11. KAPITEL

Sekio Yamada konnte in dieser Nacht nicht schlafen. Akikos Verhalten hatte ihn sehr befremdet. Den ganzen Abend war sie so warmherzig und freundlich gewesen. Und dann war alles plötzlich ganz verändert als er wieder zu ihrer Wohnung zurückkam.

Statt ihn hineinzubitten, hatte sie ihn weggeschickt. Und dabei hatte sie doch zuvor versprochen, den Kopf des Würgers fertigzustellen, dann aber vorgeschützt; müde zu sein, und ihn noch einmal vertröstet.

Er versuchte, sich ihr merkwürdiges Verhalten noch einmal zu vergegenwärtigen. Er konnte sich nicht erinnern, daß sie müde gewesen wäre. Im Gegenteil, sie war sehr lebhaft und vergnügt gewesen. Äußerst seltsam.

Aber was noch schlimmer war: er hatte nun massive Probleme mit Inspector West.

„Sie haben mir den modellierten Kopf des Würgers fest für gestern abend versprochen. Nun, wo ist er?" Yamada schluckte schwer. Er wollte Akiko nicht in Schwierigkeiten bringen. „Das tut mir leid, Sir", sagte er. „Es hat eine kleine Verzögerung gegeben. Aber heute vormittag werde ich ihn bestimmt bekommen."

„Das will ich doch sehr hoffen", sagte Inspector West. „Denken Sie daran, was ich gesagt habe. Wenn dieser Fall nicht bis übermorgen gelöst ist, werden Sie davon entbunden." „Ich bin sicher, daß er bis dahin gelöst ist." Wenn ihm Akiko nur erst den Kopf geliefert hatte, konnte er ihn fotografieren und die Bilder verteilen lassen. Es mußte irgend jemanden geben, der den Würger kannte.

Er ging zurück in sein Büro. Es war zehn Uhr geworden. Bestimmt war Akiko inzwischen fertig. Er rief sie an. Aber niemand meldete sich. Wahrscheinlich ist sie gerade nur schnell ein paar Minuten weg, dachte er. Eine halbe Stunde danach versuchte er es noch einmal, und dann wieder um elf. Keine Antwort. Wieso war sie nicht zu Hause und arbeitete an dem Kopf des Würgers? Und falls sie inzwischen längst damit fertig war, warum rief sie ihn dann nicht an, um es ihm zu sagen? Das Gefühl, daß etwas nicht stimmte, wurde immer stärker. Ich fahre doch lieber mal hin. Er nahm Detective Blake mit.

Akiko war in heller Panik. Sie wußte, daß sie sterben mußte, aber sie wollte doch leben, mehr als alles andere! Als Sekio am Abend zuvor gegangen war, hatte der Würger noch gewartet, bis kein Zweifel mehr bestand, daß der Detective wirklich fort war, ehe er Akiko dann mit vorgehaltenem Messer zwang, mit ihm zu kommen und in sein Auto einzusteigen. Sie hatte sich auf den Boden des Wagens legen müssen, damit sie nicht gesehen werden konnte. Als sie an seiner Wohnung in Whitechapel ankamen, war es schon spät in der Nacht, und alles war finster. Er ließ sie aussteigen und führte sie vor sich her nach oben in seine winzige Bleibe.

Die Wohnung war vollgepfropft mit Zeitungen, die Artikel über die Taten und Opfer des Würgers enthielten. Der Mann ist wahnsinnig, dachte Akiko. Ich muß ihm entkommen. Doch dazu ließ er ihr nicht die kleinste Gelegenheit. Er stellte einen Stuhl in den Wandschrank und zwang Akiko dorthinein. „Setzen Sie sich hin", befahl er. „Bitte, ich ... "

Er versetzte ihr einen heftigen Schlag ins Gesicht. „Du sollst dich hinsetzen, habe ich gesagt." Er hatte nach wie vor sein Messer in der Hand.

Akiko setzte sich auf den Stuhl, an dem er sie so festband, daß die Schnur schmerzhaft in ihre Handgelenke schnitt.

„Das tut weh", sagte sie.

Er ohrfeigte sie noch einmal. „Ich habe doch gesagt, Sie sollen den Mund halten!"

