XIII Die zweite Chance

Vizeadmiral Broughton sah vom Schreibtisch auf und blickte Bolitho ärgerlich-überrascht entgegen.»Wir sind noch nicht ganz fertig, Bo-litho. «Er deutete auf Draffen, der an der Schottwand lehnte.»Sir Hugo ist eben dabei, mir etwas zu erklären.»

Doch Bolitho blieb entschlossen in der Mitte der Kajüte stehen, die irgendwie leer wirkte, da die wertvolleren Möbel und Einrichtungsgegenstände vor dem erfolglosen Angriff zur Sicherheit unter die Wasserlinie geschafft worden waren. Immerhin konnte Broughton zufrieden sein, denn ihm blieb das totale Durcheinander erspart, das bei Klarschiff in einem Dreidecker britischer Bauart geherrscht hätte. Dann wäre nämlich sein Quartier, wie alle Wohnräume im ganzen Schiff, vollkommen geleert worden und die sonst so geheiligte Kajüte von den Abgasen der dort stationierten Geschütze völlig verqualmt und verdreckt gewesen. Aber hier befand sich die nächste Kanone hinter der Schottenwand, so daß der Anblick dieser Kajüte, nach der spannungsgeladenen Atmosphäre an Deck, Bolithos Ärger über die Zurücksetzung noch verstärkte.

«Ich würde vorschlagen, daß wir rasch handeln, Sir«, erwiderte er.

Broughton hob die Hand.»Über die Dringlichkeit bin ich mir durchaus klar. «Doch er schien zu spüren, daß Bolitho sich ärgerte, und fuhr kühl fort:»Aber sprechen Sie nur, wenn Sie wünschen.»

«Sie haben das Kastell gesehen, Sir, und wissen, daß der Versuch, die Spanier von See aus zur Aufgabe zu zwingen, zwecklos ist. Der Einsatz von Schiffen gegen feste Küstenbatterien und Verteidigungsanlagen hat nach meiner Erfahrung noch nie Erfolg gehabt.»

Finster erwiderte Broughton:»Wenn Ihnen daran liegt, daß ich es zugebe: Sie waren von Anfang an gegen eine solche Aktion — bitte sehr. Da wir jedoch weder die Möglichkeit noch die Kampfkraft für eine kombinierte Operation, noch die Zeit haben, die Garnison auszuhungern, sehe ich keine Alternative.»

Bolitho atmete langsam aus.»Nur durch sein Kastell wird Djafou zu einem Dorn im Fleisch jeder in diesen Gewässern operierenden Seemacht, Sir.»

«Aber Bolitho, das ist doch einigermaßen selbstverständlich«, warf Draffen ein.

«Meiner Ansicht nach«, erwiderte Bolitho und sah ihn fest an,»müßte das in erster Linie für den selbstverständlich gewesen sein, der diesen Plan entworfen hat, Sir Hugo. «Er wandte sich wieder dem

Admiral zu.»Ohne das Kastell ist diese Bucht wertlos, Sir. «Er hielt inne und beobachtete Broughtons Augen.»Und mit dem Kastell ist diese Bucht für uns genauso wertlos.»

«Was?«Broughton richtete sich steil im Sessel hoch, als hätte ihn etwas gestochen.»Das müssen Sir mir erst erklären!»

«Wenn wir das Fort tatsächlich nehmen, dann werden wir größte Schwierigkeiten haben, es als Operationsbasis zu halten, Sir. Früher oder später wird der Feind, speziell die französische Armee, irgendwo an der Küste Artillerie landen, und dann können unsere Schiffe den Ankerplatz nicht halten. Somit wären wir in derselben Situation wie die jetzigen Verteidiger: in diesen Steinkasten eingeschlossen und zu nichts anderem fähig, als andere Schiffe daran zu hindern, in dieser Bucht aus irgendwelchen Gründen Zuflucht zu suchen.»

Broughton stand auf und ging langsam zum Fenster.»Sie haben immer noch keine Alternative genannt. «Aber es klang nicht mehr so aggressiv.

