12. KAPITEL

Akiko war klar, daß ihr Schicksal besiegelt war. Sie saß gefesselt und geknebelt in dem stockfinsteren Wandschrank, ohne sich auch nur rühren zu können. Nicht einmal einen Fluchtversuch konnte sie unternehmen, weil der Würger ständig im Raum war.

Worauf wartet er denn nur? fragte sie sich. Sie wäre wohl noch mehr in Angst gewesen, wenn sie gewußt hätte, daß er nur auf den Regen wartete, um es dann zu tun. Es sollte nur wenige Stunden dauern, bis es regnete.

Inzwischen aber war eine gewaltige Suchaktion im Gange. Sekio Yamada hatte hundert Abzüge des Fotos von dem modellierten Würgerkopf machen und verteilen lassen. Uniformierte Polizei und Kriminalbeamte in Zivil durchkämmten systematisch die Straßen des Stadtviertels Whitechapel. Sie zeigten das Foto Bewohnern und Passanten in der Hoffnung, Hinweise zu bekommen, die zur Identifizierung des Mannes führten.

Yamada hatte eine Einsatzbesprechung mit Inspector West. „Wäre es nicht vielleicht besser", fragte West, „die Fotos in ganz London zu verteilen? Warum kaprizieren Sie sich allein auf Whitechapel?"

„Weil alle seine Opfer dort ermordet wurden, deshalb", beharrte Yamada. „Ich habe keinen Zweifel, daß er sie sich alle in Lebensmittelgeschäften in Whitechapel gesucht hat." Er war ungeduldig und wollte diese Besprechung schnellstens beenden, um sich wieder selbst nach Whitechapel begeben zu können. Der Gedanke, daß sich Akiko direkt in der Gewalt des Würgers befand und daß ihr etwas geschehen könne, war ihm unerträglich.

„Also gut", beschied ihn Inspector West schließlich. „Sie bekommen alle Leute; die Sie brauchen. Aber finden Sie ihn, bevor er weitermordet!" Die Suche ging weiter.

Sekio Yamada hatte das ganze Viertel in Bezirke unterteilt und für jeden eigene Leute eingewiesen.

Einer der Detectives kam in ein Kaufhaus und zeigte dem Geschäftsführer das Foto.

„Wir suchen diesen Mann", sagte er. „Ist er Ihnen bekannt?" Der Manager besah sich das Foto und schüttelte den Kopf. „Nein."

„Haben Sie etwas dagegen, wenn ich das Foto auch Ihrem Personal zeige?" „Natürlich nicht."

Aber niemand konnte das Gesicht auf dem Foto identifizieren. Die Polizeibeamten suchten jede Apotheke und jeden Friseur auf, alle Eisenwarengeschäfte und Lebensmittelläden. Aber nirgends hatte man den Mann auf dem Foto jemals gesehen. Detective Blake sagte schließlich zu Sekio Yamada: „Sieht nicht gut aus bisher, Sergeant. Wir tappen herum wie im Nebel. Vielleicht hat Inspector West ja recht,. und der Mann wohnt ganz woanders und kommt nur hierher, um sich hier seine Opfer zu holen."

„Das glaube ich nicht", sagte Yamada. „Mein Gefühl sagt mir ganz stark, daß er auch hier irgendwo wohnt." Er sah zum Himmel hinauf und ging dann zu einer Telefonzelle.

„Wen wollen Sie denn anrufen?" „Das Wetteramt."

Er hörte eine Stimme vom Tonband. „... Winde aus Nordost mit einer Geschwindigkeit von zehn Stundenmeilen. Ein

Hochdruckgebiet kommt von der Küste her, starker Regen ist zu erwarten. Die Temperaturen stehen bei..." Er hängte mißmutig ein. „Es wird bald regnen", sagte er zu Blake. „Machen Sie den Leuten Dampf. Es muß schneller gehen. Wir haben nicht mehr viel Zeit!"

Alan Simpson schaute in seiner Wohnung aus dem Fenster. Zu seiner Freude begannen sich bereits dunkle Wolken zusammenzuballen. Bald, dachte er, bald ist es soweit, dann regnet es.

Er dachte an die im Wandschrank eingeschlossene Frau und lächelte böse. Nur noch kurze Zeit, und ihr Schicksal war besiegelt.

Sekio Yamada selbst war es, der schließlich jemanden fand, der Alan Simpson identifizieren konnte. Es war in dem Lebensmittelgeschäft, wo Simpson einzukaufen pflegte. „Ja, sicher", sagte der Verkäufer dort. „Klar, den kenne ich. Der kommt regelmäßig."

Sekios Herz tat einen Freudensprung. „Wissen Sie auch, wie er heißt?"