Als er sicher war, daß sie sich nicht befreien konnte, schloß er die Wandschranktür und ließ sie darin im Dunkeln. Dann machte er das Radio an, um den Wetterbericht zu hören. Und endlich kam auch, worauf er wartete: „... sehr große Wahrscheinlichkeit, daß es heute nacht noch schauerartige Regenfälle gibt. Und nun noch weitere Nachrichten... " Er schaltete aus. Er wollte dies hier schnellstmöglich hinter sich bringen. Eine gefangene Frau in seiner Wohnung zu haben war gefährlich. Noch heute nacht wollte er sie töten. Er würde sie hinaus in den Regen führen, in eine dunkle Straße, und sie dort erwürgen. Er versuchte sich vorzustellen, wie diesem Polizisten zumute sein würde, wenn er Akiko tot daliegen sah.

Sekio Yamada klopfte bei Akiko an, aber nichts rührte sich. Es war inzwischen zwölf Uhr mittags.

„Wahrscheinlich ist sie gerade zum Essen weggegangen", vermutete Detective Blake.

„Das glaube ich weniger", meinte Yamada. „Sie weiß genau; wie dringend ich diesen Kopf benötige. Wäre sie damit fertig, hätte sie mich angerufen. Und wenn sie noch nicht fertig damit ist, dann würde sie auch nicht einfach zum Essen gehen." Die Sache kam ihm immer seltsamer vor. „Sehen wir mal nach, ob die Nachbarn etwas wissen, ob sie fort ist." Sie gingen nach unten, und Yamada klopfte bei Mrs. Goodman an. „Entschuldigen Sie die Störung. Ich bin Sergeant Yamada. Ich suche Miß Kanomori."

„Ich habe sie heute noch nicht gesehen", sagte Mrs. Goodman. „Meistens kommt sie bei mir auf eine Tasse Kaffee vorbei. Aber soviel ich weiß, ist sie mit einer Arbeit sehr beschäftigt." „Haben Sie sie fortgehen hören?"

„Nein, aber das will nichts heißen", meinte Mrs. Goodman, doch dann fiel ihr etwas ein. „Ich weiß, wo sie sein könnte."

„Wo?"

„Sie stellt in einer Galerie hier in der Nähe aus. Da könnte sie sein." Und sie gab den beiden Polizeibeamten die Adresse der Galerie.

„Haben Sie vielen Dank.. Das ist sehr hilfreich." Nach fünf Minuten waren sie in der Galerie. Sekio Yamada besah sich Akikos Foto auf dem Plakat im Schaufenster und war entsetzt. Wenn der Mörder dieses Plakat gesehen hat, dachte er, dann weiß er, wer sie ist!

Mr. Yohiro begrüßte sie an der Tür. „Bitte sehr, meine Herren, kann ich behilflich sein?"

„Ich bin ein Freund von Miß Kanomori", sagte Yamada. „Ist sie vielleicht zufällig hier?"

Mr. Yohiro verneinte kopfschüttelnd. „Nein. Gestern war sie hier. Wir haben zusammen gegessen und über ihre nächste Ausstellung hier bei mir gesprochen. Das wird ein großer Erfolg werden." .

„Aber heute haben Sie sie noch nicht gesehen?" „Nein."

„Wie lange haben Sie dieses Plakat mit ihrem Foto schon in ihrer Auslage hängen?" „Erst seit gestern."

Sekio Yamada sank der Mut. Da konnte es der Würger schon gesehen haben.

„Sagen Sie, Mr. Yohiro", fragte er, „war vielleicht irgend jemand hier, der Sie wegen dieses Plakats angesprochen hat?" „Nein." Dann dachte er kurz nach. „Doch! Ja, doch, es war jemand da." ' „Wer ?"

„Ein Reporter: Er wollte ein Interview mit Akiko machen und fragte nach ihrer Adresse." „Und Sie haben sie ihm gegeben?"

„Ja. Er sah anständig aus, und die Publicity wird der Ausstellung nur nützen."

Yamada und Blake wechselten einen schnellen Blick. „Hat sich dieser Reporter", fragte Sekio Yamada, „irgendwie ausgewiesen?"

„Nein, natürlich nicht. Wozu sollte er?"

Yamada sagte nur ein Wort zu seinem Kollegen Blake: „Los!"

