X Dem Tode entronnen

«Jetzt dauert es nicht mehr lange, Sir. «Grindle hakte die Daumen in den Gürtel und beobachtete gelassen die sich nähernde Flottille. In der letzten halben Stunde hatten die Boote sich zur Linie formiert; das Manöver ging ohne Eile oder sichtbare Anstrengung vor sich, als hätten sie alle Zeit der Welt. Als sie jetzt stetig im Bogen auf die Backbordseite der Navarra zufuhren, sahen sie aus wie ein historischer Aufzug oder wie Rudergaleeren. Dieser Eindruck wurde noch durch das dumpfe Trommeln verstärkt, das den Männern an den Riemen ermöglichte, gleichmäßig Takt zu halten.

Die vorderste Schebecke war noch etwa eine Meile entfernt, aber schon konnte Bolitho an ihrem langen, schnabelförmigen Bug den Pulk dunkelhäutiger Gestalten erkennen, die wahrscheinlich das Buggeschütz für den ersten Angriff fertig machten. Die Segel waren bei allen Booten aufgegeit, und er konnte am Vormast den blauen, gespaltenen Wimpel mit dem Halbmondemblem ausmachen.

Er riß sich vom Anblick der stetig und zielbewußt näher kommenden Boote los und sagte zu Grindle:»Ich gehe mal kurz unter Deck. Passen Sie gut auf, bis ich zurück bin.»

Während er den Kampanjeniedergang hinabstieg, versuchte er, sich darauf zu konzentrieren, was er bis jetzt getan hatte, und suchte nach einem Loch in seinem fadenscheinigen Verteidigungsplan. Als Pareja seine Befehle übersetzte, hatte er die Gesichter sowohl der Mannschaft als auch der Passagiere genau beobachtet. Für sie war jeder Plan besser, als hilflos dazustehen wie Schafe, die auf den Schlächter warten. Aber jetzt, als sie sich geduckt im Schiff zusammendrängten und diesem gleichmäßigen, selbstsicheren Trommelschlag lauschten, mochte sich ihr erster Hoffnungsschimmer bald in Panik verwandeln. Wenn sie nur mehr Zeit gehabt hätten! Aber nach der Breitseite der Euryalus war die Navarra in einem so traurigen Zustand, daß schnelle Reparatur nicht möglich war. Das Schiff lag zu tief im Wasser, und selbst wenn Wind aufkam, würde sie ohne Besan nur schlecht segeln. Sie hatten die Kampanje-Geschütze über Bord werfen müssen, um das Achterschiff zu entlasten, das am meisten abbekommen hatte. Der Gedanke, daß diese Geschütze gerade jetzt, da sie am nötigsten gebraucht wurden, auf dem Meeresgrund lagen, war nicht eben ermutigend.

In der Heckkajüte waren Meheux und seine Männer fieberhaft an der Arbeit, um ihren Anteil an dem Plan zu erfüllen. Die Navarra besaß zwei starke Heckgeschütze; eins davon war jedoch durch eine Kugel der Euryalus zerschmettert worden. Aber das andere war von seinem ungünstigen Platz an Steuerbord verholt worden und stand jetzt mitten in der Kajüte, die Mündung auf das Fenster gerichtet. Fenster waren allerdings nicht mehr da. Meheux hatte alle Rahmen weggeschlagen, so daß die Kanone weites Schußfeld über die ganze Breite des Hecks hatte. McEwen überprüfte eben die hastig aufge-riggten Taljen, und die Matrosen stapelten eifrig Pulver und Kugeln am Kajütschott.

Meheux wischte sich das dampfende Gesicht und grinste mühsam.»Die müßte es schaffen, Sir. «Er schlug auf den runden Verschluß.»Ein englischer Zweiunddreißigpfünder. Möchte bloß wissen, wo dieses lausige Diebespack den her hat.»

Bolitho nickte und trat an die klaffende Fensteröffnung. Wenn er sich hinausbeugte, konnte er das vorderste Boot sehen; wie Gold schimmerten seine Ruder im Sonnenlicht. Die meisten Geschütze der Navarra waren alt und nutzten nicht viel. Sie waren eher für die Abschreckung irgendwelcher Amateurpiraten gedacht, als für den Kampf auf Leben und Tod. Die Navarra hatte sich, wie die meisten Kauffahrer auf allen Weltmeeren, mehr auf ihre Behendigkeit als auf ihre Kampfkraft verlassen. Aber diese Kanone hier — das war tatsächlich der einzige Fund von einigem Wert, ein ähnlicher Typ wie die Geschütze in der unteren Batterie der Euryalus und in den richtigen Händen eine vernichtende Waffe. Bei den Matrosen hatte sie den Spitznamen» Lange Neun«, weil ihr Rohr neun Fuß lang war. Sie war auf anderthalb Meilen noch ziemlich treffsicher, und dann durchschlug die Kugel noch drei Fuß dicke Eichenplanken. Treffsicherheit war im Moment wichtiger als alles andere.

Bolitho wandte der See den Rücken zu und sagte:»Wir feuern, sobald wir die erste Schebecke direkt vor dem Rohr haben.»

McEwen, der auf der Euryalus Geschützführer war, fragte:»Doppelte Ladung, Sir?»

Bolitho schüttelte den Kopf.»Nein. Das ist gut beim Kampf Schiff gegen Schiff, wenn man nichts Kleineres vor sich hat als eine Breitseite. Aber heute können wir uns nicht leisten, aufs Geratewohl zu schießen. «Er lächelte in ihre glänzenden, fettverschmierten Gesichter.

«Also zielt sorgfältig, jede Kugel muß sitzen.»

Er nahm Meheux beiseite und gab ihm mit gedämpfter Stimme Instruktionen.»Ich glaube, sie werden vorn und achtern gleichzeitig angreifen. Auf diese Weise teilen sie unsere Verteidigungskraft und bekommen gleichzeitig eine Idee davon, wie stark wir sind.»

Der Leutnant nickte.»Ich wünschte, wir hätten dieses verdammte Schiff nie gesehen, Sir«, knurrte er und grinste dabei entschuldigend.»Oder wir hätten sie wenigstens mit einer vollen Breitseite auf den Grund geschickt.»

Bolitho mußte lächeln, denn dabei fielen ihm Witrands Worte ein: >Es wäre besser für uns beide gewesen, wenn wir uns nie getroffen hätten.< Nun, für Bedauern war es jetzt zu spät.

Er blieb im Türrahmen stehen und musterte noch einmal die geschäftigen Matrosen, die trübselige Kajüte, der man so übel mitgespielt hatte.»Sollte ich fallen, Mr. Meheux — «, er sah die plötzliche Bestürzung in des Leutnants Augen und fuhr so gelassen wie möglich fort:»- dann kämpfen Sie unbedingt weiter. Dieser Gegner kennt keine Gnade, vergessen Sie das nicht!«Er zwang sich zu einem Lächeln.»Sie waren es ja, der gestern ein Seegefecht wollte. Jetzt haben Sie eins.»

