Er wartete vor dem Wohnhaus und hielt sich im Schatten, wo er nicht zu sehen war. Irgendwo in diesem Haus war die Frau, die er töten wollte. Er hatte keine Ahnung, warum die Polizei bisher noch keine Beschreibung von ihm hatte. Ich warte bis zum Abend, dachte er, und dann nehme ich sie mir vor und erledige das.
Inspector West ließ erneut Sekio Yamada rufen. „Sie sagten doch, Ihre Zeugin ist Bildhauerin und modelliert den Kopf des Würgers?" „Ja, Sir."
„Na, und wo ist er? Wieso haben wir ihn noch nicht?" Yamada zögerte etwas. „Sie arbeitet daran, Inspector."
„Aber wir brauchen ihn jetzt", sagte Inspector West. „Jeder Polizist in London muß ein Foto von ihm bekommen. Wir können es uns nicht leisten, zu warten, bis er wieder mordet!"
„Das verstehe ich vollkommen, Sir. Nur -"
„Sie sagen ihr, ich will diesen Kopf noch heute haben. Verstanden?"
„Ja, Sir."
„Meinen Sie, es macht mir Spaß, wenn selbst die Königin dauernd anruft und wissen will, wie es steht?"
„Nein, Sir." Sekio Yamada ging in sein Büro zurück, wo ihn Detective Blake erwartete.
„Was wollte der Alte denn?"
„Daß der Kopf des Würgers noch heute fertig modelliert ist und die Fahndung damit sofort anlaufen kann." „Wieso braucht sie tatsächlich so lange?" fragte Detective Blake.
„Ich weiß es auch nicht", seufzte Yamada. „Ich rufe sie mal an."
Akiko nahm schon nach dem ersten Klingeln ab. Irgendwie wußte sie, wer das nur sein konnte.
„Miß Kanomori? Hallo. Sergeant Yamada hier."
„Ja, ich weiß." Ihre Stimme war sehr warm.
„Ich will Sie ja nicht drängen", sagte Sekio Yamada, „aber besteht vielleicht die Möglichkeit, daß Sie den Kopf noch bis heute abend fertigbekommen? Inspector West ist schon sehr ungeduldig. Er will die Fahndungsfotos schnellstmöglich hinausgehen können."
Akiko hörte ihm zu, und der Mut sank ihr. Normalerweise wäre es ihr gar kein Problem gewesen, den Kopf bis zum Abend fertig zu haben. Aber dieses geheimnisvolle Böse, das in ihrem Modellierton selbst zu stecken schien, machte ihr einfach angst. Sie wollte Yamada davon nichts sagen. Es kam ihr selbst ein wenig albern vor.
„Ja", sagte sie statt dessen. „Bis heute abend bin ich fertig." „Sehr schön", sagte er, und sie hörte, wie sehr ihn diese Zusage erleichterte.
„Ich kann vorbeikommen und ihn abholen." Dann stockte er und wagte es fast nicht, weiterzusprechen, sagte es aber dann nach tiefem Atemholen doch: „Und zur Feier des Tages könnten wir vielleicht dann zusammen essen gehen...?" Akikos Herz machte einen kleinen Satz. „Das wäre sehr nett", sagte sie und versuchte, nicht zu zeigen, wie sehr sie sich tatsächlich darüber freute.
„Also abgemacht. Um wieviel Uhr denken Sie, sind Sie fertig?"
Akiko blickte auf den Tonklumpen vor ihr. „Sieben Uhr, denke ich."
„Schön, dann hole ich Sie also ab. Wiedersehen." „Auf Wiedersehen."
Sie legte den Hörer auf, und ihr Herz tanzte. Eine Einladung zum Essen mit dem hübschen Sergeant! Sie wandte sich ihrem Tonklumpen zu und wurde gleich wieder ernst.
Sie hatte versprochen, den Kopf fertig zu modellieren. Also mußte sie es nun auch, tun. Sie holte tief Luft und ging hin. Ist doch nur ein Klumpen Lehm, sagte sie sich.
An dem ist doch nichts Böses. Und doch hatte sie fast Angst, ihn anzufassen.
