7. KAPITEL

Sergeant Sekio Yamada hatte eine weitere Besprechung mit Inspector West.

„Leider scheint Ihre Theorie doch nicht so ganz zu stimmen", sagte West. „Der Würger ist gestern abend nicht in den Mayfair-Markt gekommen, und die Leute der Sondereinsatztruppe haben nur ihre Zeit verschwendet." Doch Yamada gab sich nicht so leicht geschlagen. „Lassen Sie mir etwas Zeit, Inspector. Ich bin ganz sicher, er taucht dort wieder auf."

„Und wer sagt Ihnen, daß er sich seine Opfer nicht auch in. anderen Supermärkten holt?"

„Nun, bisher sind alle Morde in dieser Gegend passiert. Außerdem wissen wir zuverlässig, daß er sich dort jedenfalls an seine beiden letzten Opfer heranmachte. Sie wissen besser als ich, daß sich Serienmörder immer nach einem festen Muster verhalten. Das feste Muster unseres Mannes ist genau dies." Inspector West dachte nach. „Also gut, ich gebe Ihnen noch einmal drei Tage Zeit. Wenn sich dann nichts ergeben hat, ziehe ich Sie von dem Fall ab."

Sekio wollte um keinen Preis, daß man ihm diesen Fall wegnahm. Einer der Gründe dafür war, daß er Akiko Kanomori beschützen wollte. Er dachte inzwischen praktisch pausenlos an sie.

Er hatte durchaus schon einige sehr schöne Frauen gekannt, und auf viele hatte er auch Eindruck gemacht. Einige hätten ihn sofort geheiratet, aber er hatte keine wirklich geliebt. Für ihn stand fest, daß er nur dann heiraten werde, wenn er eine Frau wirklich liebte. Die einzige, zu der er sich wirklich stark hingezogen fühlte, war nun Akiko. Er wollte sie näher kennenlernen.

Deshalb sagte er entschlossen zu Inspector West: „Ich verstehe, Inspector. Ich bin ganz sicher, wir fassen den Würger sehr schnell."

Akiko dachte ebenfalls ständig an Sekio Yamada; nicht nur, weil er ein sehr gutaussehender Mann war - solche Männer hatte sie schon viele gekannt - sondern vor allem, weil er ein sehr feinfühliger Mann zu sein schien. Er war sachlich vernünftig und fürsorglich zugleich und sichtlich intelligent. Genau das waren die Qualitäten, die Akiko bei einem Mann suchte.

Sie wollte nicht nur in ihrem eigenen Interesse, sondern auch Sekio Yamada zuliebe den Kopf des Würgers möglichst rasch zu Ende modellieren. Sie wußte, daß ihm dies sehr helfen würde. So blieb sie in ihrem Atelier und arbeitete pausenlos. So groß die seelische Belastung für sie auch war, die Gesichtszüge ihres Beinahemörders zu formen, zwang sie sich doch dazu, nicht nachzulassen. Sie hatte sein Gesicht in ihrem Gedächtnis genau vor sich.

Sie hatte sich einen großen Klumpen Ton genommen, ihn auf einen Sockel gesetzt und tief Luft geholt, bevor sie mit der Arbeit begann.

Das erste waren Stirn und Nase gewesen, danach setzte sie Mund und Augen, trat zurück und betrachtete sich das Ergebnis kritisch. Nein. Die Augen sind zu groß, und die Nase ist zu klein. Sie ebnete den Ton wieder und begann neu zu modellieren.

Wenn sich der Ton nur nicht so lebendig angefühlt hätte, jedesmal, wenn sie ihn berührte! Es war etwas fast Böses an ihm. Als sei der Geist des Mörders darin und versuche, herauszukommen. Sie wurde das Gefühl nicht los, der Würger werde, sobald sie mit dem Kopf fertig sei, leibhaftig daraus hervorspringen und sie anfallen. Es war ihr klar, wie lächerlich das war. Aber die Vorstellung ließ sich einfach nicht unterdrücken.