Langsam sagte Bolitho:»Sie lautet: Nach Gibraltar zurückzusegeln. Dem Oberkommandierenden zu berichten, wie die Dinge wirklich liegen. Dann gibt er Ihnen bestimmt genügend Schiffe und Seesoldaten für einen zweiten Versuch, eine Basis zu erobern. «Er dachte, Broughton würde ihn anfahren, aber da das nicht der Fall war, sprach er mit fester Stimme weiter:»Eine günstiger gelegene Basis, von der aus unsere Flotte später in weiterem Umkreis operieren kann. Weiter nach Osten zu, wo wir noch Freunde haben, die bereit wären, sich gegen ihre neuen Unterdrücker zu erheben, wenn wir ihnen ausreichend helfen und sie ermutigen.»

«Djafou nützt uns nichts, wollen Sie sagen?«Darüber konnte Broughton anscheinend nicht hinwegkommen.

«Jawohl. Ich bin ganz sicher, daß die maßgebenden Männer in der Admiralität niemals auf diesen Vorschlag eingegangen wären, wenn sie über die tatsächlichen Verhältnisse genau Bescheid gewußt hätten.»

«Falls Sie das nicht wußten, Bolitho«, sagte Draffen scharf,»der Vorschlag kam von mir.»

Bolitho musterte ihn gelassen. Nach all der Unsicherheit und den fehlenden Stücken in diesem Puzzlespiel kam jetzt wenigstens etwas ans Licht. Er entgegnete:»Dann sollten Sie lieber zugeben, daß dieser Vorschlag falsch war, Sir. «Stahlhart klang seine Stimme.»Ehe noch mehr von unseren Leuten dafür geopfert werden.»

Broughton fuhr dazwischen.»Sachte, Bolitho! Ich gestatte keine kleinlichen Streitereien unter meiner Flagge, verdammt noch mal!»

«Dann lassen Sie mich nur noch eins sagen, Sir. «Bolitho sprach ganz ruhig, obwohl er innerlich vor Zorn und Verzweiflung kochte.»Wenn Sie nicht das Geschwader so plazieren, daß wir mehr Seeraum zum Kämpfen haben, dann geraten Sie unter Umständen auf Legerwall.[30] Bei dem herrschenden Nordwest und ohne genug Raum, den Windvorteil wiederzugewinnen, sind Sie ernstlich gefährdet, wenn ein Feind hier auftaucht. Auf offener See können wir ihm immer eine blutige Nase verpassen, ganz gleich, wie das Kräfteverhältnis ist.»

Broughton erwiderte:»Sir Hugo hat bereits einen zweiten Plan vorgeschlagen.»

Draffen stieß sich von der Schottwand ab. Er lächelte, aber seine Augen waren eiskalt.»Sie sind zu lange auf den Beinen, Bolitho. Schade, daß mir das nicht früher aufgefallen ist. Ich habe da eine Idee, zwar vorerst nur ganz allgemeiner Natur, doch ich bin sicher, daß ich die Hilfe beschaffen kann, die wir so verzweifelt nötig brauchen.»

«Sir Hugo kann mit seinem Agenten, wie es scheint, irgendwo an der Küste Kontakt aufnehmen«, erläuterte Broughton müde.

«Genau. «Draffen wurde langsam lockerer.»Ich habe mit einem mächtigen Scheich geschäftlich zu tun gehabt. Dabei habe ich sogar persönlich mit ihm verhandelt. Habib Messadi hat an diesem Küstenstrich großen Einfluß und liebt die spanischen Invasoren gar nicht.»

Gelassen erwiderte Bolitho:»Aber wenn die spanische Garnison vertrieben wird, dann sind wir die Invasoren. Wo ist da der Unterschied für ihn?»

«Herrgott im Himmel, Bolitho«, fuhr Broughton ärgerlich dazwischen,»Ihnen kann man anscheinend überhaupt nichts recht machen!»

Bolitho behielt Draffen im Auge.»Dieser Messadi ist, nehme ich an, eine Art Räuberhauptmann; sonst könnte er doch an so einer Küste nicht so viel Macht haben?»