Rasch ging er wieder in die Sonne hinaus, an dem unbemannten Ruder vorbei zu Grindle, der immer noch unentwegt auf seinem Posten stand und die näherkommenden Fahrzeuge beobachtete.

Auf beiden Seiten des Oberdecks standen die spanischen Matrosen an der Reling oder knieten bei ihren Geschützen, deren stärkste Zwölfpfünder waren. Hier und dort, wo Deckung vorhanden war, sah er auch Passagiere, die sich eilig mit Musketen aus dem Schiffsarsenal versehen hatten; andere trugen irgendwelche eige nen Jagdflinten, um auch etwas zur Verteidigung beizutragen.

Er verschloß sein Gehör dem fernen Trommelschlag und versuchte, sich darüber klarzuwerden, welche Feuerkraft das Schiff in den nächsten Minuten entwickeln konnte. Von den Backbordgeschützen waren mehrere völlig unbrauchbar, verbogen und zerschmettert von der Salve der Euryalus. Es hing sehr viel davon ab, was der Feind als erstes tun würde.

Die Pumpen arbeiteten noch durchaus gleichmäßig; hoffentlich hatte Pareja denen, die dort am Werke waren, klargemacht, wie lebenswichtig es war, den Wasserstand unter Kontrolle zu halten. Oder vielleicht würden sie auch beim ersten Schuß von den Pumpen weglaufen und der See den Sieg überlassen.

Unter den Passagieren befanden sich auch eine ganze Anzahl Bauersfrauen: zähe, sonnengebräunte Wesen, die gar nichts dagegen gehabt hatten, als er vorschlug, sie sollten mit an die Pumpen gehen. Denn, wie er versucht hatte zu erklären, jetzt gab es keine Passagiere mehr an Bord der Navarra — sie waren alle eine Schiffsmannschaft, von deren Entschlossenheit und Stärke das Überleben abhing.

«Die teilen sich, Sir«, rief Grindle.

Die beiden letzten Boote schwenkten bereits ab und ruderten parallel zu der treibenden Navarra. Sichelgleich schnitten ihre langen Schnäbel durchs Was ser, und zielstrebig hielten sie auf das Heck zu.

Bolitho überschaute das Oberdeck: dort stand Witrand, eine Pistole im Gürtel, eine zweite neben sich auf dem Lukendeckel. Neben ihm stand Ashton; das bleiche Gesicht verzerrt vor Entschlossenheit und Schmerzen, wartete er auf einen Befehl von der Kampanje.»Sie können ausrennen, Mr. Ashton!«rief Bolitho. Er biß sich auf die Lippen, als die Geschützrohre mit protestierendem Quietschen durch die offenen Pforten glitten. Jetzt waren die Lücken in der Verteidigung erst richtig zu sehen, besonders an Backbord und achtern, wo die Schäden am größten waren.

Er winkte Pareja, der wie hypnotisiert unter der Kampanjetreppe stand.»Sagen Sie ihnen, sie dürfen erst auf Befehl feuern. Kein Schuß aufs Geratewohl, und sie sollen keine Zeit und Kraft damit verschwenden, auf die leere See zu zielen!»

Er kniff die Augen vor der blendenden Sonne zusammen und beobachtete, wie zwei der elegant gebauten Boote langsam herankamen, als wollten sie am Bug der Navarra vorbei. Sie waren etwa zwei Kabellängen entfernt und schienen den passenden Moment abwarten zu wollen.

Achtern war es dasselbe: drei Boote nahmen in perfektem Gleichtakt Kurs auf das Achterschiff und blieben etwa auf gleicher Distanz.

Er hörte, wie Meheux kurz und knapp seine Befehle gab — ob er sich wohl zutraute, die Angreifer abzuwehren?

Er fuhr zusammen, denn jetzt stoppte eins der Boote und wendete langsam, so daß sich der Bootskörper vor seinen Augen zu verkürzen schien, bis es mit dem Bug direkt auf die Navarra zeigte. Dann erst begann sich die Reihe der Riemen wieder zu bewegen, doch in langsamerem Tempo; das Wasser schäumte vom Bug wie eine schlanke weiße Pfeilspitze.

Da — ein Wölkchen schwarzen Rauches am Bug und dann ein lautes Krachen. Das Wasser erzitterte unter der unsichtbaren Kugel, die nur ein paar Fuß über der Wasserfläche dahinfuhr und hart in die Bordwand der Navarra schlug, direkt unter der Stelle, wo Bolitho stand. Er hörte schrille Schreckensschreie aus dem Schiffsraum, ein kurzes Stocken der Pumpen; auf dem Vorschiff des Piraten vollführten die Männer Freudentänze.

Wieder ein Krach, diesmal von vorn; und etwa drei Kabellängen entfernt stieg eine schlanke Wassersäule hoch: die andere Schebecke hatte gefeuert und gefehlt. Aber nach dem fedrigen Schaum beim Einschlag konnte man das Kaliber recht gut schätzen.

Hilflos hockten die spanischen Matrosen an den Geschützpforten, starrten auf die höhnisch glitzernde See und spannten die Muskeln in Erwartung der nächsten Kugel.

Sie hatten nicht lange zu warten. Das Boot, das an Backbord am nächsten war, gab Feuer, und die Kugel schmetterte hart in die Kam-panje; Holzsplitter wirbelten über die See, und das ganze Deck erzitterte heftig.

«Ich gehe nach unten, Mr. Grindle!»

Meheux würde bestimmt nach seinen Befehlen handeln, dessen war er sicherer als seiner eigenen Fähigkeit, bei diesem gnadenlosen Beschuß, der so viel Schaden anrichtete, untätig zu bleiben. Doch so mußte er vorgehen, wenn ihnen auch nur ein Fetzen Hoffnung bleiben sollte.

Meheux lehnte am Geschütz; gespannt verfolgte er mit den Blicken das Führungsschiff, das leicht auf das Heck der Navarra zuglitt; es war noch etwa eine Kabellänge entfernt.

Das Buggeschütz der Schebecke spuckte wieder Rauch und Feuer, und Bolitho erstarrte, als das Geschoß unter ihm in den Heckbalken schlug — vermutlich nahe bei der bereits durch den Sturm havarierten

Stelle.

Mit zusammengebissenen Zähnen sagte Meheux:»Bei Gott, Sir, wir brechen auseinander, wenn das so weitergeht!»

Bolitho spähte über das Rohr. Die Muskeln der nackten Rücken der Männer an den Kanonen spannten sich krampfhaft — sie erwarteten wie Meheux, daß die nächste Kugel mitten zwischen ihnen einschlagen würde. Das Erzittern der Navarra nach der nächsten dumpfen Explosion verriet, daß ein schweres Geschoß direkt ins Vorschiff geschlagen war. Doch er konnte nicht an zwei Stellen zugleich sein. Und hier achtern war die lebenswichtigste und zugleich verwundbarste Stelle.