Nicht, daß sie abergläubisch gewesen wäre. Aber da war etwas an dem Modellierton, das sich nicht erklären ließ. Noch nie hatte sie so etwas erlebt.

Es klopfte. Sie ging zur Tür, machte aber nicht auf. „Ja? Wer ist da ?" „Mrs. Goodman!"

Sie machte der Nachbarin die Tür auf. Mrs. Goodman sah sie an und sagte: „Gott sei Dank, Sie sind gesund und munter." „Was? Wieso?"

„Ich habe Ihr Bild in der Zeitung gesehen und gelesen, daß Sie nur knapp dem Würger entgangen sind! Oh, Sie Arme! Ich hatte ja keine Ahnung! Es muß schlimm für Sie gewesen sein!" „Das war es, ja", sagte Akiko. „Ich dachte schon, mein letztes Stündlein hat geschlagen!"

„Wie sah er denn aus, dieser Würger?" fragte Mrs. Goodman. Akiko dachte kurz nach. Wie sollte man das Böse dieses Menschen erklären? Wie das Lächeln auf seinem Gesicht, während er sie zu erdrosseln versuchte? Und wie wollte sie ihr eigenes Entsetzen beschreiben? „Er war jung", sagte sie. „War er häßlich?"

Innerlich auf jeden Fall, dachte Akiko. Innerlich war er häßlich, ja.

„Nein. Er sah eigentlich ganz freundlich aus. Wenn. man ihn auf der Straße sehen würde, käme man nie auf den Gedanken, daß er dieser Würger ist. Es war sogar etwas... wie soll ich sagen... Unschuldiges um ihn."

Mrs. Goodman hatte ganz große Augen. „O Gott, O Gott! Und wie haben Sie ihn kennengelernt? Ich meine, wie kam es dazu, daß er Sie angriff?" „Ich war einkaufen. Es fing zu regnen an, und ich hatte keinen Regenschirm mit, er hatte aber einen und bot mir an, mich nach Hause zu begleiten."

Noch während sie es erzählte, überlegte sich Akiko, ob sie nicht vielleicht schon zuviel ausplauderte und ob Sergeant Yamada es gutheißen würde, wenn sie mit irgendwem über die ganze Sache sprach. Aber Mrs. Goodman war schließlich eine vertrauenswürdige alte Bekannte.

„Wir machten uns also auf den Weg", sagte sie und in der Erinnerung daran überlief sie wieder ein Schauder. „Und plötzlich, mitten auf einer dunklen Seitenstraße, stieß er mir die Spitze seines Regenschirms in den Rücken. Ich ließ vor Schreck meine Einkaufstüte fallen, und bevor ich noch begriffen hatte, was geschah, hatte ich schon einen Strick um den Hals."

Mrs. Goodmans Gesicht war voller Mitgefühl. „Und dann? Was geschah dann?"

„An mehr erinnere ich mich nicht",. sagte Akiko. „Ich habe dann wohl das Bewußtsein verloren. Erst hinterher erfuhr ich, daß mir ein nur zufällig vorbeikommendes Taxi das Leben rettete. Der Taxifahrer sah, was da vorging und hielt an. Da rannte der Würger davon."

Mrs. Goodman sah sinnend auf Akiko und sagte dann: „Ich habe eine Idee. Kommen Sie doch zu mir, und bleiben Sie ein paar Tage. Ich habe genug Platz in meiner Wohnung." „Das ist sehr freundlich von Ihnen", sagte Akiko. „Aber es geht nicht. Ich habe zu arbeiten." „Kann das denn nicht warten?"

Akiko dachte daran, wie sehr Sergeant Yamada darauf wartete, daß sie den Kopf des Würgers fertigmodellierte. „Nein, leider nicht", sagte sie.

Mrs. Goodman seufzte. „Lassen Sie es mich aber wissen, falls Sie es sich doch anders überlegen. Ich möchte nur verhindern, daß Ihnen noch einmal etwas zustößt."

