4. KAPITEL

Akiko Kanomori ahnte nicht, daß sie das nächste Opfer des Würgers werden sollte. Sie war vierundzwanzig Jahre alt, sehr schön und Bildhauerin. Man wußte, daß sie eines Tages sehr berühmt werden würde.

Ihre Arbeit wurde von der Kritik gepriesen. Im Moment gab es bereits eine Ausstellung von ihr in einer Kunstgalerie. „Sie sind eine sehr talentierte Künstlerin", sagte der Galeriebesitzer zu ihr. „Eines Tages werden Sie eine bedeutende Bildhauerin sein."

„Oh, vielen Dank", hatte Akiko Kanomori daraufhin errötend gesagt. Ihre Arbeit bedeutete ihr alles. Sie wollte aber auch gerne heiraten und Kinder haben, nur war ihr bisher noch kein Mann begegnet, den sie genug liebte, um ihn heiraten zu wollen. Heiratsanträge hatte sie schon mehrere bekommen, aber alle abgelehnt.

„Worauf wartest du denn?" fragte ihr Vater. „Auf den Richtigen", sagte sie.

Auch ihre Mutter bedrängte sie. „Jetzt hast du schon so viele Anträge bekommen, Akiko. Einen Bankier hättest du heiraten können, einen Arzt, oder -"

„Aber ich habe keinen davon wirklich geliebt, Mutter!" „Ja, weil du nur deine Statuen liebst!"

In gewisser Weise stimmte das sogar. Akiko liebte es, schöne Skulpturen zu schaffen. Für sie war das fast wie die Erschaffung von Leben.

Aber ihr Vater beharrte darauf, daß sie lieber einen Mann aus Fleisch und Blut haben sollte.

Ihre Eltern wurden ihr in dieser Hinsicht so lästig, daß sich Akiko schließlich entschloß, zu Hause auszuziehen und allein zu leben. Sie fand eine kleine Wohnung in Whitechapel.

Für sie war es ideal, weil sie dort außer einem kleinen Wohnzimmer und einem Schlafzimmer auch einen großen zusätzlichen Raum hatte, den sie als Atelier benutzen konnte. Weil ihre Arbeiten auch bereits sehr gefragt waren, hatte sie reichlich zu tun.

„Ich kann alles verkaufen, was Sie machen", sagte ihr Kunsthändler. „Können Sie nicht etwas schneller arbeiten?" Aber da sagte Akiko: „Nein. Wenn ich schneller arbeiten würde, wären meine Statuen nicht mehr so gut. Ich muß das beste liefern, das mir möglich ist."

„Natürlich, Sie haben ja recht", entschuldigte sich der Kunsthändler. „Übrigens wünscht sich einer meiner besten Kunden eine Figur für seinen Garten. Es soll die Liebesgöttin Venus sein. Können Sie das machen?" „Ja. Ich fange gleich damit an."

Akiko hatte an dieser Statue zu arbeiten begonnen, wurde darüber aber ganz ruhelos. War es vielleicht eine Vorahnung? Ein Gefühl, daß ihr etwas Schreckliches zustoßen würde? Wie auch immer, sie sah sich jedenfalls außerstande, zu arbeiten. Mir fällt die Decke auf den Kopf, dachte sie, ich muß raus unter die Leute. Sie sah aus dem Fenster. Am Himmel waren Wolken, aber nach Regen sah es nicht aus. Ich werde ein wenig bummeln, dachte sie. Sie verließ ihre Wohnung. Draußen auf der Straße begegnete sie ihrer Nachbarin Mrs. Goodman.

„Guten Morgen", sagte Mrs. Goodman. „Was treibt Sie denn heraus? Normalerweise arbeiten Sie doch den ganzen Tag in Ihrem Atelier?"

„Ja, ja", sagte Akiko. „Aber irgendwie bin ich so unruhig." „Wohin geht es denn?"