Langsam begann sie zu arbeiten; formte den Ton zu einem Gesicht und machte sich an das Modellieren der Einzelheiten. Die Augen, an die sie sich so intensiv erinnerte. Die Nase. Die Lippen. Je mehr der Kopf seine Gestalt annahm; desto mehr schien ihr das Böse in dem Ton den ganzen Raum zu beherrschen und sie zu erdrücken.
Sie war halb fertig, als sie es einfach nicht mehr aushielt. Sie rannte aus dem Raum und hinüber zu Mrs. Goodman. Ihr Herz klopfte wild, und sie glaubte jeden Augenblick, ohnmächtig zu werden. Aber wie sollte sie erklären, daß sie vor einem Klumpen Modellierton davongelaufen war? Mrs. Goodman öffnete ihre Tür. „Hallo, meine Liebe. Ich wollte gerade Kaffee trinken. Da können Sie mir gleich Gesellschaft leisten."
„O danke, gern." Sie setzte sich in Mrs. Goodmans geräumiger Küche nieder. Ihr Herzklopfen war noch immer heftig. Was ist nur los mit mir? fragte sie sich. Nichts dergleichen war ihr jemals zuvor passiert.
Mrs. Goodman brachte den Kaffee. Er schmeckte sehr gut. Akiko wäre am liebsten den ganzen Tag geblieben. Aber ich muß zurück ins Atelier und diesen Kopf fertigmachen, sosehr sich alles in mir dagegen sträubt. Ich habe es versprochen. „Möchten Sie nicht vielleicht doch lieber ein paar Tage hier bei mir bleiben?" fragte Mrs. Goodman.
Akiko lächelte dankbar. Mrs. Goodman war so lieb. „Vielen Dank, aber es geht nicht. Ich kann wirklich nicht."
Sie blieben noch eine Stunde lang zusammen sitzen und plauderten, bis Akiko schließlich, einigermaßen beruhigt, sagte: „Nun muß ich wirklich zurück in mein Atelier. Ich muß unbedingt eine bestimmte Arbeit fertigstellen."
„Wenn ich irgend etwas für Sie tun kann, meine Liebe, brauchen Sie es nur zu sagen."
„Vielen Dank, das tue ich gerne."
Und sie begab sich zurück in ihr Atelier und zu ihrer Arbeit.
Alan Simpson war beim Einkaufen in einem Kaufhaus. Ein Verkäufer kam zu ihm. „Sie wünschen, bitte?" „Ich brauche Schnur." Er hatte seinen Würgestrick irgendwo verloren und ihn nicht wiedergefunden. Das war ein schlechtes Omen. Er war stark abergläubisch.
„Was für eine Art Schnur soll es sein? Ich meine, für welchen Zweck benötigen Sie sie?"
Na, um Frauen zu erdrosseln, Schafskopf, dachte Alan Simpson, sagte aber: „Ach, zum Zusammenbinden. Es sollte eine gute, feste Schnur sein." Nämlich, die sich gut um ihren
Hals werfen und zuziehen läßt.
„Bitte sehr, wenn Sie dort hinüber mitkommen möchten."
Er führte ihn in die Abteilung, wo es alle Sorten von Schnüren, Stricken und Seilen gab. Da gab es Faden und Zwirn, Schnüre, Seile und schwere Taue. Alan Simpson suchte sich eine kräftige, feste Schnur aus und zog an ihr.
„Die ist richtig", sagte er.
„Bitte sehr, Sir. Das macht dann vier Pfund."
Detective Blake sagte: „Wenn Sie nichts vorhaben heute abend, meine Freundin hat eine Freundin, da könnten wir zu viert essen gehen." „Kann leider nicht", sagte Yamada. Denn nichts auf der Welt sollte ihn davon abhalten, heute abend mit Akiko Kanomori essen zu gehen. Den ganzen Tag freute er sich schon darauf. Und sie hatte auch sehr erfreut geklungen, als er mit ihr telefonierte.
War das nur Einbildung? überlegte er. Oder freute sie sich tatsächlich, von mir zu hören?
Aber er sollte vorsichtig sein und nichts überstürzen, fand er. Ich will nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen. Verliebt in sie bin ich schon. Aber wenn ich ihr das sofort sage, kriegt sie vermutlich einen Schrecken und nimmt Reißaus. Nein, nein, das muß ich ganz behutsam angehen.
Also sagte er zu seinem Kollegen Blake: „Vielen Dank, aber heute abend habe ich keine Zeit."