Akiko lächelte. Ich auch. „Machen Sie sich keine Sorgen. Mir passiert schon nichts mehr." Sergeant Yamada sorgt schon dafür.

Alan Simpson war zornig. Er kam nicht darüber hinweg, daß ihm ein Opfer entwischt war. Wenn nur dieses Taxi nicht gewesen wäre! Jedenfalls kam nicht in Frage, daß sie am Leben blieb und ihn identifizierte! Irgendwie mußte er sie finden und töten.

Vor hundert Jahren hatte es in London schon einmal einen berüchtigten Frauenmörder gegeben. Man nannte ihn Jack the Ripper. Auch er hatte damals ganz London in Angst und Schrecken versetzt und ein Dutzend Frauen ermordet. Er war niemals gefaßt worden, und aus diesem Grund war er unsterblich geworden. Noch heute redete man von ihm. Auf abwegige Weise sah sich auch Alan Simpson als ein Jack the Ripper, einen legendären Verbrecher, der niemals zu fassen sein würde. Eines fernen Tages würde er als alter Mann sterben, ohne daß jemals jemand wußte, wer er wirklich gewesen war. Und noch hundert Jahre lang würde man danach auch von ihm reden, von dem geheimnisvollen Würger, der zu gerissen für die Polizei war, als daß sie ihn gefangen hätte. Während er so auf der Straße dahinging, spürte er einen Regentropfen. Gott sei Dank war gerade Regenzeit in London! Er mußte ein neues Opfer haben! Damit er diese Wut aus dem Leib kriegte! Er mußte seine Mutter ein weiteres Mal bestrafen! Als wäre es gestern gewesen, sah er diese Szene wieder vor sich, wie er damals im Regen stand und sie beobachtete, wie sie einen Fremden küßte. Der Zorn darüber nahm ihm auch jetzt noch, wie immer, fast den Atem.

Er sah sich um. Er mußte sich einen neuen Supermarkt suchen. Jetzt, da die Polizei vom Mayfair-Markt wußte, konnte er es nicht riskieren, wieder dorthin zu gehen. Dort lauerten sie ihm zweifellos auf. Und alles nur, weil dieses Luder entkommen ist!

Es begann, stärker zu regnen. Er spürte, wie seine innere Erregung wuchs. Einige Häuserblocks von seinem Wohnhaus entfernt gab es noch einen Supermarkt.

Doch dort ein neues Opfer zu suchen war zu riskant: Dort kannte man ihn, weil er da selbst immer einkaufte. Statt dessen ging er noch zehn Häuserblocks weiter in die entgegengesetzte Richtung, bis er zu einem kleineren Selbstbedienungsladen kam. Er betrat ihn und sah sich vorsichtig um, ob auch keine Polizisten auf der Lauer nach ihm lagen. Aber er konnte nichts Verdächtiges entdecken. Ein Angestellter kam zu ihm. „Kann ich Ihnen helfen?" Alan Simpson War schon in Versuchung zu sagen: Gewiß. Wenn Sie mir vielleicht eine geeignete nette Frau aussuchen würden, die ich dann erwürgen könnte? Aber das sagte er natürlich nicht.

Dafür sagte er: „Vielen Dank, ich sehe mich nur ein wenig um. Ich weiß noch nicht, was ich heute zu Abend essen möchte." Es war immer ein anregendes Spiel zu raten, was er dann wirklich zum Abendessen bekommen würde. Das hing davon ab, was sein Opfer in der Einkaufstasche hatte. Einmal Waren es Lammkoteletts, die er sich gut schmecken ließ, ein andermal Fisch, der ihm aber nicht besonders gemundet hatte. Was ihm geschmeckt hatte, war lediglich, daß er die Frau mit dem Fisch umbrachte. War ihr ganz recht geschehen. Jetzt beobachtete er die einkaufenden Kunden. Es waren drei Männer und etwa ein Dutzend Frauen. Eine Frau ging am

Stock. Das wäre zu leicht, dachte er. Eine andere Frau hatte zwei Kinder bei sich. Sein Blick wanderte über sie hinweg weiter. Und dann sah er, was er suchte.