„Nein, das nicht. Aber er wohnt hier in der Gegend, das weiß ich."

„Woher?"

„Na, weil er eines Tages kam und eine ziemliche Menge einkaufte. Und da fragte ich ihn, ob er Hilfe zum Heimtragen bräuchte, und er sagte, nein, nein und daß er nur ein paar Häuser weiter wohne."

Yamada hängte sich an den Polizeifunk. „Alle Einsatzbeteiligten schnellstens hier zusammenziehen." Er gab die Adresse durch. „In diesem Bereich von vier Häuserblocks werden sämtliche Wohnungen durchsucht! Höchste Eile ist geboten!"

Und so gingen Polizeibeamte von Tür zu Tür und zeigten das Foto vor.

„Haben Sie diesen Mann schon einmal gesehen ?" „Nein, wer ist das?"

„Haben Sie diesen Mann schon mal gesehen?" „Sieht fast so aus wie mein verstorbener Mann." „Ihr verstorbener Mann ?" „Ja. Er ist vor zehn Jahren gestorben ..." „Haben Sie diesen Mann schon einmal gesehen?" „Nein. Wozu wollen Sie das wissen?"

Dann endlich ein Glückstreffer. „Haben Sie diesen Mann schon mal gesehen?"

„Ja, gewiß. Er wohnt in dem Block da drüben." Ein paar Minuten später befragte Sekio Yamada diese Mieterin. „Waren Sie das, die einem Beamten gesagt hat, Sie kennen diesen Mann, Madame?"

„Mit Namen kenne ich ihn nicht, aber ich bin ihm eine Zeitlang mal ständig begegnet. Die letzte Zeit allerdings nicht mehr. Er wohnt da drüben, in dem Haus gegenüber." Sekio Yamada ging über die Straße und in das bezeichnete Wohnhaus. Dort kam ihm der Hausverwalter entgegen. „Ja? Suchen Sie jemand?"

Yamada zeigte ihm das Foto. „Kennen Sie diesen Mann?" „Ja, sicher. Das ist Alan Simpson, einer unserer Mieter hier." „Hier in diesem Haus?"

„War er. Aber vor ein paar Wochen habe ich ihn hinausgesetzt."

Yamada war, als habe er einen Hieb in die Magengrube bekommen.

„Was?"

„Ja: Er hat sich immer so merkwürdig benommen. Solche Mieter kann ich nicht haben, und da habe ich ihm gekündigt." „Wissen Sie, wohin er gezogen ist?"

„Nein", sagte der Hausverwalter kopfschüttelnd. „Er ist mit einem Möbelwagen gekommen und mit all seinen Sachen weg. Ich habe ihn nicht wiedergesehen."

Yamada kombinierte rasch. „Ein Möbelwagen? Stand der Name der Spedition darauf?"

„Nein. Und ehrlich gesagt, hat es mich auch überhaupt nicht interessiert. Wieso sind Sie hinter ihm her? hat er was ausgefressen?"

Etwas mehr, lieber Mann, als nur etwas ausgefressen, dachte Sekio Yamada bei sich.

Ein halbes Dutzend Polizisten hingen an den Telefonen und riefen sämtliche Umzugsspeditionen im Viertel an. Der sechste Anruf brachte den Volltreffer. „Ja", sagte die Stimme am Telefon, „wir haben einen Umzug eines Mannes an dieser Adresse getätigt, vor drei Wochen."

„Und haben Sie auch noch die Adresse, wohin der Umzug ging?" fragte Sekio Yamada. „Aber gewiß doch." Und er bekam sie.

Es fing an zu regnen. Alan Simpson war bereit. Er streckte den Kopf zum Fenster hinaus und spürte den wunderbaren Regen auf seinem Gesicht. Jetzt konnte er wieder tun, was er nach Gottes Willen tun mußte! Nämlich wieder eine verkommene Seele in die Hölle zu schicken.

Er ging zum Wandschrank und öffnete ihn. Vor ihm saß Akiko, auf den Stuhl gebunden, und mühte sich immer noch vergeblich, sich von den Fesselstricken zu befreien. Simpson lächelte.

„Bemühen Sie sich nicht weiter. Ich binde Sie jetzt los."

Einen Moment lang keimte Hoffnung in Akiko auf. Dann aber sah sie den Blick in seinen Augen und wußte, daß alles hoffnungslos war. Aus diesen Augen sprach der Wahnsinn. „Ich muß Sie leider bestrafen", sagte Simpson. „Sie haben versucht, mich an die Polizei zu verraten. Du bist ein ganz böses, schlimmes Mädchen, weißt du das?" Akiko versuchte zu antworten, aber sie hatte noch den Taschentuchknebel im Mund.

