Alan Simpson spürte den weichen Regen, und Freude stieg in ihm auf. Gott gab ihm zu verstehen, daß es Zeit war, die Welt von einer weiteren bösen Frau zu befreien. Er ging durch den Regen und eilte an den Ort, wo er seine Opfer immer fand. Die Zeitungen schrieben, es gäbe keinerlei Verbindungen zwischen seinen Opfern! Wo es doch natürlich eine gab! Sie würden es nie herausfinden. Der Mayfair-Supermarkt befand sich im Herzen von Whitechapel. Genau dort suchte er sich alle seine Opfer aus. Er ging in das Geschäft hinein, schlenderte langsam durch die Gänge und beobachtete die einkaufenden Frauen. Sie waren alle Huren, alle. Taten so, als seien sie treue Ehefrauen und besorgten die Sachen, um Essen für ihre nichtsahnenden Ehemänner und Liebhaber zuzubereiten! Aber ihm konnten sie alle nichts vormachen. Er wußte, was sie waren. Und eine von ihnen mußte heute abend sterben.
Er musterte sie der Reihe nach, welche er aussuchen sollte. Da war eine ältere grauhaarige Frau, die im Gemüse herumsuchte. Und dann sah er, wonach er suchte. Sie mochte über dreißig sein, von mittlerer Größe und mit einer Brille. Sie hatte einen enganliegenden Rock an mit einer Bluse. Du bist es, dachte er. In ein paar Minuten bist du tot.
Sie hieß Nancy Collins, war Krankenschwester und arbeitete in einem Krankenhaus nur ein paar Häuserblocks von ihrer Wohnung. Meistens arbeitete sie die Nachtschichten, aber heute hatte sie frei und war mit ihrem Verlobten verabredet. Dieser war ein Reisevertreter, also meistens unterwegs, weshalb sie sich nicht so oft sehen konnten, wie sie eigentlich wollten. Um so mehr freute sich Nancy auf den heutigen Abend mit ihm.
Sie wollte ein gutes Essen zubereiten, alles, was er gemochte. Hackbraten, Kartoffelpüree, Salat, und zum Nachtisch hatte sie einen Schokoladenkuchen gekauft. Es würde bestimmt ein sehr schöner Abend werden, wenn sie dann noch zusammen auf dem Sofa saßen und Musik hörten.
Als sie ihre Einkäufe erledigt hatte, ging sie hinaus mit den Einkaufstüten im Arm, und da sah sie, daß es inzwischen regnete. So ein Mist! dachte sie. Hoffentlich weicht mir nicht alles auf. Sie hatte keinen Regenmantel mitgenommen, und bis zu ihrer Wohnung waren es vier Häuserblocks. Aber es half nichts, auch wenn sie naß wurde. Als sie hastig losging, war plötzlich ein freundlich aussehender junger Mann an ihrer Seite. Mit einem Regenschirm.
Er lächelte sie an und sagte höflich: „Guten Abend. Sie werden ja ganz naß. Darf ich Ihnen meinen Regenschirm anbieten?" Und er hielt ihn über ihren Kopf.
„Das ist aber sehr nett von Ihnen", sagte Nancy. Da sollte noch jemand sagen, es gäbe keine Kavaliere mehr.
„Haben Sie es sehr weit?"
„Vier Häuserblocks", sagte Nancy.
„Ich begleite Sie gerne nach Hause", sagte er. „Ich versäume nichts."
Sein freundliches Angebot rührte sie. Es regnete inzwischen noch stärker.
„Wirklich sehr lieb von Ihnen", sagte sie. „Wäre doch arg, wenn Ihr hübsches Kleid ruiniert würde." Ein wirklich charmanter junger Mann, dachte Nancy. „Ich bin Nancy Collins", sagte sie.
„Alan Simpson." Es machte nichts aus, ihr seinen Namen zu sagen, weil sie ohnehin nicht mehr lange genug lebte, um ihn irgend jemandem zu sagen.