Eine junge Frau, die ein wenig wie seine Mutter aussah! Perfekt! Und sie war ohne Schirm! Sie stand an der Fleischtheke. Hoffentlich kaufte sie etwas, das er gerne aß! Er beobachtete sie, wie sie zum Ausgang ging, und folgte ihr rasch. Sie blieb stehen und sah hinaus in den Regen. Da war er schon neben ihr. „Regnet ziemlich heftig, was?" sagte er und nickte ihr zu.

„Ja, und ich habe keinen Schirm dabei!"

„Ich habe einen", bot er sich an. „Wohnen Sie in der Nähe?"

„Gar nicht weit", sagte die Frau. „Aber ich möchte Sie nicht in Anspruch nehmen!"

„Welche Richtung haben Sie?"

„Dorthin." Sie deutete.

„Na sehen Sie, ich auch", sagte Simpson. „Da können wir zusammen gehen."

„Sehr freundlich."

„Gar keine Ursache!"

Und sie gingen hinaus auf die Straße.

„Kommen Sie", sagte Alan Simpson, „ich trage Ihnen Ihre Tasche!"

„Das ist aber wirklich nicht nötig. Die kann ich schon alleine tragen."

Nie wollen sie sich von ihren eingekauften Sachen trennen. Keine.

„Wohnen Sie auch hier in der Gegend?" fragte die Frau. „Ja", log er.

„Sehr angenehme Gegend, nicht?"

Er nickte. „Ja, unbedingt. Ich wohne sehr gerne hier."

Sie kamen in eine dunkle Seitenstraße, und Simpsons Herz begann schneller zu schlagen. In ein paar Minuten weiß ich, was ich zum Abendessen bekomme. Er hatte Hunger. Morden machte ihn sehr hungrig.

„Da vorne an der Ecke müssen wir abbiegen", sagte die Frau. Sie bogen ab und gingen die Straße entlang, die noch dunkler war als die anderen. Simpson vergewisserte sich, daß niemand in Sicht war. Diesmal sollte ihm kein überraschend auftauchendes Taxi ins Handwerk pfuschen!

Er wartete bis zur Mitte des Blocks, wo es am düstersten war. Dann setzte er dazu an, hinter der Frau zurückzubleiben, um ihr die Schirmspitze in den Rücken zu stoßen, als die Frau sagte: „Schauen Sie mal, es hat aufgehört zu regnen." Er blieb verdutzt stehen und blickte hoch. Es stimmte, der Regen hatte aufgehört. Er stand da und wußte nicht, was er tun sollte. Er sah seine Szene vor sich, wie er im Regen stand und seine Mutter beobachtete, die den Fremden küßte, und wie ihm der Regen ins Gesicht peitschte und ihn bis auf die Haut durchnäßte. Und jetzt war auf einmal kein Regen mehr da. Die Frau starrte ihn an. „Ist was?"

Ich brauche den Regen, dachte Alan Simpson. Ohne Regen kann ich nicht morden. „Ist Ihnen nicht gut?"

Er zwang sich zu einem Lächeln. „Nein, nein, alles in Ordnung."

Er setzte den Schirm ab, und sie gingen weiter. Er war frustriert und wütend. Er hätte die Frau ja allein weitergehen lassen können, doch das wäre aufgefallen und hätte Verdacht erregt. Also begleitete er sie bis zu ihrer Wohnung.

„Das war wirklich sehr freundlich von Ihnen", sagte die Frau.

„Vielen, vielen Dank."

„Keine Ursache", sagte er.

Die Frau erfuhr niemals, wie nahe sie an diesem Abend dem Tod gewesen war.

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