Akiko saß immer noch an den Stuhl gefesselt im Dunkeln im Wandschrank. Sie versuchte zwar verzweifelt, sich ihrer Fesseln zu entledigen, aber je mehr sie sich mühte, desto mehr schnitten sie sich in sie ein. Ihre Handgelenke bluteten bereits von den vergeblichen Befreiungsversuchen.

Dann ging die Wandschranktür plötzlich auf. Alan Simpson eröffnete ihr: „Ich muß eine Weile weg. Ich muß sicherstellen, daß Sie in der Zeit keinen Lärm machen." Er hatte ein großes Taschentuch in der Hand. Das schob er Akiko in den Mund und band es fest, so daß sie, geknebelt, keinen Laut mehr von sich geben konnte. „Das hält Sie ruhig", sagte er.

Akiko versuchte noch etwas zu sagen und ihn anzuflehen, aber es war ihr unmöglich, noch ein Wort zu äußern.

Er grinste zufrieden. „Ich bin bald wieder da."

Die Tür ging wieder zu, und Akiko saß erneut in stockfinsterem Dunkel. Von diesem Irrsinnigen lasse ich mich nicht umbringen, dachte sie verbissen. Sekio, wo bist du? Hol mich hier heraus!

Aber es war ihr trotzdem klar,. daß es keine Rettung mehr geben konnte. Sekio wußte doch nicht einmal, daß sie verschwunden war! Und wenn er es schließlich herausfand, hatte er immer noch längst keine Ahnung, wohin man sie verschleppt hatte!

Wenn ich weiterleben will, dachte sie schließlich, muß ich mir schon selbst helfen. Nur, wie? Sie war mit Händen und Füßen an den Stuhl gefesselt, auf dem sie saß, und die Wandschranktür war außerdem zugesperrt. Ich kann aber nicht einfach tatenlos hier sitzenbleiben, sagte sie sich. Ich muß etwas unternehmen.

Sie begann hin- und herzurutschen, so daß der Stuhl sich bewegte. Die enggebundene Schnur ihrer Fesseln verursachte ihr starke Schmerzen, aber sie achtete nicht darauf. Sie wollte einfach nur aus ihrem Gefängnis heraus. Der Stuhl schaukelte immer stärker, bis er schließlich gegen die verschlossene Schranktür umkippte und diese aufsprengte. Sie lag auf dem Boden, an den Stuhl gefesselt, und atmete keuchend.

Sie sah sich im Raum um. Es war niemand da. Der Würger war fort. Nun war sie zwar aus dem Wandschrank gekommen, aber entscheidend änderte dies ihre Lage noch lange nicht.

Sie mußte einen Weg finden, wie sie sich ganz befreien konnte.

An der anderen Seite des Zimmers stand ein Glastisch. Sie schob sich mit ihren Füßen hin, samt dem Stuhl, an dem sie hing, und mit ihren auf den Rücken gebundenen Händen.

Als sie es bis zu dein Glastisch geschafft hatte, brachte sie ihre Fesselstricke an den scharfen Rand der Glasplatte und begann, sie durchzurubbeln. Die Glaskante schnitt ihr allerdings auch mit in die Handgelenke. Sie spürte, wie sie blutete.

Sie war in verzweifelter Eile, weil sie unbedingt frei sein wollte, bevor der Würger wieder zurückkam. Endlich hatte sie eine Hand frei, dann auch die andere. Hastig löste sie die Fesseln von ihren Beinen und stand auf. Sie zitterte am ganzen Leib und konnte kaum stehen.

Sie holte tief Luft. Ich bin frei, dachte sie.

Aber gerade, als sie auf dem Weg zur Wohnungstür war, ging diese auf, und der Würger war zurück. „Ah", sagte er, „wo soll es denn hingehen?"

Sekio Yamada und Detective Blake standen im Flur vor Akikos Wohnung. Yamada. untersuchte das Türschloß.

„Kratzspuren", konstatierte er. „Da ist jemand eingebrochen."

Er holte seinen Dietrich heraus.

„Was haben Sie denn vor?" fragte Detective Blake.

„Na, wir verschaffen uns Zugang."