„Sie werden es bereuen. Dieses Mädchen wäre es wert, was ich so höre."
Aber Sekio Yamada war nicht daran interessiert, eine andere Frau kennenzulernen. Jetzt nicht mehr. Die Frau, die er sich immer gewünscht hatte, hatte er bereits gefunden. Die Frage ist lediglich, dachte er, ob sie mich auch will?
Akiko arbeitete in ihrem Atelier an dem Kopf des Unbekannten. Sie hatte die Stirn fertig und die Nase und die Augen und war inzwischen beim Mund.
Sie war so vertieft in ihre Arbeit, daß sie aufschreckte, als das Telefon klingelte. Es riß sie richtig. Das Telefon klingelte noch einmal. Sie ging hin und nahm ab.
„Ja, hallo?"
Stille.
„Hallo?"
Aber niemand antwortete.
Akiko wunderte sich. Es war zweifellos jemand in der Leitung. „Wer ist denn da?" fragte sie nach.
Schweigen.
Langsam legte sie wieder auf. Ihre ganze Arbeitskonzentration war weg. Dieser stumme Anruf hatte sie nervös gemacht. Sie versuchte, an dem Mund des Kopfes weiterzuarbeiten, aber die Hände begannen ihr zu zittern. „Schluß damit!" befahl sie sich selbst, doch es wirkte nicht. Im Gegenteil, sie begann nun sogar am ganzen Leib zu zittern.
Auf der anderen Straßenseite stand AIan Simpson in einer Telefonzelle und blickte lächelnd hinauf zu dem. erleuchteten Fenster. Sie hatte so verschreckt geklungen. Es regnete im Augenblick zwar nicht, aber der Wetterbericht hatte noch für den Abend Regen angesagt. Das war die Zeit für ihn. Um sieben Uhr abends fuhr Sekio Yamada zu dem Wohnhaus Akikos. Er hatte einen neuen grauen Anzug an. Er hatte überlegt, ob er Blumen mitbringen sollte, aber er wollte nichts überstürzen. Das jetzt sollte mehr wie ein amtlicher Besuch aussehen. Er parkte, ging in das Haus und läutete an ihrer Wohnungstür.
Als Akiko die Klingel hörte, geriet sie in Panik. Sie sah auf die Uhr. Es war sieben Uhr, und das mußte Sekio Yamada sein! Sie wußte nicht, was sie machen sollte. Sie war nicht imstande gewesen, weiter an dem Kopf zu arbeiten:. Sie war zu angespannt.
Der Kopf war an sich ja fertig, bis auf den Mund. Ich weiß, was ich mache, dachte sie. Wir gehen zuerst essen, und wenn wir zurückkommen, bitte ich ihn, mit hereinzukommen und dazubleiben, während ich letzte Hand an den Kopf lege. Dann muß ich dabei keine Angst haben.
Sie ging vom Atelier durch das Wohnzimmer zur Tür und öffnete. Sie lächelte Sekio Yamada entgegen. Er war so ein gutaussehender Bursche! „Guten Abend."
„Guten Abend", sagte Yamada. „Kann ich mir jetzt den Kopf ansehen?"
Akiko legte ihm die Hand auf den Arm. „Wollen wir nicht lieber zuerst essen gehen? Die letzten Handgriffe muß ich an dem Kopf noch machen. Das kann ich hinterher tun, und dann können Sie ihn gleich mitnehmen." Eigentlich schämte sie sich, zugeben zu müssen, daß sie immer noch nicht fertig war, weil sie Angst hatte. Aber wenn er bei ihr war, hatte sie keine Angst mehr.
„Ist mir recht", sagte Sekio Yamada. „Dann gehen wir eben jetzt zuerst essen und kehren danach wieder hierher zurück. Auf eine oder zwei Stunden kommt es nicht mehr an." Bis Mitternacht, dachte er, hatte Inspector West den Kopf des Würgers auf jeden Fall, und er konnte selbst noch veranlassen, daß die Fotos davon gemacht und überall in ganz London. verteilt wurden. Damit hatte der Würger dann keine Chance mehr, sich zu verbergen.
„Ich hole nur noch meine Handtasche", sagte Akiko. Ein paar Minuten später waren sie auf der Fahrt zu einem Restaurant. „Ich hoffe, das Lokal gefällt Ihnen", sagte Sekio Yamada. „Es soll eines der besten in London sein. Es heißt Harry's Bar." Harry's Bar war nur für Mitglieder. Aber Sekios Vater war Mitglied, und er als Sohn war dort bekannt und deshalb stets willkommen.