Sie gingen los. Die Straßen waren wegen des starken Regens inzwischen fast leer.
„Wohnen Sie hier in der Gegend?" fragte Nancy. „Nicht weit weg", antwortete er. Sie waren an einer Ecke angekommen. „Da runter", sagte Nancy.
Sie bogen in die Straße ein, die sie gezeigt hatte, und diese war sogar völlig menschenleer. Nichts deutete allerdings darauf hin, daß hier gleich ein brutaler Mord stattfinden würde. Alan Simpson sagte: „Soll ich Ihnen nicht Ihre Tüten tragen?" „O danke, aber ich komme schon zurecht. Ich bin das gewöhnt."
„Was machen Sie denn so beruflich?" „Ich bin Krankenschwester."
„Aha. Dann arbeiten Sie wohl in dem Krankenhaus hier ganz in der Nähe, wie?"
„Ja. Und Sie, was sind Sie?"
Er lächelte. „Ich bin Leichenbestatter."
Sie sah ihn überrascht an. „Leichenbestatter?"
„Ja. Da sind wir praktisch in der gleichen Branche, nicht?
Beide haben wir es mit dem Tod zu tun."
Es war ein eigenartiger Ton darin, wie er das sagte, fand Nancy Collins. Sie spürte eine gewisse Beklemmung in sich aufsteigen. War es ein Fehler gewesen, sich von diesem Fremden begleiten zu lassen? Er sah zwar ganz harmlos aus, aber... Sie ging unwillkürlich ein wenig schneller. Er beeilte sich, Schritt zu halten, damit sie unter seinem Regenschirm blieb.
Sie hatte zunächst vorgehabt, ihn als Dank für seine Hilfe zu einer Tasse Tee einzuladen. Aber jetzt fand sie das keine so gute Idee mehr. Schließlich war ihr der Mann völlig unbekannt. Sie wußte doch nichts über ihn.
Sie waren inzwischen zwei der vier Häuserblocks weit gegangen. Sie war nicht mehr weit von ihrem Wohnhaus entfernt.
„Diese Straßen hier sind aber ziemlich dunkel", sagte der Mann, und das stimmte auch. Hier schossen die Halbwüchsigen mit Vorliebe aus Spaß die Straßenlampen kaputt. Nancy Collins hatte sich schon oft bei der Stadt darüber beschwert, aber geschehen war nichts.
Es regnete jetzt noch stärker, und der aufkommende Wind peitschte den Regen zusätzlich.
Gott sei Dank nur noch eine oder zwei Minuten, dachte sie, dann bin ich zu Hause.
Ihr Begleiter schien Schwierigkeiten mit dem Regenschirm zu haben. Er blieb stehen und war so einen Augenblick hinter ihr. Und auf einmal spürte sie einen heftigen Stich im Rücken. Der Schmerz war so stark, daß sie aufschrie und ihre Einkaufstüten fallen ließ. Der Mann hatte ihr den Stich mit der Spitze seines Regenschirms versetzt. „Was tun Sie denn da ...?"
Er hatte inzwischen einen Strick herausgezogen, den er ihr um den Hals schlang.
„Weg!" schrie sie auf, aber weit und breit war niemand, der sie hätte hören können. Der Strick um ihren Hals zog sich zu und würgte sie. Sie versuchte sich zu wehren, aber der Würger war zu stark. Sie sah ihn jetzt grinsen, wie er den Strick um ihren Hals immer weiter zuzog, während ihr die Sinne zu schwinden begannen. Er beobachtete, wie das Leben aus ihren Augen wich. Dann ließ er sie zu Boden sinken.
Er drehte sorgfältig ihr Gesicht nach oben in den Regen, damit dieser ihre Sünden fortwaschen konnte.
Er steckte den Würgestrick wieder ein und tat dann etwas sehr Merkwürdiges. Er hob die Einkaufstüten auf und packte alles, was herausgefallen war, sorgfältig wieder hinein, ehe er mit ihnen davonging.
