

„Hoffentlich haben Sie recht. Ich hätte diese Sache gerne bald hinter mir."

„Meinen Sie, ich nicht?" Und Sekio Yamada dachte kurz an die hübsche Akiko Kanomori. Ich bin froh, daß der Würger sie

nicht umbringen konnte und daß sie jetzt in Sicherheit ist. Wenn sie über den ersten Schock hinweg ist, suche ich sie auf, damit sie mir eine genaue 8eschreibung von dem Mann liefert.

Akiko Kanomori verschloß in ihrer Wohnung sorgfältig alle Fenster und Türen. Noch immer stand sie unter dem Schock des schrecklichen Schicksals,. das ihr beinahe widerfahren wäre.

Der freundliche Beamte hatte sie gefragt, ob er noch etwas für sie tun könne und ob er vielleicht noch eine Weile bei ihr bleiben solle. Aber sie hatte gesagt, nein, es geht schon, nur ein wenig zittrig bin ich noch.

Sie hatte längst keinen Hunger mehr, der war ihr vergangen. Sie hatte jetzt nur noch Angst. Sehr große Angst. Zum Glück, dachte sie, weiß der Würger wenigstens nicht, wo ich wohne und wer ich bin. Keine Chance, daß er mich jemals wiederfindet.

In der Redaktion London Chronicle sprach Reporter Billy Cash mit seinem Redakteur.

„Ich habe ihr Foto", sagte er. „Das können wir morgen in der Frühausgabe auf die Titelseite nehmen."

„Prima. Damit schlagen wir die Konkurrenz um Längen. Unsere Schlagzeile lautet: DAS EINZIGE OPFER, DAS DEM WÜRGER LEBEND ENTKAM! Haben Sie auch ihre Personalien, Name und Adresse?"

„Leider nicht, dieser mufflige Detective war dort und hinderte mich daran. Aber das macht nichts. Es wird nicht lange dauern, bis sich Leser melden, die sie kennen."

Am nächsten Morgen erwachte Akiko Kanomori schlagartig und hatte heftiges Herzklopfen. Sie hatte einen schlimmen Traum gehabt Ein Mann versuchte sie zu ermorden, mit einem langen und brennendheißen Strick. Dann erst wurde ihr wieder klar, daß dies nicht nur ein Traum gewesen war, sondern auch Wirklichkeit. Sie war knapp dem Tod entronnen! Ein Schauder überlief sie. Ich muß darüber hinwegkommen, dachte sie. Ich kann nicht in ständiger Angst weiterleben. Sie werden ihn ja sowieso fangen. Dieser junge Kriminalbeamte machte einen sehr kompetenten Eindruck. Sie stand auf und merkte überrascht, daß sie starken Hunger verspürte. Also macht Todesgefahr offenbar Appetit, dachte sie verwundert. Sie beschloß, das kleine Restaurant an der Ecke aufzusuchen und dort zu frühstücken. Als sie aus dem Haus trat, begegnete ihr wieder Mrs. Goodman. „Guten. Morgen, Akiko", sagte Mrs. Goodman. „Hat es Ihnen gefallen gestern im Tower?"

Akiko sah sie verdutzt an, bis sie sich wieder erinnerte. Aber natürlich. Wie soll sie von dem Würger wissen und davon, daß er versucht hat, mich umzubringen. Das weiß ja niemand. Deswegen bin ich ja in Sicherheit. Er kann mich überhaupt nicht finden.

Sie ging weiter zu ihrem Frühstückslokal. Vor diesem befand sich ein Zeitungskiosk. Und Akiko blieb wie angewurzelt stehen und hielt sich vor Schreck die Hand vor den Mund. Auf der Titelseite eines der Blätter sah ihr das eigene große Foto entgegen, und darunter stand eine dicke Schlagzeile:

UNBEKANNTE TATZEUGIN LEBT!

OPFER ENTKOMMT WÜRGER!

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