Draffens Lächeln schwand.»Er ist nicht der Mann, den ich in Westminster Abbey frei herumlaufen lassen würde, das muß ich zugeben«, entgegnete er achselzuckend.»Aber um diese Mission erfolgreich auszuführen, würde ich auch Hilfe aus dem Zuchthaus von Newgate oder der Irrenanstalt von Bedlam akzeptieren, wenn sie uns nützen könnte.»

«Nun, Bolitho?«Mit deutlicher Ungeduld blickte Broughton von einem zum anderen.

Draffen sprach zuerst.»Wie ich schon gesagt habe, werden wir Dja-fou eines Tages aufgeben, wenn wir etwas Besseres haben, etwa entsprechend dem Vorschlag, den Sie Sir Lucius soeben gemacht haben. Messadi hat Djafou lange Jahre beherrscht und weder für die Franzosen noch für die Dons etwas übrig. Es wäre bestimmt besser, wenn wir ihn zum Verbündeten hätten: einen weiteren Dorn im Fleische des Feindes.»

«Genau meine Meinung«, warf Broughton ein.

Bolitho wandte sich ab. Ihm standen sofort die brüllenden Gestalten wieder vor Augen, die über das blutige Deck der Navarra schwärmten, und die schreckverzerrten Gesichter der Mannschaft beim Anblick der Schebecken. Und jetzt wollte Broughton sich mit diesen Menschen verbünden, bloß weil er den Gedanken nicht ertragen konnte, mit leeren Händen nach Gibraltar zurückzukehren.

«Ich bin dagegen«, sagte er.

Broughton ließ sich in seinen Sessel sinken.»Ich habe große Achtung vor Ihrer dienstlichen Vergangenheit, Bolitho. Ich weiß, daß Sie ein loyaler Offizier sind, aber ich weiß auch, daß Sie oftmals von zu großem Idealismus geplagt werden. Keinen anderen Offizier meines Geschwaders möchte ich lieber als Flaggkapitän haben. «Sein Ton wurde härter.»Aber Insubordination dulde ich nicht. Und nötigenfalls lasse ich Sie ablösen.»

Ein Gefühl der Hilflosigkeit überkam Bolitho, und widersprechende Gefühle rissen ihn hin und her. Einerseits verlangte es ihn, Broughton zu sagen, dann solle er ihn doch ablösen; andererseits konnte er die Vorstellung nicht ertragen, daß Fourneaux die geringen Reserven dieses Geschwaders kommandieren sollte.

«Meine Pflicht als Flaggkapitän ist es nicht nur, Ihren Befehlen zu gehorchen, Sir, sondern auch, Sie zu beraten. «Ihm war, als spräche er aus weiter Ferne.

Draffen strahlte.»Na also, meine Herren! Da sind wir uns ja endlich einig!»

«Was haben Sie also vor?«fragte Bolitho bitter.»Mit Sir Lucius' Erlaubnis werde ich nochmals die Korvette benützen. Ich bin überzeugt, daß mein Agent auf Nachricht von mir wartet;

das erleichtert uns die Sache. «Er blickte verschmitzt in Bolithos ernstes Gesicht.»Wie Sie selbst sagten, ist das Geschwader eher für den Kampf auf offener See geeignet als für sinnlose Attacken auf die Küste. Ich werde gut zwei Tage brauchen, in dieser Zeit müßten wir zum entscheidenden Angriff bereit sein. «Er lächelte, und Bolitho sah ein neuartiges Licht in seinen Augen funkeln. Sekundenlang war nur brutale Grausamkeit darin.»Wenn ein Unterhändler mit weißer Flagge die spanische Garnison aufsucht und dort erklärt, was ihnen bestimmt passieren wird, sobald Messadis Krieger die Festung erobern — den Verteidigern und ihren Frauen. «Er schwieg bedeutsam.

«Um Gottes willen, Sir Hugo«, murmelte Broughton bestürzt,»dazu wird es doch nicht kommen?»