Sie fuhren den Rest des Weges schweigend. Akiko dachte an den Kopf, den sie vollenden mußte, und Sekio an die schöne Frau an seiner Seite.
Als .sie angekommen waren, bekamen sie einen Tisch ganz hinten.
„Die Speisekarte liest sich herrlich", sagte Akiko. Tatsache war allerdings, daß sie überhaupt keinen Appetit hatte. Sie .war zu nervös wegen des Würgers und außerdem zu aufgeregt darüber, mit Sekio zusammenzusein.
„Bestellen Sie doch einfach für mich mit", sagte sie. „Gerne."
Er bestellte einen Krabbencocktail als Vorspeise für sie beide und dann Kalbsschnitzel mit Teigwaren und dazu einen guten Wein. Als das erledigt war, begannen sie sich zu unterhalten. „Erzählen Sie mir etwas über Ihr Leben", sagte Sekio. Sie lächelte. „Nun ja, ich stamme aus Kyoto und war dort auch auf der Universität. Weil mein Vater Geschäfte in London hatte, zogen wir hierher. Aber ich habe mein Elternhaus dann verlassen, weil sie mich unaufhörlich drängten, daß ich heiraten sollte." „Und das wollen Sie nicht ?"
„Aber ja doch!" Sie wurde rot und dachte: Mein Gott, was rede ich denn da? „Ich warte nur auf den Richtigen." Und während sie dies sagte, sah sie ihm tief in die Augen. Er lächelte ebenfalls. Er wußte daß er dieser Richtige für sie war.
Sie beendeten ihr Essen und sprachen über Hunderte anderer Dinge. Sie hatten beide das Gefühl, als würden sie sich schon ewig kennen. Es war ein sehr schönes Essen. Sekio bestellte noch Kuchen zum Dessert, obwohl Akiko abwinkte: „Nicht für mich, ich muß auf meine Linie achten." „Ich achte für Sie darauf", scherzte er. Sie lachten zusammen. Schließlich war es Zeit, aufzubrechen. Jetzt hilft nichts mehr, dachte Akiko, ich muß wieder an diesen abscheulichen Kopf ran. Aber wenn Sekio bei mir ist, habe ich sicher keine Angst mehr davor.
Sie stiegen in das Auto und fuhren zurück zu Akikos Wohnung.
Eine gute Stunde zuvor hatte Alan Simpson vor ihrem Haus beobachtet, wie Akiko und Sekio herauskamen und wegfuhren. Er erinnerte sich daran, daß er diesen Mann im Mayfair-Markt gesehen hatte. Aha, dachte er, ein Polizist also. Von mir aus. Kriegen tut der mich nie.
Er wartete, bis das Auto weg war und ging dann in das Haus hinein. Die Tür zur Eingangshalle war verschlossen. Er holte ein Messer aus der Tasche und öffnete das Schloß damit. Akikos Wohnung war 3B.
Er ging die Treppe hinauf bis zu ihrem Stockwerk. Er sah sich sorgfältig um, ob auch niemand zu sehen war. Dann öffnete er auch Akikos Wohnungstür mit seinem Messer und schlüpfte hinein.
Es war offensichtlich, daß niemand in der Wohnung war. Also hier wohnt sie, das Luder! Er ging durch das Wohnzimmer und blickte in das Schlafzimmer. Er sah auf ihr Bett und dachte: Darin wird sie nie mehr schlafen.
Er kam in das Atelier und sah sich unerwartet seinem eigenen Ebenbild gegenüber. Er starrte ungläubig darauf. Also dabei war sie! Sie hatte seinen Kopf modelliert, um ihn der Polizei zu geben!
Er sah jedoch, daß der Kopf noch nicht ganz fertig war. Wo der Mund sein sollte, war noch ein gähnendes Loch. Er ging hin und schlug mit einem Fausthieb zu. Der schon angehärtete Ton zersprang, und die Trümmer fielen auf den Boden. Und genau das passiert ihr selbst auch, dachte er. Er holte seinen Strick aus der Tasche. Nun mußte er nur noch auf ihre Rückkehr warten.