„Das können Sie doch nicht machen. Wir haben keinen Durchsuchungsbefehl. Den müssen wir uns erst beschaffen." „Dazu haben wir keine Zeit mehr", sagte Yamada schroff. Er erinnerte sich jetzt genau, wie eigenartig Akiko sich gestern abend verhalten hatte. Sie war in Schwierigkeiten, da gab es gar keinen Zweifel! Er schloß die Wohnung mit dem Dietrich auf, und sie gingen zusammen hinein.

Alles sah ganz normal aus. Keine Anzeichen von Kampf oder Auseinandersetzung. Doch dann sah Sekio im Schlafzimmer, daß in dem Bett niemand geschlafen hatte.

„Sie war die ganze Nacht nicht da", sagte er.

Sie gingen weiter in das Atelier. Yamada blieb schon in der Tür verblüfft stehen. Auf dem Boden lagen die Scherben des modellierten Kopfs des Würgers. Auch Detective Blake stand da und starrte ungläubig. „Warum hat sie das gemacht?"

„Hat sie nicht", sagte Yamada.

„Wer denn?"

„Na, der Würger!" .

Ihm war auf einmal alles klar. Als sIe sich an der Tür so eigenartig verhalten hatte, war der Würger schon bei ihr gewesen! Mein Gott, ich muß ein Brett vor dem Kopf gehabt haben! dachte er. Es hätte mir doch auffallen müssen, daß da etwas nicht stimmte! War Akiko überhaupt noch am Leben? Und dann fiel ihm noch etwas ein. Es hatte gestern abend nicht geregnet. Aber der Würger mordete bekanntlich nur bei Regen! Er ging hastig zum Telefon und wählte eine Nummer.

„Wen rufen Sie denn an?" fragte sein Kollege Blake. „Das Wetteramt."

Eine Tonbandstimme sagte. „Das Wetter heute abend bringt mit großer Wahrscheinlichkeit Regen. Winde aus Nordost..." Er warf den Hörer hin. Regen heute abend! Wenn er Akiko nicht vorher fand, war sie des Todes! Er ging zu den Scherben des Kopfs am Boden, sah sie eine Weile lang an und sagte dann zu Blake: „Schauen Sie doch mal nach, ob irgendwo eine Tüte ist."

„Wieso eine Tüte?"

„Wir sammeln diese Scherben ein und nehmen sie mit nach Scotland Yard."

Akiko saß wieder im Wandschrank, neu gefesselt, nur hatte Alan Simpson diesmal eine noch dickere Schnur genommen und sie so fest an den Stuhl gebunden, daß sie am liebsten vor Schmerzen geschrien hätte. Das konnte sie allerdings schon deshalb nicht, weil er sie erneut auch geknebelt hatte. „Böses Mädchen!" sagte er. „Mädchen war böse und muß bestraft werden."

Er hielt ihr seinen Würgestrick vor die Augen. „Schon vergessen, wie das hier um deinen Hals sich anfühlt? Keine Bange, du wirst es noch einmal spüren. Nur wird uns diesmal nichts stören dabei. Du kannst dir jeden Versuch sparen, zu entkommen. Diesmal gehe ich nicht wieder weg."

In Scotland Yard waren drei Fachleute dabei, die Scherben des aus Ton modellierten Kopfs des Würgers wieder zusammenzusetzen.

„Sehr sorgfältig hat er es nicht gemacht", sagte einer von ihnen. „Das sind sauber gebrochene große Scherben. Es ist nicht schwer, sie wieder zusammenzukriegen."

Als sie damit fertig waren, konnte man zwar die Bruchstellen noch sehen, aber das Aussehen war doch sehr gut erkennbar. „Und jetzt?" fragte Detective Blake.

„Besorgen Sie uns eine Polaroidkamera", sagte Sekio Yamada.

„Wir fotografieren den Kopf, und Sie lassen dann hundert Abzüge davon machen, so schnell es nur geht."

Er selbst fuhr sofort mit dem ersten Abzug zu Mr. Yohiro in dessen Galerie und zeigte ihn ihm.

„Ist dies der Reporter, der da gestern zu Ihnen kam?"

„Ja, das ist der Mann."

Yamada sah auf die Uhr. Es war fünf Uhr nachmittags. Ein paar Stunden blieben ihm höchstens, bis es zu regnen anfing und damit Akikos Schicksal besiegelt war.

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