«Natürlich nicht, Sir Lucius. «Draffen war offensichtlich wieder bester Laune.

Broughton schien plötzlich das Bedürfnis zu haben, diese Unterredung zu beenden.»Signalisieren Sie also der Restless, Bolitho. Die Coquette kann die Bewachung der Bucht übernehmen.»

Als Bolitho die Kajüte verließ, kam Draffen hinterher.»Nehmen Sie es nicht zu schwer, Captain«, murmelte er fast freundschaftlich.»Ich habe Ihre Qualitäten als Seeoffizier nie bezweifelt. Also könnten Sie meinen Fähigkeiten in gewissen Affären ebenfalls vertrauen, eh?»

Bolitho blieb stehen und sah ihn an.»Wenn Sie damit sagen wollen, daß ich von Ihren Machenschaften nichts verstehe, Sir Hugo, so haben Sie recht. Und ich will auch nichts damit zu tun haben — nie!»

Draffens Gesicht wurde hart.»Treiben Sie es nicht zu weit, mein Freund! Sie könnten eines Tages einen hohen Rang in der Flotte einnehmen, vorausgesetzt. «Das Wort blieb in der Luft hängen.

«Vorausgesetzt, daß ich den Mund halte?»

Ärgerlich fuhr Draffen herum.»Ausgerechnet Sie können es sich kaum leisten, sich zu exponieren, wenn Sie vorwärtskommen wollen! Vergessen Sie nicht: ich kannte Ihren Bruder. Höherenorts gibt es Leute, die es sich sehr überlegen würden, einen Offizier zu befördern, von dem sie erfahren, daß sein familiärer Hintergrund nicht ganz sauber ist — also benehmen Sie sich, Captain!»

Bolitho wurde auf einmal eiskalt. Ihm war, als schwebe er in der Luft.»Vielen Dank, daß Sie mich daran erinnern, Sir Hugo. «Er wunderte sich darüber, wie seine Stimme klang. Vollkommen fremd.»Von jetzt an brauchen wir einander wenigstens nichts mehr vorzumachen. «Er drehte sich um und schritt rasch zur Kampanjeleiter.

Unten auf dem Achterdeck ging Keverne gedankenversunken auf und ab.

«Signalisieren Sie der Valorous zur Weitergabe an die Restless: >Anker lichten und sofort zum Flaggschiff. Sir Hugo Draffen an Bord nehmen und nach dessen Instruktionen handeln.««Kevernes erstaunten Blick ignorierte er.»Dann können Sie alle Geschütze festmachen lassen, und die Leute können essen. Nun? Was ist noch?»

«Ziehen wir uns zurück, Sir?»

«Kümmern Sie sich um das Signal, Mr. Keverne. «Er blickte auf die fernen Berge.»Ich muß nachdenken.»

Er wandte sich um, denn unter dem Achterdeck erschien Leutnant Sawle mit Witrand.»Wo wollen Sie mit dem Gefangenen hin, Mr. Sawle?»

Der Leutnant sah ihn verständnislos an.»Er soll doch auf die Korvette überstellt werden, Sir«, antwortete er, anscheinend völlig verwirrt.»Leutnant Calvert sagt, der Admiral hätte es befohlen.»

Der Franzose kam leichtfüßig die Leiter herauf, und Bolitho vergaß für den Augenblick seine Wut über Draffens Drohung.

«Ich will Ihnen Lebewohl sagen, capitaine. «Witrand reckte sich und sog die warme Seeluft ein.»Wer weiß, ob wir uns wiedersehen?»

«Ich hatte keine Ahnung davon, Witrand.»

«Das glaube ich Ihnen, capitaine. Anscheinend denkt man, ich könnte von Nutzen sein. Spaßhaft, wie?»

Bolitho dachte an Broughtons desperate Stimmung. Vielleicht hatte er Draffens Vorschlag zugestimmt, Witrand auf die Korvette zu überstellen, weil sie hofften, der Franzose würde etwas über seine Mission verraten.»Spaßhaft? Ja, vielleicht«, antwortete er nachdenklich.