Der nächste Schuß von achtern ging durch eine leere Stückpforte in den Heckbalken; bei dem schmetternden Krachen im Schiffsrumpf knirschte Bolitho mit den Zähnen — schrille Schreie verrieten ihm, daß die Kugel diesmal nicht nur auf Holz getroffen hatte.

«Worauf wartet er denn noch, verdammt noch mal!«fluchte Me-heux.

Bolitho fiel auf, daß der Feind nicht nochmals gefeuert hatte, obwohl bisher die Intervalle zwischen den Schüssen kurz und regelmäßig gewesen waren. Gespannt beobachtete er; kaum wagte er zu hoffen, als die Schebecke plötzlich und zielstrebig das Heck der Navarra rundete. Sekundenlang marterte ihn der Gedanke, daß er es sich nur einbilde, daß es in Wirklichkeit die Navarra sei, die sich in einer unkontrollierbaren Strömung bewegte.

Atemlos stieß Meheux hervor:»Jetzt will er uns den Todesstoß versetzen, Sir!«Er warf einen raschen bewundernden Blick zu Bolitho hinüber.»Bei Gott, er denkt, wir sind hier wehrlos!»

Grimmig nickte Bolitho. Der Führer der Schebecke hatte ausprobieren wollen, ob sich die Navarra wehren konnte. Angesichts der Beschädigungen und der zwei leergebliebenen Stückpforten im Heck mochte er sie wohl für hilflos halten.

«Also, Jungs!«sagte Meheux scharf, und die Männer am Geschütz wurden plötzlich lebendig.»Jetzt werden wir sehen!«Er duckte sich hinter den Verschluß, und seine Augen funkelten wie zwei geschliffene Kristalle, als er die schlanken Masten der Feinde, in gerader Linie hintereinander stehend, aufkommen sah.»Backbord-Bordwand!«Ungeduldig stampfte er auf, während die Männer sich in die Handspeichen warfen.»Gut!«Er schwitzte mächtig und mußte sich mit dem zerrissenen Ärmel die Stirn wischen.»Jawohl, Ziel erfaßt!»

McEwen trat zur Seite und holte die Reißleine langsam durch.»Fertig!«Meheux fluchte lästerlich, weil die Schebecke eine Sekunde lang aus der Reihe schor; aber sofort brachte die Trommel wieder Ordnung in die Ruderer.

In der plötzlichen Stille klang Bolithos Stimme wie ein Pistolenschuß.»Jetzt, Mr. Meheux!»

«Aye, Sir.»

Die Sekunden dehnten sich — geduckt, reglos wie eine Holzfigur hockte Meheux hinter dem Geschütz.

Und dann — so unvermittelt, daß Bolitho erschrak, obwohl er die ganze Zeit darauf gewartet hatte, sprang Meheux zur Seite und brüllte:»Feuer!»

In der Enge der Kajüte hallte der Abschuß wie ein Donnerschlag, hustend und keuchend taumelten die Männer im dicken Qualm, das Geschütz stieß in seinem Gestell zurück, wild erzitterten die Planken unter Bolithos Füßen, und einen Moment dachte er halb betäubt, es würde sich losreißen und ihn am Heckbalken zu Brei quetschen. Aber die Zurringe hielten, und als der wirbelnde Rauch aus dem Fenster gestoben war, hörte er Meheux' irres Brüllen:»Seht den Bastard! Seht doch bloß, Jungs!»

Bolitho drängte sich zum Fenster und starrte auf das vorderste Boot, das noch vor Sekunden ein Bild der Eleganz und Kampfgier gewesen war. Das schwere Geschoß mußte eine ganze Ruderbank der Länge nach umgepflügt haben; trotz des Qualms sah er, daß der schlanke Bootskörper umgeschlagen war, während die Ruderer auf der heil gebliebenen Längsbank mit wild fuchtelnden Riemen das Wasser peitschten und verzweifelt versuchten, das Boot wieder aufzurichten.

«Stopft das Zündloch! Ausputzen!«brüllte Meheux und rief fragend zu Bolitho hinüber:»Doppelladung diesmal, Sir?»

«Wenn's sehr schnell geht, Mr. Meheux. «Bolitho summten noch die Ohren von der Explosion, aber auch er spürte wie der Leutnant ein wildes, verzweifeltes Triumphgefühl in sich aufsteigen.»Und Schrapnell obendrein, wenn Sie welches haben!»

Den Matrosen, die so fieberhaft in der zerschossenen Kajüte hantierten, war die Kanone so vertraut wie jene, die sie täglich zu bedienen hatten. Vorbei war es jetzt mit dem entnervenden, hilflosen Hinnehmen des feindlichen Feuers auf dem schon schwer havarierten Schiff. Jetzt konnten sie endlich zurückschießen. Unter triumphierendem Gebrüll rammten sie die Ladung fest, von McEwen aufmerksam kontrolliert, der ein viel zu erfahrener Stückmeister war, als daß er irgendeine Nachlässigkeit hätte durchgehen lassen. Er betastete sogar jede Kugel sorgfältig, ehe er sie laden ließ, um sicher zu sein, daß sie so vollkommen rund war, wie man es auf einem spanischen Schiff nur erhoffen konnte.

Schwerfällig drehte sich die angeschlagene Schebecke nach Steuerbord. Bolitho bemühte sich, sie im Auge zu behalten und nicht den Matrosen zuzusehen, die sich fieberhaft anstrengten, mit dem Laden fertig zu werden, ehe sie außer Sicht kam. Doch die» Lange Neun «brauchte normalerweise fünfzehn Mann Bedienung, und Meheux hatte nur knapp die Hälfte.

«Ausrennen!«Er hatte es in zwei Minuten geschafft.

Die anderen beiden Schebecken fuhren jetzt entgegengesetzte Bogen, weg von der plötzlich so wehrhaften Navarra. Eine feuerte; aber die Kugel mußte weit vorbeigegangen sein; der Einschlag im Wasser war nicht einmal zu sehen.

Heiser schrie Meheux:»Andere Bordwand!«sprang zur Seite und versuchte mit zusammengekniffenen Augen, das Tempo des Gegners abzuschätzen.

Bolitho hörte oben an Deck Krachen und Schreien.»Ich muß hinauf!«rief er. Meheux hörte ihn nicht.»Mehr nach links! Noch mehr!«Er packte eine Handspeiche und warf auch noch sein eigenes Körpergewicht mit in den Kampf. Dabei spähte er über den Verschluß am Rohr entlang. Bolitho riß sich los und eilte auf die Kampanje.

