Akiko Kanomori war in heller Panik. Sie starrte ungläubig auf ihr eigenes Foto in der Zeitung. Jetzt erfuhr der Unbekannte, wer sie war und kam und holte sie sich erneut! Sie fühlte sich wie nackt, und als starrten sie alle an, die vorbeikamen. Der Appetit auf ein herzhaftes Frühstück war ihr schlagartig vergangen. Sie drehte sich um und rannte zurück in ihre Wohnung, verschloß wieder Fenster und Türen und saß zitternd auf der Couch. Was soll ich nur anfangen? dachte sie.
Scotland Yard. Auch Sergeant Sekio Yamada sah die Morgenzeitung mit dem Foto Akikos groß vorne darauf. Er konnte es kaum glauben.
Dieser Reporter, dieser Billy Cash! Umbringen hätte er den Kerl können, ohne mit der Wimper zu zucken! Wider besseres Wissen hatte der Mann Akiko Kanomori in erneute Lebensgefahr gebracht!
Das Telefon klingelte. „Sie sollen sofort zu Inspector West kommen."
Inspector West war außer sich. Vor ihm lag dieselbe Morgenzeitung. Er blickte auf, als Sekio Yamada eintrat.
„Was hat das zu bedeuten?" fuhr er ihn sogleich an. „Wie kommt dieses Foto der Zeugin in die Zeitung?"
„Das tut mir leid, Sir", sagte Yamada. „Es ist sehr schwierig, die Presse unter Kontrolle zu halten."
„Wissen sie auch ihren Namen?"
„Nein, Sir, das konnte ich zumindest verhindern. Sie. wissen weder, wer sie ist noch wo sie wohnt."
„Dann sorgen Sie wenigstens dafür, daß dies so bleibt!" knurrte ihn der Inspector an. „Schließlich ist sie die einzige Spur, die wir zu dem Killer haben." Und dann sagte er noch leicht sarkastisch hinterdrein: „Mit Ausnahme Ihrer Tomate natürlich."
Yamada bekam einen roten Kopf, aber er beherrschte sich und sagte nur: „Jawohl, Sir."
„Kümmern Sie sich mal lieber um sie. Wenn sie die Zeitung gesehen hat, steht sie vermutlich vor dem Nervenzusammenbruch." „Ich fahre sofort zu ihr, Sir."
Nach, fünf Minuten war er auf dem Weg zu Akikos Wohnung. Als es an der Wohnungstür klingelte, war Akiko vor Angst ganz starr. Steht vielleicht dieser Killer schon draußen vor der Tür? zuckte es ihr durch den Kopf. Mit seinem Würgestrick in der Hand?
Es klingelte noch einmal. Sie ging schließlich zur Tür. „Wer ist da?" „Sergeant Yamada."
Sie erkannte seine Stimme und war sogleich ungeheuer erleichtert. Sie schloß auf und öffnete. Yamada sah noch die letzten Spuren der Panik in ihrem Gesicht. „Darf ich hereinkommen?" „Aber bitte, treten Sie ein."
Er kam herein und sah sich um. Ihre Wohnung gefiel. ihm. Sehr hübsch und sauber. Genau die Wohnung, die er sich als die ihre vorgestellt hatte. „Nehmen Sie doch Platz, bitte."
„Ich habe die Zeitung schon gesehen", sagte er. „Sie sicher auch. Ich entschuldige mich." „Sie können ja nichts dafür."
„In gewisser Weise schon, Ich hätte diesen Reporter lieber festnehmen lassen sollen."
„Ich habe große Angst, ehrlich gesagt, daß der Würger noch einmal kommt und mich endgültig umbringen will."
„Sie brauchen keine Angst zu haben, wirklich nicht. Erstens weiß er Ihren Namen nicht und zweitens nicht, wo Sie wohnen. Das Beste von allem ist sowieso, daß wir glauben, wir wissen, wie wir ihn fangen können."
Ihr Gesicht hellte sich auf. „Tatsächlich?"