Er hielt den Regenschirm eng über sich, damit er nicht naß wurde. Zehn Minuten später war er in seiner Wohnung und stellte die Einkaufstüten auf die Küchenanrichte. Alles war wie immer sorgfältig geplant gewesen. Nach jedem Mord nahm er die Einkaufstüten seiner Opfer mit. Auf diese Weise bekam die Polizei keine Hinweise darauf, wo seine Opfer hergekommen waren. Gar keine Frage, dachte er lächelnd, so schlau wie die Polizei war er allemal! Er begann, die Lebensmittel aus den Einkaufstüten auszupacken. Es machte ihm Spaß, festzustellen, was diese Frauen alles hatten kochen wollen. Diesmal waren es ein Hackbraten, Kartoffeln, Salat und Schokoladenkuchen. Er liebte Schokoladenkuchen.
Und er begann, das Abendessen für sich selbst zuzubereiten.
Nancy Collins wurde von einem vom Büro nach Hause eilenden Mann gefunden. Als er sah, daß sie schon tot war, lief er sofort zum nächsten Telefon. Er war so aufgeregt, daß er kaum etwas herausbrachte.
„Ist da die Polizei? Ich möchte ... einen Mord melden. Ich glaube jedenfalls es ist einer. Sie ist tot." „Wer ist tot?"
„Diese Frau da. Diese Leiche, die da auf der Straße liegt. Beeilen Sie sich!"
„Beruhigen Sie sich erst mal, und sagen Sie mir, wo das ist."
Sergeant Sekio Yamada traf nach einer Viertelstunde mit dem Polizeiauto ein. Er veranlaßte als erstes eine Absperrung um den Tatort. Dann sah er sich sorgsam um und suchte nach Spuren. Aber er fand nicht die kleinste.
Er entdeckte die Würgermale um den Hals der Toten.
„Sie ist erwürgt worden", sagte er. „Aber der Strick, mit dem es geschah, fehlt."
Kurz darauf kam der Wagen des Leichenbeschauers und transportierte die tote Frau ab. Es schien am Tatort für Sekio Yamada nichts mehr zu tun zu geben. Er sah sich noch ein letztes Mal um. Und da entdeckte er eine Tomate, die auf der Straße lag. Er hob sie auf und untersuchte sie genau, als könne sie ihm etwas erzählen.
„Ist das etwa eine Spur?" fragte Detective Blake. Yamada war sich nicht sicher. Hatte diese Tomate vielleicht der toten Frau gehört? Oder hatte sie sonst jemand einfach auf der Straße fallen lassen oder verloren? Aber was hätte die Frau mit einer einzigen Tomate getan? Wer ging denn im stärksten Regen hinaus und kaufte eine einzige Tomate? Das ergab alles keinen Sinn.
Noch während er darüber nachdachte, hörte er Autos heranbrausen und blickte auf. Die Meute der Fernsehreporter und Fernsehteams mit Kameras und Mikrophonen kam herbei. Woher konnten sie das mit diesem Mord nur so schnell wissen? Und schon prasselten die Fragen auf ihn ein. „Ist dies wieder ein Mord des Würgers?" „Wie hieß das Opfer?" „Haben Sie schon Spuren?"
„Möchten Sie nicht endlich eingestehen, daß der Würger zu clever für Sie ist?"
Diese letzte Bemerkung schleuderte ihm wieder einmal dieser Billy Cash entgegen, der für das Revolverblatt The London Chronicle schrieb. Billy Cash war Spezialist für Berichte darüber, wie mangelhaft die Polizei arbeitete. Er war klein und häßlich und trug einen abgewetzten, grauen Anzug. Sekio Yamada beherrschte sich mühsam. „Die Öffentlichkeit kann sich darauf verlassen" erklärte er ruhig und sachlich, „daß wir alles Menschenmögliche tun, um den Täter zu fassen." „Mit anderen Worten, Sie wissen gar nichts", rief Billy Cash. Yamada sagte nichts von der Tomate. Immerhin wußte ja auch er noch nicht, ob sie wirklich ein Hinweis und eine Spur war.