Er war kaum draußen in der Sonne, als Meheux Feuer gab. Bolitho rannte nach Steuerbord hinüber: die Doppelladung schmetterte in den Rumpf der Schebecke; fasziniert sah er zu, wie das Deck steil abkippte und die Ruderer sich in dichtem Pulk zusammendrängten wie Schafe, die verschreckt einen steilen Abhang hinaufrasten. Die beiden schweren Kugeln mußten den Rumpf dicht unter der Wasserlinie durchschlagen haben. Bei dem starken Druck der Riemen mußte sich das katastrophal auswirken. Denn jetzt begann das Boot zu sinken; die wimmelnden Gestalten sprangen teils über das Dollbord, teils rannten sie in wilder Panik zum Heck. Keine der anderen Schebecken machte einen Versuch, näher zu kommen und die Schwimmenden zu retten oder den Angriff fortzusetzen; wahrscheinlich befand sich der Anführer in dem zerschossenen Boot.

Grindle zupfte ihn am Arm.»Ein Boot wendet, Sir! Hält direkt auf unseren Bug zu!»

Bolitho starrte nach vorn und sah die schlanken Masten in voller Fahrt auf die Navarra zukommen; die aufgegeiten Segel schienen nur noch ein paar Fuß von ihrem Klüverbaum entfernt zu sein. Im allerletzten Moment wechselte die Schebecke den Kurs und streifte zielbewußt fest den Backbordbug der Navarra; die Ruder flogen hoch und ins Boot wie die Schwingen eines riesigen Seeadlers, der zum tödlichen Angriff niederstößt.

«Backbordbatterie — Feuer!«brüllte Bolitho. Stolpernd rannte Ash-ton die Reihe der Geschütze entlang; eins nach dem anderen fuhr im Rückstoß binnenbords, der Rauch wirbelte zum Feind hinüber, aber die Kugeln richteten wenig Schaden an, außer daß sie den Fockmast fällten wie die Axt einen jungen Baum.

Bolitho fühlte das knirschende Vibrieren, sah Schrapnell über den Decksgang fliegen und riß seinen Degen heraus.

«Sie entern! Schlagt sie zurück!«Witrand hatte bereits die Pistole herausgerissen und stieß einige der wie gelähmt dahstehenden spanischen Matrosen zum Decksgang hin.

«Mr. Ashton! Die Drehbasse!«schrie Bolitho. Über das Deck kam Allday herangestürzt, im trüben rauchigen Licht funkelte bereits der blanke Entersäbel in seiner Faust.

«Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie sollen bei Mr. Ashton bleiben!«rief er ärgerlich — aber er wußte, es war nutzlos; nie würde Allday beim Kampf anderswo als an seiner Seite sein, da konnte er sagen, was er wollte.

Schon tauchten über der Reling, die nicht durch Enternetze, sondern nur durch die Decksgänge gesichert war, braune Köpfe auf. Die Matrosen hieben und hackten mit Piken und Entersäbeln nach ihnen. Ohrenzerreißendes Kampfgeschrei — und immer mehr dunkelhäutige Krieger zogen sich an der Schiffswand hoch. Schon tauchten sie beim Vorderkastell auf; da aber spuckte die Drehbasse Feuer und Eisen, und sie verschwanden wie Papierschnitzel im Wind.

«Aufpassen, Captain! Von hinten!«Allday schwang den Säbel und hieb ihn einem Piraten über den Turban, hackte ihm den Unterkiefer weg, ehe der Mann einen Schrei herausbrachte.

Bolitho sah, wie ein bärtiger Riese mit einem Schwung seines Enterbeils zwei spanische Matrosen niederhieb und dann zu einem der Niedergänge raste. Er dachte an die Frauen und Kinder, die hilflosen Verwundeten unter Deck — jeder Hoffnungsfunken mußte sich in panischen Schrecken verwandeln, wenn dieser Kerl da unten eindrang. Ehe Allday dazwischentreten konnte, war er am Luk, stützte einen Fuß gegen das Süll, da war der Pirat auch schon heran, kam rutschend zum Halten und riß das Beil hoch, das noch vom Blut der Niedergehauenen troff.

Das Beil setzte zum Hieb an, Bolitho sprang zur Seite, sein Degen fuhr unter dem muskulösen Arm des Piraten hindurch und knirschend zwischen die Rippen in den Brustkorb, so daß es den zähnebleckenden Kerl herumriß. Aber brüllend wie ein verwundetes Raubtier stürzte er sich auf Bolitho; die messerscharfe Schneide des Beiles beschrieb einen silbrigen Bogen, und Bolitho mußte gegen die Kampanje zurückweichen. Ein Matrose brach mit gefällter Pike vor, aber der Riese hieb sie zur Seite und führte einen wohlgezielten Schlag nach des Mannes Nacken, der wild um sich schlagend, mit fast vom Rumpf getrenntem Kopf, auf die Planken stürzte.

Bolitho wußte: ließ er sich gegen die Kampanje drücken, würde ihn der Pirat genauso niederhauen. Er riß sich zusammen, und als der Kerl die Axt hoch über den Kopf schwang — die tiefe Stichwunde schien er gar nicht zu spüren — , fiel er mit dem Degen aus, die Spitze direkt auf die vom Bart bedeckte Kehle gerichtet. Aber seine Schuhsohle rutschte in einer Blutlache aus, er verlor das Gleichgewicht, stürzte schwer gegen eine Kanone, klirrend entfiel der Degen seiner Hand und lag außer Reichweite auf den Planken.

In diesem Sekundenbruchteil sah er die ganze Szene wie ein einziges großes Gemälde vor sich, die verzerrten Gesichter so deutlich, wie sie der Maler vor sich sieht: Allday, zu weit weg, um ihm helfen zu können, im Gefecht mit einem Piraten. Grindle und ein paar Matrosen im verzweifelten Handgemenge auf dem Decksgang; blitzende, klirrende Säbel, in Wut und Schrecken aufgerissene Augen.

Und den Mann mit dem Beil sah er ebenfalls, der hochgereckt auf seinen nackten Zehen stand, als wolle er zum Hieb Maß nehmen. Der Kerl grinste tatsächlich; offenbar genoß er diesen Moment.

Den Schuß konnte Bolitho in dem furchtbaren Getöse nicht hören, aber er sah, wie sein Angreifer vorwärts taumelte, auf einmal nicht mehr Inbegriff der Mordlust, sondern des tiefen Erstaunens — dann verzerrte sich das Gesicht im Todeskampf, und er stürzte schwer zu Bolithos Füßen hin.

Witrands Pistole rauchte noch über seinem linken Unterarm; er ließ sie sinken und schrie:»Sind Sie verletzt, capitaine?».

Bolitho tastete nach seinem Degen, stand auf und schüttelte den Kopf.»Nein — aber danke!«Er grinste.»Ich glaube, dieses Gefecht gewinnen wir. «Richtig. Schon zogen sich die Enterer auf den Decksgängen zurück und ließen ihre Toten und Verwundeten liegen, die bei dem noch hin- und herwogenden Rückzugsgefecht unter die Füße der Kämpfenden gerieten.