Er beschattete die Augen und beobachtete, wie die Valorous Broughtons Signal hißte. Irgendwo hinter der vorspringenden Landzunge versteckt, würde die vor Anker liegende Korvette es sehen und eiligst dem Befehl folgen. Witrand würde vermutlich an Bord der Restless bleiben und später mit irgendwelchen Depeschen nach Gibraltar überstellt werden.

Bolitho hielt ihm die Hand hin.»Leben Sie wohl, m'sieur. Und vielen Dank für das, was Sie für mich getan haben.»

Der Franzose drückte ihm fest die Hand.»Ich hoffe, wir sehen uns doch noch eines Tages wieder, capitaine. Aber…««Achselzuckend brach er ab, als Sawle mit zwei bewaffneten Matrosen auf dem Achterdeck erschien, und sagte hastig:»Für den Fall, daß mir irgend etwas zustößt. Hier ist ein Brief an meine Frau in Bordeaux. Ich wäre Ihnen dankbar. «schloß er leise.

«Selbstverständlich«, nickte Bolitho. Dann brachte Leutnant Sawle den Franzosen zur Fallreepspforte, wo das Boot anlegen würde.»Seien Sie vorsichtig«, rief er ihm nach.

Witrand winkte ihm flüchtig zu.»Sie auch, capitaine

Eine Stunde später ging Bolitho immer noch an der Luvseite auf und ab, unempfindlich gegen die sengende Hitze, die sein Hemd in einen nassen Fetzen verwandelte, und gegen die blendenden Sonnenreflexe auf dem Wasser.

Draffen war auf die Korvette umgestiegen und hatte den Vorsprung der Küstenlinie umrundet; aber das hatte Bolitho kaum bemerkt, weil ihm die simple Mahnung Witrands im Kopf herumging.

Leutnant Weigall war Offizier der Wache und bemühte sich, seinem Kommandanten möglichst aus dem Wege zu gehen. Schwerhörig und einsam, das Preisboxergesicht in grimmigen Falten, hielt er sich in Lee und beaufsichtigte die Männer, die auf dem Oberdeck arbeiteten.

An der Kampanje stand Allday und sah mit Besorgnis, wie wütend Bolitho war. Er zermarterte sich den Kopf, wie er ihm helfen könne. Bolitho hatte es abgelehnt, zum Essen in die Kajüte zu kommen, und ihn blindwütig angefahren, als er ihn dazu überreden wollte, sich unter Deck etwas von der Hitze zu erholen.

«An Deck!«Der Ausguck konnte nur noch krächzen. Der arme Kerl war vermutlich halb verdurstet.»Segel in Luv voraus!»

Erwartungsvoll sah Allday zu Bolitho hinüber, doch der schritt immer noch auf und ab; er hatte den Kopf gesenkt, sein Gesicht war ausdruckslos. Und Weigall, das sah Allday mit einem raschen Blick, hatte überhaupt nichts gehört.

Schon flogen Signalflaggen den Rahen der Tanais empor; Allday trat zu einem dösenden Midshipman und stieß ihn scharf in die Rippen.

«Wachen Sie auf, Mr. Sandoe!«Der Junge starrte ihn verängstigt an.»Es gibt Arbeit für Sie!«Dann ging er zur anderen Seite und wartete, bis Bolitho umkehrte.»Captain?»

Bolitho blieb stehen und schwankte auf dem krängenden Deck vor

Müdigkeit. Verschwommen sah er Alldays Gesicht vor sich und bemerkte mit aufsteigendem Ärger, daß dieser lächelte.

«Segel in Luv voraus«, sagte Allday entschieden.

«Was?»

Er schaute nach oben, von wo die Stimme kam:»Einzelnes Schiff,

Sir!»

Weigall hatte endlich gemerkt, daß irgend etwas los war, und rannte hin und her wie ein Raubtier im Käfig. Hoch überm Deck stand jetzt die winzige Gestalt eines Midshipman neben dem Matrosen im Ausguck. Und da rief er auch schon zu den nach oben gerichteten Gesichtern hinunter:»Ein Bombenwerferschiff, Sir!»