„Ja, ja!" wiederholte Alan Simpson. „Und weißt du auch, was mit bösen, schlimmen Mädchen geschieht? Du wirst es bald erfahren."

Er ging in die Küche und machte den Lebensmittelschrank auf, aus dem er eine Einkaufstüte füllte. Alles mußte genauso geschehen wie bei allen anderen bisher. Sie mußte eine Lebensmitteltüte in der Hand haben, wenn sie starb. Der einzige Unterschied jetzt würde sein, daß er ihr das Messer an die Kehle hielt, um sicherzustellen, daß sie nicht zu entfliehen versuchte, bevor er sie erwürgte.

Als er mit diesen Vorbereitungen fertig war, holte er seinen Regenschirm. Alles muß genau sein wie immer. „Ich habe jetzt seine Adresse", sagte Sekio Yamada. „Und wenn er sie gar nicht dort gefangenhält?" fragte Detective Blake.

Das hatte Yamada bereits bedacht. Er zählte allerdings darauf, daß der Würger Akiko in seiner eigenen Wohnung gefangenhielt. Wenn er sich darin irrte, dann war Akiko verloren.

„Es ist unsere einzige Chance", sagte er. „Los!"

Sie stiegen in ihren Polizeiwagen, und Yamada trieb den Fahrer an. „Treten Sie aufs Gas, Mann!"

Der Fahrer drehte den Anlasserschlüssel. Aber die Batterie war leer.

„So", sagte Alan Simpson im selben Augenblick zu Akiko. „Wir beide machen jetzt einen schönen kleinen Spaziergang." Akiko wußte, was das zu bedeuten hatte. Sie schüttelte heftig den Kopf.

„Na, nun mach aber keine Geschichten", sagte Alan Simpson, „wenn du nicht willst, daß ich dir jetzt gleich das schöne Hälslein aufschlitze. Klar?" Und er drückte ihr das Messer an den Hals. Akiko erstarrte wie gelähmt.

„So ist es besser. Jetzt binde ich dich los, aber du bleibst schon ruhig sitzen, bis ich dir sage, du sollst aufstehen. Verstanden?" Akiko antwortete nicht. Er drückte ihr das Messer ,wieder etwas stärker in die Haut, bis sie gehorsam nickte. „So ist es brav", sagte Alan Simpson.

Er durchschnitt ihre Fesselstricke mit seinem scharfen Messer, und sie war wieder frei. Sie versuchte aufzustehen, aber es wurde ihr schwindlig.

Sie legte sich eine Hand an die Stirn und sagte: „Ich glaube, ich werde ohnmächtig."

„Lieber nicht, sonst töte ich dich gleich hier." Das allerdings wollte er gar nicht. Sie mußte draußen im Regen sterben, damit ihre Schuld von ihr abgewaschen werden konnte. Er packte sie am Arm. „Na, los jetzt!"

Er griff sich die Lebensmitteltüte und schob sie Akiko in den Arm.

„Was soll denn das?"

„Halt den Mund und tu, was man dir sagt!" herrschte er sie an. „Wir tun jetzt so, als hättest du im Supermarkt eingekauft, und als du gehen wolltest, hat es zu regnen angefangen, aber du hast keinen Schirm dabeigehabt. Verstanden?" Akiko nickte. Sie hatte zuviel Angst, um zu diskutieren. „Und ich habe dir angeboten, dich heimzubegleiten, weil ich einen Regenschirm hatte."

Er griff nach seinem Schirm und drängte Akiko zur Tür. „Wir gehen jetzt hinaus. Aber Wenn du auch nur einen Mucks tust, schneide ich dir die Kehle durch, ist das klar?" Akiko versuchte zu sprechen, aber ihre Kehle war zu trocken. Alan Simpsons Wohnung lag im ersten Stock des Wohnhauses. Er führte sie am Arm mit sich die Treppe hinab. In der Hand hielt er sein Messer.

Akiko betete, daß ihnen jemand auf der Treppe begegnen möge. Irgendwer, der ihr helfen könnte. Aber sie begegneten keiner Menschenseele.

So kamen sie bis zur Haustür. Alan Simpson lächelte sie an und spannte seinen Regenschirm auf.

„Sehen Sie, was für ein Gentleman ich bin? Ich begleite Sie im Regen nach Hause."

Gott helfe mir, der Mann ist total wahnsinnig, dachte Akiko. Aber es war niemand da, der ihr geholfen hätte. Die Straße war dunkel und leer. Alan Simpson faßte sie fester am Arm, und sie gingen hinaus in den Regen.