Bolitho war an ein paar schreienden Spaniern vorbeigerannt und stand neben Allday. Sein Degen parierte einen Skimitar[25] und riß All-days Gegner eine lange, rotklaffende Schulterwunde. Allday sah den Mann zur Seite taumeln und hieb ihn mit dem schweren Entersäbel nieder:»Damit du schneller zur Hölle fährst, du Hund!»

Bolitho wischte sich das schweißtriefende Gesicht und blickte in das längsseit liegende Boot. Es hatte bereits abgestoßen und kam von der Bordwand klar, ein paar Enterer konnten eben noch hineinspringen. Unter dem schmalen Deck hockten die Ruderer und versuchten verzweifelt, ihre Riemen von der Bordwand der Navarra freizubekommen.

Von unten knallten Musketenschüsse; dicht neben seiner Hand streifte eine Kugel das Schanzkleid, und er sah, wie ein Mann im roten Gewand auf ihn deutete, um einige Scharfschützen auf dem schmalen Achterdeck aufmerksam zu machen.

Aber die Riemen kamen in Gang, Trommelschlag übertönte das Triumphgeschrei der spanischen Matrosen, die Schmerzensschreie der Verwundeten und die Hilferufe der im Wasser paddelnden Piraten. Langsam löste sich die Schebecke von der Bordwand.

Wie Bolitho sah, lagen die anderen Fahrzeuge über eine Meile entfernt; sie mußten sich während des Kampfes absichtlich außer Schußweite gehalten haben.

Jetzt fiel ihm Meheux in der Kajüte wieder ein; heiser rief er:»Ich muß ihm sagen, daß er noch mal feuert!»

Er rannte nach achtern und stürzte beinahe über einen Toten, dessen gebrochene Augen zu den leblosen Segeln aufstarrten — die Rechte umklammerte noch den blutverschmierten Entersäbel. Es war Steuermannsmaat Grindle; seine wehenden grauen Haarsträhnen sahen aus, als wollten sie irgendwie ohne ihn leben bleiben.

«Schaffen Sie ihn weg, Allday«, sagte Bolitho.

Allday stieß den Entersäbel in die Scheide und sah Bolitho nach. Müde sprach er zu dem Toten:»Du warst zu alt für so was, mein Freund. «Dann zog er ihn sorgfältig in den Schatten des Schanzkleids. Eine schmierige Blutspur blieb auf den Planken zurück.

Meheux konnte noch einen Treffer anbringen, ehe der Feind durch Ruderkraft außer Schußweite gelangte. Die Schebecke, die so tollkühn die Navarra geentert hatte, lag fast drei Kabellängen achteraus, ehe Meheux schußfertig war. Die Kugel schmetterte ins Heck des Bootes, kappte den kleinen Lateinerbesan, pflügte durch den geschnitzten Heckaufbau und fuhr dann mit einer Schaumfontäne ins Meer.

Das Führerboot war gesunken; nur Treibgut und ein paar Leichen kennzeichneten die Stelle. Der Rest der Flottille machte sich nach Süden davon, so schnell die Ruder sie nur vorwärtstreiben konnten, während die blutenden, noch halb betäubten Verteidiger ihnen nachstarren und kaum fassen konnten, daß sie noch am Leben waren.

Mit schweren Schritten ging Bolitho wieder auf die Kampanje. In seinem rechten Arm pulsierte das Blut, als hätte er eine Wunde davongetragen.

Die spanischen Matrosen warfen bereits die toten Piraten über Bord, die längsseit noch eine kurze Zeit wie in einem makabren Totentanz auf- und abdümpelten und dann wie weggeworfene Stoffpuppen abtrieben. Gefangene gab es nicht, denn die wutentbrannten Spanier waren nicht in der Stimmung gewesen, Pardon zu geben.

«Heute werden sie nicht mehr angreifen«, sagte Bolitho zu Meheux.»Wir wollen daher lieber die Verwundeten unter Deck schaffen. Dann will ich die Schäden am Schiffsrumpf inspizieren, ehe es dunkel wird.»

Er sah sich um und versuchte, den Katzenjammer nach der Schlacht zu überwinden.»Wo ist Pareja?»

«Er hat eine Musketenkugel in die Brust bekommen, Captain«, rief Allday herüber.»Ich habe noch versucht, ihn davon abzuhalten, daß er an Deck blieb und sich unnütz in Gefahr brachte. Aber er sagte, Sie würden von ihm erwarten, daß er mithilft. Und das tat er auch. Komischer kleiner Kerl«, schloß er mit einem Seufzer und einem trüben Lächeln.

«Ist er tot?«Bolitho dachte an Parejas Eifer, die rührende Nachgiebigkeit seiner Frau gegenüber.

«Wenn nicht, Captain, wird er's bald sein. «Allday fuhr sich mit den Fingern durchs Haar.»Ich hab ihn mit den anderen Verwundeten nach unten bringen lassen.»

Über das blutbespritzte Deck kam Witrand und fragte:»Diese Piraten — kommen sie noch mal, capitaine?«Er sah sich unter den Hinkenden, Verwundeten, zu Tode Erschöpften um.»Und was dann?»

«Dann kämpfen wir eben noch mal, monsieur.»

Witrand blickte ihn nachdenklich an.»Sie haben dieses halbe Wrack gerettet, capitaine. Es freut mich, daß ich das mit angesehen habe. «Er schob skeptisch die Lippen vor.»Und morgen — eh bien, wer weiß? Was für ein Schiff mag wohl kommen und uns finden?»

Bolitho, schwankend vor Erschöpfung, erwiderte gepreßt:»Wenn eine Ihrer Fregatten auf uns stößt, monsieur, werde ich das Schiff übergeben. Es wäre sinnlos, diese Menschen noch mehr leiden zu lassen. Aber bis dahin, monsieur, ist es mein Schiff, unter meiner Flagge!»

Kopfschüttelnd sah Witrand ihm nach. »Stupefiant«, murmelte er nur.

Unter den niederen Decksbalken zog Bolitho den Kopf ein und musterte nachdenklich die Reihe der Verwundeten. Die meisten lagen ganz still, doch als das Schiff unbeholfen zu gieren anfing und die Laternen an den Decksbalken kreisten, schien es, als wänden sich die Hingestreckten in Qualen und verfluchten ihn stumm als Urheber ihrer Schmerzen.

Die Luft stank nach Blut, verschmortem Öl, Bilgewasser und Erbrochenem, und er mußte sich zusammennehmen, um weiter nach vorn zu gehen. Allday schritt mit einer Laterne vor ihm her, deren Schein immer einige Gesichter anleuchtete und sie dann im Weiterschreiten in der Finsternis zurückließ, die ihre Schmerzen, ihre Verzweiflung gnädig verbarg.