Das war eine ganz gute Frage. Es gab so vieles in London, was man aufsuchen konnte. Als Akiko neu in London angekommen war, hatte sie wochenlang erst einmal die Stadt erkundet und zusammen mit ihren Freunden auch die verschiedenen Restaurants ausprobiert:

„Magst du italienisches Essen?"

„O ja, sehr", sagte Akiko.

„Na gut, dann gehen wir zu Cecconi"

Und das Essen dort war großartig.

„Magst du die indische Küche? Dann gehen wir mal in die Brasserie Bombay."

Dort war das Essen scharf gewürzt, aber köstlich.

Auch bei Le Gavroche hatten sie gegessen und bei Wheeler's.

Aber natürlich gab es in London mehr zu tun, als in Restaurants zu essen. Sie sah den Buckingham-Palast und schaute dem malerischen Wachwechsel der berittenen Garde zu.

Und sie besuchte den Tower von London und die Westminster-Abtei. Das war jedoch längst nicht alles Interessante, was man von London wissen und kennen mußte. „Warst du schon im Britischen Museum?" „Nein."

„Dann zeige ich es dir mal in meiner Mittagspause", sagte eine Freundin.

„Ich freue mich sehr darauf."

Aber als sie dann in dem Museum war, begriff sie rasch, daß es völlig unsinnig war, anzunehmen, man könne es in einer einzigen Mittagsstunde schnell einmal im Durchrennen besichtigen. Man brauchte vielmehr eine ganze Woche dazu, ach was, einen Monat, zwei Monate!

Die wunderbarsten Dinge aus alten Zeiten befanden sich dort, und die ganze Geschichte Londons schien darin versammelt zu sein.

An Kunst war sie natürlich noch interessierter. Deshalb wollte sie auch unbedingt die Tate-Galerie besichtigen und das Victoria-and-Albert-Museum, zu dem die Engländer selbst kurz nur V & A sagten.

Es gab ein riesiges Kaufhaus namens Harrod's, etwas ganz Unglaubliches. Als Akiko später einmal versuchte, es jemandem zu beschreiben, und man sie fragte, wie groß es denn sei, sagte sie nur: „Das zieht sich ewig hin." In diesem großen Kaufhaus konnte man praktisch alles kaufen, was es nur zu kaufen gibt: Kleider und Möbel, Schallplatten und Bücher, Gemüse und Bestattungen, Klaviere und Bonbons. Man kam aus dem Staunen und Entzücken gar nicht mehr heraus.

Auch das England außerhalb der Städte fand Akiko einzigartig. Dort sah sie das grünste Grün ihres Lebens, und eines Tages hörte sie von einem wunderschönen kleinen Kurort namens Bath.

„Warum fahren wir nicht mal einen Tag oder zwei hin?" Also fuhren sie nach Bath und wohnten im Hotel Royal Crescent. Dort hatten sie ein Zimmer mit einer privaten Sauna. Akiko besuchte auch das Schloß Windsor, wo die königliche Familie wohnte. Doch ja, England war ein richtiges Wunderland! An diesem speziellen Tag nun, als sie sich so ruhelos fühlte, hatte sie Lust, noch einmal den Tower von London zu besichtigen, wo die britischen Kronjuwelen aufbewahrt werden und ausgestellt sind. Als Mrs. Goodman, die Nachbarin, also fragte, wohin es gehen sollte, antwortete ihr Akiko: „Ich will den Tower besichtigen." „Richtig, tun Sie das nur! Sie arbeiten sowieso viel zu viel. Ein hübsches Mädchen wie Sie sollte eigentlich einen Freund oder Ehemann haben!"

Mrs. Goodman hörte sich für Akiko wie ihre Eltern an. „Ach, damit eilt es mir nicht, wissen Sie."

Sie nahm den Bus zur City und stieg am Tower, der alten großen Stadtburg, aus. Eine lange Schlange von Touristen wartete dort bereits auf Einlaß, und sie stellte sich hinten an. Ein paar Meter vor ihr stand ein hagerer, attraktiver junger Mann mit einem Regenschirm, doch sie beachtete ihn nicht weiter.