Für Simpson war es ein wunderbares Gefühl. Er spürte, wie sich die altvertraute Erregung wieder in ihm aufbaute. Und das Gefühl, Gott selbst zu sein. In ein paar Augenblicken nahm er wieder ein Menschenleben. Er war allmächtig. Die Polizei mochte so fieberhaft nach ihm suchen, wie sie wollte, ihm war sie nicht gewachsen.

Sie gingen die Straße entlang. Ein Stück weiter vorne war eine Stelle, die vollständig dunkel war. Die Straßenlaternen waren zerstört. Perfekt! dachte er.

Akiko versuchte langsamer zu gehen, aber er zerrte sie weiter. Er war jetzt voller Erwartung auf das erregende Erlebnis, das er so liebte.

Für Akiko allerdings war es der komplette Alptraum. Sie erlebte erneut die Schreckensszene, die sie vor ein paar Tagen schon einmal durchgemacht hatte, als er sie genauso begleitet hatte und in einer anderen dunklen Straße dann plötzlich über sie herfiel und sie zu würgen begann. Nur ein Zufall hatte sie gerettet. Aber jetzt schien es keinen zweiten Zufall zu geben. Niemand war in Sicht, der sie hätte retten können. Der Regen wurde stärker. Dann merkte sie, wie der Regenschirm weggenommen wurde und der Mörder hinter ihr blieb. Und wieder verspürte sie unmittelbar darauf den scharfen Stich in ihrem Rücken, der sie die Einkaufstüte fallen ließ. Und in der nächsten Sekunde hatte sie den Würgestrick um den Hals. Alan Simpsons verzerrt grinsendes Gesicht war über ihr.

Doch in diesem Augenblick war plötzlich blendende Helle um sie. Ein Dutzend Scheinwerfer waren aufgeflammt. Sie waren umringt von Polizeiautos, die die Straße entlang geparkt waren. Simpson stand verdutzt da, wie angewurzelt. „Was zum ...?"

„Lassen Sie Strick und Messer fallen!" rief Sekio Yamada. „Auf der Stelle!"

Alan Simpson blickte sich ungläubig um. Er sah mindestens ein Dutzend Polizisten, die auf ihn zukamen. Wie in aller Welt hatten sie ihn gefunden?

„Sie sollen die Sachen fallen lassen, habe ich gesagt!" wiederholte Yamada scharf.

So war das! Sie versuchten, ihn um sein Opfer zu betrügen, wie? Wenn sie sich da nur nicht täuschten! Die sollte büßen für das, was sie ihm angetan hatte! Seine eigene Mutter! Und dafür mußte sie sterben!

Er hob das Messer und schrie: „Stirb!" Aber im gleichen Augenblick krachte ein Schuß. Er fiel um. Sekio Yamada ließ die Pistole sinken und stürmte auf Akiko zu. „Alles in Ordnung?"

Sie warf die Arme um ihn. „Gott sei Dank, daß Sie da sind!" Und sie schluchzte hemmungslos.

Er kniete sich nieder und fühlte den Puls des Mörders. Es war keiner mehr zu spüren.

Er wandte sich Akiko zu. „Es tut mir leid, daß ich nicht früher da war."

Als das Polizeiauto nicht angesprungen war, hatte er einfach den nächstbesten Privatwagen angehalten und den Fahrer angewiesen, zu Alan Simpsons Adresse zu fahren. Über den Polizeifunk veranlaßte er inzwischen, daß sämtliche Fahrzeuge und Sucheinheiten dorthin kamen. Er wies sie an, unauffällig zu parken und sich still zu verhalten.

Er war gerade erst über die Straße gegangen, als Simpson mit Akiko aus dem Haus kam. Er hatte gewartet, bis er eine eindeutige Situation gegen ihn hatte. Alles war endlich vorbei.

Im Polizeipräsidium war Sekio Yamada der Held des Tages. Alle, voran Inspector West, gratulierten ihm zu seiner vorbildlichen Polizeiarbeit.

„Ich hätte Sie gerne für dauernd bei uns im Scotland Yard", sagte er zu ihm.

„Vielen Dank, Sir."

Für diese Ehre war er noch sehr jung.

„Übrigens", sagte Inspector West, „meine Frau und ich geben heute abend ein kleines Abendessen. Wenn Sie frei sind, sind Sie herzlich eingeladen."

„Das ist sehr freundlich von Ihnen, Sir", sagte Sekio Yamada, „allerdings habe ich schon eine Verabredung." „Na gut, dann ein andermal." „Ja, Sir."

Sekio Simpsons Verabredung war natürlich mit Akiko. Er ging an diesem Abend mit ihr zum Essen zu zweit. Und er wußte, daß er und Akiko von nun immer zusammen abendessen würden.

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