Wie oft schon hatte er dergleichen gesehen. Weinende, um Vergebung ihrer Sünden betende Männer. Männer, die um die Versicherung bettelten, daß sie vielleicht doch noch nicht sterben mußten. Hier waren Sprache und Tonfall anders, aber sonst war es genauso. Er erinnerte sich, wie er als verängstigter Midshipman auf dem AchtzigKanonen-Linienschiff Manxman zum ersten Mal in seinem Leben Männer fallen, sterben und sich nach der Schlacht in Qualen winden gesehen hatte. Er war beschämt gewesen, hatte sich vor sich selbst geekelt, weil er nichts empfinden konnte als überwältigende Freude und Erleichterung, daß er noch lebte und unverwundet war und ihm die Folter unter Messer und Säge des Schiffsarztes erspart blieb.

Aber nie hatte er seine Gefühle ganz unterdrücken können. Jetzt zum Beispiel empfand er Mitleid und Hilflosigkeit, etwas, das er ebensowenig bezwingen konnte wie seine Höhenangst.

«Da liegt er, Captain«, hörte er Alldays Stimme wie von fern,»da beim Lampenraum.»

Er trat hinter Allday über zwei flache, mit Leinwandfetzen belegte Stufen. Im Schein der kreisenden Laternen hörte er Stöhnen, Keuchen und leise, tröstende Frauenstimmen. Als er einmal kurz den Kopf wandte, sah er ein paar spanische Bäuerinnen, die sich von der schweren Arbeit an den Pumpen ausruhten. Sie waren nackt bis zur Taille; Brüste und Arme glänzten vor Schweiß und Bilgewasser; die verfilzten Haare hingen ihnen in die von Anstrengung gezeichneten Gesichter. Sie dachten gar nicht daran, ihre Blöße zu bedecken, und schlugen auch nicht die Augen nieder, als er vorbeiging; eine schenkte ihm sogar ein müdes Lächeln.

Bolitho blieb stehen und kniete dann bei Luis Pareja nieder. Man hatte ihm seinen eleganten Anzug ausgezogen, und er lag unter den leise schwankenden Laternen wie ein dickes Kind; doch seine Augen waren reglose, dunkle, schmerzerfüllte Löcher. Der breite Verband um seine Brust war blutdurchtränkt; in der Mitte glomm ein runder hellerer Fleck im dämmerigen Licht wie ein rötliches Auge; und mit jedem Atemzug floß sein Leben dahin.

Leise sagte Bolitho zu ihm:»Ich bin zu Ihnen gekommen, so schnell ich konnte, Senor Pareja.»

Langsam wandte sich das runde Gesicht ihm zu, und er sah, daß Pa-rejas Kopf nicht, wie er erst gedacht hatte, auf einem Kissen lag, sondern auf einer blutverschmierten Schürze, und diese bedeckte die Knie einer Frau — Parejas Frau, wie er sah, als die Laterne etwas höher schwang. Ihre dunklen Augen ruhten nicht auf ihrem sterbenden Gatten, sondern starrten unbewegt in die Dunkelheit. Das Haar hing ihr lose und ungeordnet über Gesicht und Schultern, doch atmete sie ganz regelmäßig, als sei sie völlig unbewegt; aber vielleicht war sie auch nur betäubt von dem Schrecklichen, das sie durchgemacht hatte.

Undeutlich begann Pareja zu sprechen:»Sie haben alle diese Menschen gerettet, Captain. Vor den mörderischen Sarazenen. «Er versuchte, die Hand seiner Frau zu ergreifen, aber er hatte nicht mehr die Kraft dazu, und seine Hand fiel auf das blutgetränkte Laken wie ein toter Vogel.»Meine Catherine ist jetzt in Sicherheit. Sie werden dafür sorgen. «Bolitho war zu keiner Antwort fähig, und Pareja stützte sich mühsam auf einen Ellbogen; er sprach auf einmal wieder ganz klar.

«Sie werden dafür sorgen, Captain? Sie geben mir Ihr Wort — ja?»

Bolitho neigte langsam den Kopf.»Sie haben mein Wort, Senor.»

Er blickte ihr kurz in das überschattete Gesicht. Catherine hieß sie also; aber sie kam ihm so fern und unwirklich vor wie je. Als Pareja ihren Namen genannt hatte, dachte Bolitho, sie würde sich etwas lokkern, würde ihre reservierte, hochmütige Pose aufgeben. Doch sie starrte unbewegt an der Laterne vorbei ins Dunkel, nur ihr Mund glänzte matt im rauchigen Licht.

Ashton stolperte durch das Halbdunkel heran.»Entschuldigung, Sir«, sagte er,»aber wir haben die betrunkenen Matrosen endlich wachgekriegt. Soll ich sie draußen zum Rapport antreten lassen?»

«Nein«, erwiderte Bolitho kurz.»Stellen Sie sie an die Pumpen. «Es klang so rauh und böse, daß der Midshipman zurückwich.»Wenn die Weiber sie sehen«, fuhr Bolitho im gleichen Ton fort,»um so besser. Zum Kämpfen haben sie nicht getaugt; so können sie wenigstens an den Pumpen arbeiten — von mir aus, bis sie umfallen!»

Hinter seinem Rücken warf Allday dem Midshipman einen raschen warnenden Blick zu, und ohne ein weiteres Wort eilte der Knabe hinweg.

Zu Pareja sagte Bolitho:»Ohne Ihre Hilfe hätte ich nichts ausrichten können.»

Dann blickte er auf, denn seine Frau sagte tonlos:»Sparen Sie sich Ihre Worte, Captain. Er hat uns verlassen. «Sie streckte die Hand aus und drückte ihrem Gatten die Augen zu.

Die Kerzenflamme in Alldays Laterne flackerte und stand schief gegen das Glas; Bolitho spürte unter seinen Knien, daß das Schiff plötzlich krängte, und dann hörte er an Deck das Klappern der Blöcke und des losen Geschirrs, als erwache die Navarra aus dem Schlaf.

«Wind, Captain«, flüsterte Allday,»endlich Wind!»

Aber Bolitho blieb neben dem Toten. Er versuchte, die rechten Worte zu finden, und wußte doch, daß es sie nicht gab. Niemals.

Schließlich sagte er halblaut:»Senora Pareja, wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann, dann sagen Sie es mir bitte. Ihr Gatte war ein tapferer Mann. Sehr tapfer sogar. «Er hielt inne und vernahm Meheux' Stimme, der auf der Kampanje seine Befehle brüllte. Es gab viel zu tun. Segel mußten gesetzt, ein Kurs mußte abgesteckt werden, damit das Schiff, wenn irgend möglich, wieder zum Geschwader stieß. Er sah auf ihre Hände, die neben Parejas stillem Antlitz in ihrem Schoß ruhten.»Ich schicke Ihnen jemanden zu Hilfe, sobald ich wieder an Deck bin.»