„Ja. Wir haben herausgefunden, wie er seine Opfer findet. Sie kennen ja den Mayfair-Markt, wo Sie einkauften."
„Ja."
„Dort hat er Sie angesprochen, nicht wahr?"
„Ja", sagte Akiko nachdenklich. „Es regnete, und er hatte einen Schirm und bot mir an, mich darunter nach Hause zu begleiten."
„Genau das ist seine Methode. Wenn es regnet, geht er dorthin und sucht sich Frauen aus, die keinen Regenschirm haben, bietet sich als Begleitung nach Hause an und erwürgt sie auf dem Weg."
Wieder erschauderte Akiko unwillkürlich. „Es war entsetzlich."
„Wir fangen ihn", versicherte Yamada. „Aber wenn wir ihn haben, müßten Sie ihn identifizieren."
„Selbstverständlich", nickte Akiko. „Ich könnte sogar seinen Kopf machen." „Wie bitte?"
„Ich kann seinen Kopf in Ton modellieren. Ich bin Bildhauerin, wissen Sie."
„Tatsächlich?" rief Sekio Yamada, der diesen Glücksfall kaum fassen konnte.
„Ja", nickte Akiko zur Bestätigung. „Das ist mein Beruf. Kommen Sie, ich zeige Ihnen mein Atelier." Sie standen auf, und Akiko führte ihn nach nebenan. Dort kam Sekio Yamada gar nicht mehr aus dem Staunen heraus über all die wunderbaren Statuen, die dort standen, manche in Lebensgröße, manche als Büsten von Männern und Frauen.
„Wundervoll!" rief er aus. „Vielen Dank", sagte Akiko errötend.
„Und Sie könnten also wirklich", fragte er noch einmal nach, „einen Kopf des Würgers modellieren?" „Aber gewiß doch. Den Kopf vergesse ich mein Leben lang nicht mehr."
„Und wie lange würden Sie dazu brauchen?" „Einen Tag oder zwei, länger nicht."'
„Das wäre ja großartig!" sagte Sekio Yamada. „Es würde uns ungeheuer weiterhelfen. Wir würden den Kopf fotografieren und die Bilder allen Zeitungen zustellen. Dann ist überall bekannt, wie er aussieht, und er kann sich nirgends mehr verbergen."
Akiko hörte die Erregung in seiner Stimme. „Das mache ich gerne. Ich bin schließlich höchst interessiert daran, daß er gefaßt wird."
Sekio Yamada sah sie an und dachte bei sich: Gott, ist sie hübsch. Er überlegte, ob sie wohl verheiratet sei. „Haben Sie..." forschte er vorsichtig, „... ich meine, leben Sie mit jemandem zusammen?" „Nein, ich lebe allein."
Das zu hören gefiel ihm gut. „Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen Polizeischutz verschaffen. Dann hält sich ein Polizist solange bei Ihnen auf, bis wir den Killer gefaßt haben." Akiko dachte darüber nach. Die Vorstellung, einen fremden Mann in der Wohnung zu haben, bereitete ihr Unbehagen. „Aber Sie sagten doch, daß ich nicht in wirklicher Gefahr bin, nachdem der Mörder nicht weiß, wie ich heiße und wo ich wohne?" „Ja, schon."
„Dann brauche ich doch eigentlich keinen Polizeischutz."
Er nickte. „Ganz wie Sie wollen. Aber wenn es Ihnen recht ist, komme ich von Zeit zu Zeit selbst vorbei und sehe nach dem Rechten."
„Das wäre sehr nett, ja."
Sie lächelten beide. Sekio Yamada spürte, daß er sich noch nie so zu einer Frau hingezogen gefühlt hatte wie jetzt zu Akiko Kanomori.
„Tja", sagte er verlegen, „dann will ich mal wieder los und Sie nicht länger von Ihrer Arbeit abhalten." „Ich fange sofort an mit dem Kopf", versicherte ihm Akiko. Sie sah ihm nach, als er ging, und sperrte die Tür hinter ihm wieder zu. Wenn dies vorbei ist, dachte sie mit Bedauern, sehe ich ihn vermutlich nie wieder.