Auch Alan Simpson bemerkte seinerseits die junge hübsche Japanerin dicht hinter ihm nicht. Er war mit seinen Gedanken beim Tower.

Er kam oft hierher, und jedes Mal faszinierte es ihn aufs Neue. An diesem Ort hatten die Könige jahrhundertelang ihre Ehefrauen und Mätressen eingesperrt und nicht selten auch enthaupten lassen. Immer wieder stellte er sich lustvoll vor, wie die Köpfe dieser Frauen abgetrennt wurden und zu Boden fielen und dort noch etwas rollten. Das geschah diesen Huren ganz recht, und die Könige wurden niemals dafür zur Rechenschaft gezogen, dachte er. Weil sie schließlich nur Gerechtigkeit übten, genau wie ich.

Er sah sich um und musterte die wartende Menge, in der er selbst stand. Wenn die wüßten, dachte er, wer ich bin, würden sie alle kreischen und davonrennen. Ich bin mächtiger als sie alle zusammen. Ich bin genauso mächtig wie die Könige von einst.

Als dann die Tore geöffnet wurden und der Touristenstrom sich durch die Tore des Towers drängte, verspürte er eine gewisse Erregung. Ich hätte damals in dieser Zeit leben müssen, dachte er. Da wäre ich selbst König gewesen. Eine Frau streifte ihn im Vorbeigehen und entschuldigte sich. Alan Simpson lächelte freundlich. „Aber keine Ursache!"

Diese Frauen hier waren in keiner Gefahr. Er schlug nur nachts zu, und im Regen, wenn es sicher war. Er freute sich schon jetzt: Heute nacht wieder. Der Wetterbericht ist günstig. Regen ist angesagt.

Akiko war später beim Tee in einem kleinen Lokal in der Nähe des Britischen Museums. Sie liebte den englischen Tee. Zu diesem wurden immer auch kleine belegte Brötchen serviert. Und kleine Gläser mit Marmelade und kleines Gebäck. Das war herrlich. Sie achtete allerdings sehr darauf, nicht zuviel zu essen, weil alle diese guten Dinge dick machten, und sie war sehr stolz auf ihre Figur.

Nach dem Essen fühlte sie sich gleich viel besser. Jetzt sollte ich aber wieder zurück an die Arbeit, dachte sie. Ich muß diese Statue, an der ich arbeite, zu Ende kriegen. In der Galerie, wo sie ausgestellt hatte, sollte außerdem in zwei Wochen eine neue Ausstellung von ihr eröffnet werden, da wollte sie alles, was dafür vorgesehen war, fertigkriegen. Die Rechnung für ihren Tee betrug drei Pfund. London war auch ein sehr teures Pflaster. Sie bezahlte und fuhr mit dem Bus zurück nach Hause.

Sie arbeitete an ihrer neuen Skulptur, bis es dunkel wurde. Die Figur wurde sehr schön, das war schon zu erkennen. Vielleicht werde ich morgen schon damit fertig, dachte sie. Sie legte ihre Werkzeuge weg und wusch sich die Hände, um sie von dem Ton zu reinigen, mit dem sie modellierte. Sie hatte nun den ganzen Abend nichts weiter zu tun. Ich bleibe zu Hause und sehe ein bißchen fern, dachte sie, und mache mir etwas Gutes zu essen. Sie ging in die Küche und machte den Wandschrank auf. Aber darin war nicht viel. Ach, dann hole ich mir eben etwas, beschloß sie. Nur fünf Häuserblocks entfernt war ein Supermarkt. Er hieß Mayfair- Markt.

Der Mayfair-Markt war voller Leute. Akiko nahm sich einen Einkaufswagen, fuhr damit durch die Gänge und versuchte, sich zu entscheiden, was sie zum Essen kaufen sollte. Ein Hühnchen-Sukiyaki wäre vielleicht nicht schlecht, dachte sie. Sie legte sich Nudeln, Gemüse und Sojasoße in den Wagen und begab sich dann zur Fleischtheke. Der Verkäufer dort war sehr freundlich. „Was darf es sein?" „Ein Hühnchen zum Braten, bitte."