Ihre Stimme klang, als käme sie aus weiter Ferne.»Sie können mir nicht helfen. Mein Mann ist tot, und ich bin wieder eine Fremde in seinem Land. Ich besitze nichts als das, was ich auf dem Leibe trage, und ein paar Schmuckstücke. Nicht viel für das, was ich gelitten habe. «Sanft hob sie Parejas Kopf von ihrem Schoß und ließ ihn auf den Planken ruhen.»Und das verdanke ich Ihnen, Captain. «Sie blickte auf; ihre Augen glitzerten im Laternenschein.»Also gehen Sie, tun Sie weiter Ihre Pflicht und lassen Sie mich in Ruhe!»

Wortlos stand Bolitho auf und ging zur Kampanjeleiter. Draußen in der frischen Luft stand er minutenlang still, atmete tief und sah in den dunkelglühenden Sonnenuntergang.

«Hören Sie nicht auf sie, Captain«, sagte Allday.»Ihre Schuld war es nicht. Viele sind gefallen, und bis dieser Krieg aus ist, werden noch eine ganze Menge fallen. «Er verzog das Gesicht.»Sie hat Glück, daß sie noch lebt — wir alle haben Glück.»

Meheux kam nach achtern.»Kann ich die Dons anstellen, Sir? Ich dachte, wir setzen Bramsegel und die Fock, damit sie sich wieder steuern läßt. Wenn der Wind zu stark wird, können wir immer noch alles bis auf Klüver und Großbramsegel reffen. «Er rieb sich geräuschvoll die Hände.»Daß wir wieder Fahrt machen, ist ein reines Wunder!»

«Recht so, Mr. Meheux. «Bolitho trat an die Reling und blickte auf die ersten bleichen Sterne.»Wir werden auf Steuerbordbug gehen und Ostsüdost steuern. «Er warf einen Blick auf den Rudergast — fast dachte er, Grindle stände daneben und paßte auf.»Aber sowie Sie merken, daß der Druck zu stark wird, pfeifen Sie >Alle Mann< und reffen.»

Der Leutnant eilte davon, um die müden Matrosen aufzupurren, und Allday fragte:»Soll ich den Koch suchen gehen, Captain? Ich finde, eine warme Mahlzeit wirkt manchmal Wunder, wenn sonst nichts hilft.»

Er richtete sich starr auf, denn unten an Deck kam Witrand herbei.»Und der da — soll ich ihn in Eisen legen, wie er es verdient?»

«Der stellt nichts mehr an, Allday«, erwiderte Bolitho mit einem gelassenen Blick auf den Franzosen.»Solange hier noch Piraten auftauchen können, wird niemand etwas gegen uns unternehmen, denke ich. «Er wandte sich wieder Allday zu.»Ja, sagen Sie dem Koch Bescheid. «Allday ging zur Treppe, und Bolitho rief ihm nach:»Und ich danke Ihnen!»

Allday blieb stehen, einen Fuß in der Luft.»Captain?»

Bolitho sagte nichts weiter; Allday wartete noch einen Moment, stieg dann die Leiter hinunter und machte sich Gedanken über diese neue und seltsam beunruhigende Stimmung seines Kommandanten.

Um Mitternacht, als die Navarra langsam in die tiefe Finsternis hineinsegelte, stand Bolitho am Leedecksgang. Der kühle Wind spielte in seinem Haar. Die Bestattung der Gefallenen nahm ihren Fortgang. Ein Gebetbuch war nicht vorhanden, auch war kein spanischer Priester unter den Passagieren, der für die Gefallenen oder ihren Wunden Erlegenen einen Gottesdienst hätte abhalten können.

Auf eine Art, dachte er, war das tiefe Schweigen beeindruckender als Gebete. Auch gab es noch andere Laute: die See, die Segel, Wanten und Stage, das Knarren des Ruders. Ein passender Grabspruch für Männer, die vom Meer gelebt hatten, das sie jetzt für alle Ewigkeit aufnahm.

Grindle und Pareja waren zusammen bestattet worden, und Bolitho hatte gesehen, wie Ashton sich die Augen wischte, als der Steuermannsmaat über Bord ging.

«Das sind jetzt alle, Sir«, rief Meheux. Er rief es mit gedämpfter Stimme, und Bolitho war ihm dankbar dafür. Ohne daß er es ihm sagen mußte, hatte der Leutnant verstanden, daß die Gefallenen besser bei Nacht bestattet wurden, um es den am Leben Gebliebenen nicht noch schwerer zu machen. Es hatte absolut keinen Sinn, ihren Kummer zu vermehren; und morgen würde es weitere Tote geben, dessen war er sicher.

«Gut«, antwortete er,»ich schlage vor, wir trimmen den Großmast und lassen dann die Wache unter Deck gehen. Sie und ich gehen Wache um Wache; ich glaube nicht, daß uns jemand dieses zweifelhafte Privileg streitig machen wird.»

«Ich bin stolz darauf, es mit Ihnen teilen zu dürfen, Sir«, sagte Me-heux nur.

Bolitho wandte sich um und ging das schiefe Deck hinunter bis zur

Heckreling. Der westliche Horizont war schon ganz finster, und selbst das lebhafte Kielwasser des Schiffes war kaum zu erkennen.

Unter seinen Füßen, in der ausgebrannten Achterkajüte, konnte er das leise Pfeifen McEwens hören, der sich mit seinem Zweiund-dreißigpfünder beschäftigte. Merkwürdig, wie sicher sich alle fühlten. Wie geborgen.

Er wandte den Kopf: die spanischen Matrosen waren mit dem Trimmen des Großmastes fertig und sicherten geräuschvoll die Brassen an den Belegnägeln. Sogar sie — die mit dem Federstrich irgendeines Politikers oder Monarchen seine Feinde geworden waren — schienen unter seinem Kommando ganz zufrieden zu sein.

Er lächelte müde über seine grotesk schweifenden Gedanken und begann, langsam auf und ab zu gehen. Einmal, als sein Auge auf den nächstliegenden Niedergang fiel, mußte er wieder an den bärtigen Riesen mit dem Enterbeil denken — was wäre wohl geschehen, wenn Witrand nicht so schnell geschossen hätte? Mit der zweiten Pistole hätte er ebenso schnell ihn selbst erledigen können. In dem grimmigen Scharmützel hätte kein Mensch den zweiten Schuß bemerkt. Aber vielleicht fühlte sich sogar Witrand sicherer, wenn Bolitho am Leben blieb.

Er schüttelte sich ärgerlich. Diese absurden Gedanken kamen nur von seiner Müdigkeit. Morgen waren die Rollen vielleicht wieder vertauscht: er war wieder Gefangener, Witrand ging wieder seinen mysteriösen Geschäften nach, und alles war nur ein Zwischenspiel gewesen. Eine kleine Episode im Fluß des Ganzen.