Er sah eine Fernsehkamera auf sich gerichtet. „Sergeant, was genau unternimmt die Polizei, um die Frauen dieser Stadt vor weiteren Morden zu beschützen?"
Das war eine Fangfrage. Er konnte weder riskieren zu viel noch zu wenig zu sagen. Wenn er versprach, daß es keine Gefahr für die Frauen mehr gab, und es geschah doch ein weiterer Würgermord, dann fielen sie erst recht über ihn her. Und wenn er einräumte; daß keine Sicherheit für die Frauen von London existierte, dann löste er damit womöglich eine Panik aus.
„Ich bin nicht befugt, darüber zu sprechen, was wir konkret unternehmen", sagte er deshalb lieber, „weil dies natürlich unter Umständen dem Täter Hinweise geben könnte." „Wollen Sie damit andeuten, daß Sie erwarten, ihn schon bald zu fangen?" fragte Billy Cash wieder.
„Ziehen Sie Ihre eigenen Schlüsse, meine Damen und Herren!" sagte Yamada, stieg in sein Polizeiauto und fuhr zusammen mit Detective Blake davon.
Sekio Yamada war sehr unglücklich darüber, wie die ganze Angelegenheit verlief. Er bedauerte die arme Frau, die soeben ermordet worden war, und wollte nichts, als den Täter möglichst rasch zu finden und damit den Wahnsinnigen zu stoppen, der die Straßen unsicher machte und sich nach Belieben Opfer suchte und sie tötete.
Wie kommt er an seine Opfer? überlegte er. Wo findet er sie? Wie kommt er so nahe an sie heran, um sie töten zu können, ohne daß sie schreien und weglaufen? Sehr merkwürdig! Trug er vielleicht irgendeine Uniform, so daß er kein Mißtrauen erregte? Oder wohnte er hier in der Gegend und kannte seine Opfer?
Aber er hatte keine Antworten auf all die Fragen.
„Ist der Autopsiebericht fertig?" Er hatte eine Weile ungeduldig auf diesen Bericht gewartet.
„Schon da, Sergeant! Aber es steht nichts Neues darin. Er ist genau wie die anderen."
Und das stimmte.
Im Vergleich zu den Berichten über die anderen Opfer, die er schon gelesen hatte, stand nichts Neues darin. Auch diese letzten Opfer waren erdrosselt worden, eindeutig feststellbar an den von einem Strick am Hals herrührenden Strangulationsmalen. Auch hier war die gleiche Besonderheit wie bei allen anderen Opfern festgestellt worden: Etwas auf dem Rücken, wie es alle Autopsieberichte vermerkten. Eine Art Stichmal. Aber die Haut war nicht verletzt. Also mußte wohl etwas durch die Kleidung des Opfers gedrungen sein. Was es auch war, es konnte unmöglich den Tod der Opfer verursacht haben.
„Das ist sehr merkwürdig", sagte er. „Wieso haben das alle Opfer auf gleiche Weise am Rücken? Und wodurch ist es verursacht?"
Aber er wußte keine Antwort auf diese Frage. Und der andere Umstand, der ihn beschäftigte und nicht losließ, war, warum alle diese Morde im Regen geschahen.
Man hatte schon von Irren gehört, die immer nur bei Vollmond mordeten. Der Mond hatte angeblich Einfluß auf die Sinne des Menschen.
Aber was hatte es mit dem Regen auf sich ?'Was hatte ein Mann für einen Grund, seine Untaten ausschließlich nur dann zu begehen, wenn es regnete? Sergeant Yamada schlief schlecht in dieser Nacht. Als er am nächsten Morgen erwachte, schlug er als erstes die Morgenzeitung auf und sah nach dem Wetterbericht.
Und seine Laune sank, als er ihn las.
HEUTE WOLKIG, ABENDS VORAUSSICHTLICH SCHAUERTÄTIGKEIT.
War vielleicht zu erwarten, daß der Mörder auch heute wieder zuschlug?