„Wir haben sehr schöne da." Er suchte eine Hühnchenbrust aus und zeigte sie ihr.

„Ja, gut, vielen Dank, die nehme ich. Wenn Sie die mir vielleicht gleich zurechtschneiden?" „Aber gewiß doch, Miß."

Dann hatte sie allmählich alles, was sie brauchte, und war dabei, den Supermarkt zu verlassen, als sie am Eingang stirnrunzelnd feststellte, daß es zu regnen begonnen hatte. Warum habe ich keinen Regenmantel mitgenommen, dachte sie. Ich werde jetzt durch und durch naß. Aber hier kann ich nicht ewig stehenbleiben. Na gut, dann eben los. In diesem Augenblick erschien ein freundlich aussehender junger Mann an ihrer Seite, der ebenfalls gerade aus dem Supermarkt kam, und sagte; „Oh, das regnet aber stark, was?" „Ja, ja."

„Haben Sie einen Wagen da?" „Nein", sagte Akiko.

Er sah sie mitfühlend an. „Da haben Sie aber Pech." Er hielt seinen Regenschirm hoch. „Ich habe wenigstens einen Regenschirm. Wohnen Sie hier in der Nähe?" „Ein paar Häuserblocks von hier", sagte Akiko und deutete in die Richtung.

„Na, ist doch prima, das ist auch meine Richtung. Kommen Sie doch mit unter meinen Schirm." „Sehr freundlich von Ihnen."

„Aber das ist doch selbstverständlich", sagte der junge Mann lächelnd.

Sie traten hinaus in den Regen. Akiko war froh, daß sie unter dem Schutz des Regenschirmes des unbekannten freundlichen Helfers war.

„Kommen Sie", sagte dieser nun auch noch, „ich helfe Ihnen Ihre Sachen tragen."

„Ach nein, das ist nicht nötig, vielen Dank. Das schaffe ich schon allein."

Als sie durch den strömenden Regen weitergingen, sagte er: „Was das Londoner Wetter angeht, wissen Sie: wenn man es nicht mag, braucht man auch nicht lange zu warten, und es ändert sich gleich wieder."

„Da haben Sie recht", sagte Akiko lächelnd. Sie merkte überhaupt nicht, wie der Unbekannte sie ständig von der Seite unauffällig musterte und dabei dachte: Du stirbst heute abend noch.

Statt dessen dachte sie: Ein wirklich netter junger Mann. Vielleicht sollte ich ihn, wenn wir bei mir angekommen sind, noch zu einer Tasse Kaffee einladen. So hilfsbereit, wie er ist, das ist ja wirklich nicht selbstverständlich. Am Ende des nächsten Häuserblocks überquerten sie die Straße, und dann waren sie genau an derselben Stelle, wo Alan Simpson auch sein letztes Opfer ermordet hatte. Er lächelte innerlich zufrieden. Wie diese hier erst schreien würde, wenn sie sich plötzlich bewußt wurde, was geschah! Warte nur, dauert keine Minute mehr!

Vor ihnen lag die dunkle Straße, in der die Straßenlaternen von mutwilligen Jugendlichen kaputtgeworfen waren. Genau dort sollte es nun wieder geschehen.

Noch etwas weiter, und Alan Simpson blieb kurz hinter Akiko zurück, die gleich danach einen plötzlichen scharfen Schmerz im Rücken verspürte. Ihre Einkaufstüte fiel zu Boden.

„Was ist denn ...?"

Da zog Alan Simpson bereits seinen Würgestrick aus der Tasche.

„Was machen Sie denn da ...?"

Aber ehe sie noch mehr sagen konnte, spürte sie schon die Schnur um ihre Kehle. Der Mann stand über ihr und grinste, während er die Schlinge weiter zuzog. Akiko versuchte, um Hilfe zu schreien, konnte sich aber nicht mehr bewegen. Der Strick zog sich immer enger um ihren Hals, und sie verlor das Bewußtsein. Ich sterbe, dachte sie. Ich sterbe...

Загрузка...