Aber so mußte man den Krieg ansehen. Einen Feind durfte man nicht als Persönlichkeit betrachten; das war zu gefährlich. Ihn an den eigenen Hoffnungen und Ängsten teilnehmen zu lassen, war reiner Selbstmord.

Was hätte er selbst wohl unter ähnlichen Umständen getan? Darüber dachte er noch nach, als Meheux ihn ablösen kam.

Und so, unter der leichten Brise und den wenigen, aber gut ziehenden Segeln, setzte die Navarra ihre Reise fort. Die einzigen Geräusche kamen von den Pumpen, und gelegentlich stieß ein Verwundeter einen Schrei aus. Schlaflos lag Bolitho in seiner provisorischen Hängematte. Diese Laute faßten alles zusammen, was er und seine Männer miteinander erlebt und erreicht hatten.

Er rasierte sich eben vor einem zersprungenen, an ein zusammengebrochenes Bücherschapp gelehnten Spiegel, als Meheux hereinkam und meldete, ein Segel sei in Sicht — es läge beinahe direkt achteraus und käme sehr schnell auf.

Bolitho musterte sein zerrissenes, geschwärztes Hemd und zog es sich dann widerstrebend an. Vielleicht war das Rasieren reine Zeitverschwendung gewesen, aber er fühlte sich doch besser danach, wenn er auch immer noch wie eine Vogelscheuche aussah. Meheux starrte ihn wortlos und fasziniert an. Bolitho spürte direkt, wie seine Augen am Rasiermesser hingen, das er jetzt, nachdem er es an einem Tuchfetzen abgewischt hatte, in den Schottkasten warf, wo er es gefunden hatte.

Langsam sagte er:»Tja, Mr. Meheux, dagegen können wir diesmal nicht viel tun.»

Er nahm den Degen auf und schnallte ihn um; dann ging er hinter Meheux her hinaus. Es war früh am Morgen, die Luft war noch frisch, heiß werden würde es später. Die Wanten hingen voller Kleidungsstücke, meistens Frauenkleider, und Meheux murmelte entschuldigend:»Sie haben gebeten, waschen zu dürfen, Sir. Aber jetzt, da Sie an Deck sind, werde ich ihnen sagen, sie sollen das Zeug runternehmen.»

«Nein.»

Bolitho setzte das Teleskop ans Auge. Dann warf er es einem Matrosen zu und sagte:»Das Glas ist entzwei. Wir müssen abwarten.»

Er schritt zur Heckreling, beschattete die Augen gegen das grelle Sonnenlicht und spähte nach dem Schiff aus. Die schlanke, leuchtend weiße Segelpyramide über der Kimm sprach Bände. Er hörte Schritte an Deck und wandte sich um: da stand Witrand und beobachtete ihn.

«Sie sind Frühaufsteher, m'sieur.»

Witrand hob die Schultern.»Und Sie sind sehr ruhig, capitaine.«Er blickte über die Wasserfläche.»Obwohl es um Ihre Freiheit vielleicht bald geschehen ist.»

Bolitho lächelte.»Hören Sie, Witrand, was machen Sie eigentlich auf diesem Schiff? Wo wollten Sie hin?»

«Ich habe das Gedächtnis verloren«, grinste der Franzose.

Der Ausguck rief dazwischen:»Das ist 'ne Fregatte, Sir!»

Leise fragte Meheux:»Wie meinen Sie, Sir? Sollen wir Kurs ändern und ausreißen?«Aber als Bolitho auf das gereffte Marssegel und das tiefliegende Deck deutete, grinste er beschämt.»Sie haben recht, Sir. Das hätte wenig Sinn.»

Halblaut sagte Witrand:»Ich verstehe Ihre Gefühle, capitaine. Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein? Vielleicht mit einem Brief an Ihre Familie? Sonst könnte es Monate dauern…«Er blickte auf den Degen, dessen Griff Bolitho soeben umfaßte.»Ich könnte Ihren Degen nach England schicken. Besser als daß ihn irgendein Hafenhändler in die Klauen bekommt, eh?»

Bolitho wandte sich ab und beobachtete das Schiff, das jetzt so schnell zu der havarierten Navarra aufkam, daß er das Gefühl hatte, es wäre auf Kollisionskurs. Er konnte die vollen Mars- und Bramsegel unterscheiden und den hellen, züngelnden Wimpel im Masttopp. Mit voller Fahrt pflügte die Fregatte durch die tanzenden Wellen.

Eine braune Rauchwolke, die sofort im Wind verwehte, dann ein Krachen. Sekunden später sprang fünfzig Fuß vom Achterdeck entfernt eine schlanke Wassersäule hoch.

Gedämpfte Schreie tönten aus den offenen Luken, und Bolitho sagte finster:»Drehen Sie bei, Mr. Meheux. «Er sah zum Großmast hoch und fragte scharf:»Wo ist die Flagge?»

«Entschuldigung, Sir«, antwortete der Leutnant bedrückt,»mit der Flagge hatten wir Mr. Grindle zugedeckt, bis wir ihn bestatteten.»

«Ja. «Bolitho wandte sich ab, damit sie sein Gesicht nicht sehen sollten.»Aber hissen Sie sie jetzt, bitte.»

Meheux eilte hinweg, rief die Matrosen vom Decksgang und von den Webeleinen, von wo aus sie das fremde Schiff beobachteten. Minuten später ging die Navarra mit der flatternden, vor dem klaren Himmel gut sichtbaren Flagge in den Wind; die leeren Segel schlugen protestierend, und das Deck war auf einmal voller Menschen, die von unten heraufgeströmt kamen.

Bolitho balancierte die ungleichmäßigen Bewegungen der Navarra aus und trat wieder zu Witrand.»Ihr Angebot, m'sieur — war es ernst gemeint?«Er fingerte an seinem Koppel und fuhr mit niedergeschlagenen Augen fort:»Ich hätte da jemanden.»

Er brach ab und fuhr herum, denn ein tosendes Hurrageschrei hallte über das Wasser.

Die Fregatte halste und kam heran, und als sie zum Aufschießen in den Wind ging, sah er die Flagge am Besan. Es war die gleiche wie die der Navarra, und er mußte sich abwenden, um seine Bewegung zu verbergen.

Unter Freudensprüngen schrie Ashton:»Das ist die Coquette, Sir!»

Meheux grinste von einem Ohr zum anderen, schlug Allday auf die Schulter und brüllte:»Na also!«Und noch ein Schlag:»Na also!«Weiter brachte er nichts heraus.

Bolitho sah zu dem Franzosen hinüber.»Es wird nicht mehr nötig sein, m'sieur.«Die gelben Augen des Mannes waren starr. Er hatte verstanden.»Aber ich danke Ihnen«, schloß Bolitho.

Witrand starrte die Flagge an.»Anscheinend sind die Engländer wieder im Mittelmeer«, sagte er nur.

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