Als Sekio Yamada aus Akikos Wohnung kam, sagte er zu seinem Kollegen Blake: „Sie will keinen Polizeischutz. Aber ich möchte trotzdem für ihre Sicherheit sorgen. Weisen Sie die Polizisten im Streifendienst an, sie im Auge zu behalten, speziell an regnerischen Abenden."
„Glauben Sie denn, wir fangen den Kerl?" fragte Detective Blake.
„Aber selbstverständlich", sagte Yamada. „Es geht mir auch darum, daß er nicht zuvor noch einen weiteren Mord begeht." Schon gar nicht an Akiko, fügte er im stillen dazu. Den Kopf des Würgers zu modellieren war schwieriger, als Akiko gedacht hatte. Das Problem dabei war nicht etwa, daß sie sich nicht an sein Gesicht erinnern konnte. Im Gegenteil, es hatte sich ihr nur zu gut eingeprägt.
Als sie den Ton zu kneten begann und die Kopfform und die ersten Gesichtszüge ausbildete, durchlebte sie ihren Alptraum ein zweites Mal. An jedes einzelne Wort von ihm erinnerte sie sich in aller Deutlichkeit. „Oh, das regnet aber stark, was?" „Ja, ja."
„Haben Sie einen Wagen da?" „Nein."
„Da haben Sie aber Pech. Ich habe wenigstens einen Regenschirm. Wohnen Sie hier in der Nähe ?" „Ein paar Häuserblocks von hier... "
Und wieder erschauderte sie in Erinnerung daran, als ihr erneut klar wurde, wie knapp sie dem Tod entgangen war. Der Würger mußte gefaßt werden! Und sie würde dabei helfen. Sie machte sich energisch wieder an die Arbeit, Sekio Yamada saß wieder im Büro von Inspector West.
„Also die Zeugin ist Malerin, sagen Sie?"
„Nein, Bildhauerin. Sie macht Statuen, Figuren."
„Und sie kann den Kopf des Würgers modellieren?"
„Ja. Sie arbeitet im Augenblick bereits daran."
„Es ist Ihnen klar, daß sie sich in einer sehr gefährdeten Lage befindet? Sie ist die einzige, die ihn identifizieren kann. Wenn er herausfindet, wer sie ist und wo sie wohnt, versucht er zweifellos, sie noch einmal umzubringen, und diesmal endgültig, Wir steilen sie lieber unter Polizeischutz,"
„Habe ich ihr schon angeboten", sagte Yamada. „Aber sie will nicht. Ich habe trotzdem veranlaßt, daß die Polizeistreifen von Zeit zu Zeit nachsehen, ob alles in Ordnung ist bei ihr.
Außerdem habe ich die Absicht, sie zu drängen, daß sie fortgeht, die Stadt verläßt, irgendwo anders hin, bis der FaIl erledigt ist und wir den Würger gefaßt haben."
„Gar keine schlechte Idee", sagte der Inspector. „Der Wetterbericht sagt für heute abend wieder Regen an", fuhr Yamada fort. „Da kann es leicht sein, daß er wieder zuzuschlagen versucht. Ich möchte deshalb das Sonderkommando wieder im Supermarkt haben."
Inspector West nickte. „In Ordnung. Fangen Sie mir den Kerl!"
Auch Alan Simpson hatte Akikos Foto auf der ersten Seite des London Chronicle gesehen. Es war ein sehr scharfes Foto, und man konnte tatsächlich sogar die Würgemale von seinem Strick erkennen, den er ihr um den Hals geworfen und zugezogen hatte, um sie zu erdrosseln... bis dann dieses blöde Taxi daherkommen mußte, das ihn zur abrupten Flucht zwang. Sein erster Fehlschlag, sein allererster!
Selbstverständlich konnte er das Risiko nicht eingehen, daß diese Frau gegen ihn aussagte. In der Zeitung stand zwar kein Name und keine Adresse, dachte er, aber das kriege ich schon heraus. Und dann wird die Sache zu Ende gebracht. Trotzdem, er war sehr frustriert. Er war wütend auf sie, weil sie ihm entkommen war. Ich kriege sie, versprach er sich selbst. Doch im Augenblick brauchte er erst einmal dringend ein anderes Opfer. Der Wetterbericht kündigte Regen für den Abend an. Gut, da suche ich mir im Mayfair-Markt eine neue aus.
Sergeant Sekio Yamada vergewisserte sich im Mayfair-Supermarkt persönlich, ob auch alle Leute seines Sonderkommandos auf ihrem Posten waren. Einige davon standen als Verkäufer hinter den Theken, andere markierten Kunden und wanderten mit Einkaufswagen in den Gängen umher.
Draußen regnete es stark. Ein großer, hagerer Mann betrat den Supermarkt. Er hatte einen Regenschirm bei sich. Er begann herumzuschlendern und studierte die Waren auf den Regalen. Sekio Yamadas Nervosität stieg. Könnte er das sein? Er signalisierte seinen Leuten, den Mann besonders im Auge zu behalten.
Alan Simpson sah sich nach seinem nächsten Opfer um. Es waren viele Frauen da, die Lebensmittel für ihre Männer oder Freunde einkauften. Tja, eine von euch, dachte er, wird heute nicht mehr nach Hause kommen. Aber welche? Er fühlte sich bei dieser Auswahl seiner Opfer wie Gott selbst. Er entschied, welche starben und welche weiterleben durften. Es war ein großartiges Gefühl.
Eine fette Frau ohne Schirm, ungefähr Anfang fünfzig, kaufte an der Konditoreitheke einen Kuchen.
Die hat schon genug zu essen gehabt, entschied Alan Simpson bei sich. Die ist es. Er begab sich zum Eingang. Sekio Yamada ließ ihn nicht mehr aus den Augen und machte sich bereit, ihn festzunehmen.
Die fette Frau bezahlte für ihren Kuchen und ging zum Eingang. Dort blieb sie kurz stehen und sah hinaus in den Regen. „O Gott!" sagte sie laut. „So ein Wetter. Und ich habe keinen Schirm mitgenommen!"
Alan Simpson lächelte. Er trat neben sie und sagte: „Wenn ich Ihnen behilflich sein kann?" Aber in diesem Augenblick merkte er, wie ihn zwei Verkäufer hinter einer Theke fixierten. Er sah sich um und erkannte, daß noch mehr Männer da waren, die ihn mit ihren Blicken nicht losließen. Verdammt, die Polizei, dachte er. Eine Falle! Sie waren überall! Aber sie konnten doch überhaupt nicht wissen, wer er war?
Die Frau neben ihm sagte inzwischen. „Sie haben einen Regenschirm! Ich wohne gar nicht weit von hier. Wenn Sie vielleicht so nett wären -"
„Tut mir furchtbar leid", sagte Alan Simpson jedoch hastig. „Aber ich warte auf meine Frau. Guten Abend!" Und er drehte sich um und ging hinaus.
Sekio Yamada war enttäuscht. Einen Moment lang hatte er schon geglaubt, den Würger zu haben. Aber offensichtlich war es der Falsche. Er signalisierte seinen Leuten Entwarnung.
Draußen auf der Straße aber stand Alan Simpson mit heftigem Herzklopfen. Also hatten sie entdeckt, daß es der Mayfair-Supermarkt war, wo alles immer begann! Fast hätten sie mich gekriegt. Das sollte ihm nicht noch einmal passieren. Oh, weitermorden würde er natürlich. Aber künftig von einem anderen Supermarkt aus.
Doch zunächst muß ich herausfinden, wie diese Zeugin heißt, die mich identifizieren kann. Sie muß sterben.