Allday blickte wieder zu Bolitho hin und sah erschrocken, daß dessen Augen vor Bewegung feucht waren.

«Gott sei Dank!«sagte Bolitho nur. Er streckte die Hand aus und faßte Alldays kräftigen Unterarm.»Dann schaffen wir es doch noch!«Er wandte sich ab, um sein Gesicht zu verbergen, und befahl:»Rufen Sie den Master. Neuer Kurs für das ganze Geschwader: auf den Bombenwerfer! Und dann — ««, er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar — ,»dann werden wir weitersehen!»

Später, als die Euryalus schwerfällig durch den Wind ging und auf den schmalen Strich des Segels zuhielt, stand Bolitho reglos auf dem Achterdeck an der Reling. Sämtliche Offiziere waren ebenfalls da, blieben aber respektvoll auf der anderen Seite, unterhielten sich leise und stellten allerlei Spekulationen an.

Dann kam Broughton an Deck und trat neben Bolitho. Beiläufig und wie von fern fragte er:»Welcher ist es?»

Eben hißten Tothills Männer eine neue Reihe Flaggen; und Bolitho antwortete:»Nur der eine, aber das genügt.»

Verwirrt über diese unbestimmte Antwort starrte Broughton ihn an.

Da rief Tothill:»Signal, Sir, Hekla an Flaggschiff: >Erbitte Instruk-tionen<»

Wieder spürte Bolitho, wie ihm die unterdrückte Gemütsbewegung, die Anspannung den Atem verschlug. Die Hekla war da! Irgendwie hatte es Inch geschafft, ohne Eskorte, sogar ohne das andere Werferschiff, zum Geschwader zu stoßen!

Ohne eine weitere Äußerung des Admirals abzuwarten, sagte er:»Signal: >Kommandant sofort an Bord!<»

Erst dann wandte er sich an den Admiral, und seine Augen waren wieder ganz ruhig.»Mit Ihrer Erlaubnis, Sir, möchte ich jetzt versuchen, unsere Mission auszuführen. «Er hielt inne, denn er sah, wie Broughton die Röte in die Wangen stieg.»Außer Sie ziehen es immer noch vor, sich mit Piraten zu verbünden?»

Mit offensichtlicher Anstrengung schluckte Broughton und erwiderte:»Kommen Sie mit dem Kommandanten der Hekla zu mir, sobald er an Bord ist. «Damit wandte er sich ab und schritt steif zur Kampanje.

Bolitho blickte auf seine Hände. Sie zitterten, sahen aber sonst ganz normal aus — einen Moment hatte er gedacht, sein altes Fieber bräche wieder aus, denn ihm war, als bebe er am ganzen Körper.

Doch es war nicht das Fieber. Es war etwas viel Stärkeres.

Keverne kam von der anderen Seite zu ihm und faßte grüßend an den Hut.»Komischer Kahn, Sir!«Unter Bolithos starrem Blick zuckte er zusammen.»Der Werfer, meine ich.»

Nun lächelte Bolitho; die Spannung lief ab wie Blut.

«Gerade jetzt der willkommenste Anblick, den ich seit langer, langer Zeit gehabt habe, Mr. Keverne. «Er zupfte an seinem durchgeschwitzten Hemd und schloß:»Ich gehe nach unten und ziehe mich um. Rufen Sie mich, sobald das Boot der Hekla heran ist. Ich möchte ihren Kommandanten persönlich begrüßen. «Damit ging er.

«Wissen Sie«, sagte Keverne versonnen,»ich glaube, ich werde unseren Kommandanten nie verstehen.»

Weigall an der Reling fuhr herum.»Was haben Sie gesagt?»

«Nichts. «Keverne ging auf die andere Seite.»Träumen Sie weiter, Mr. Weigall.»

Er blickte zum Fockmast hoch, wo Broughtons Flagge baumelte, und dachte über den Stimmungswechsel Bolithos nach. Aber anscheinend war das Warten vorbei — wenigstens etwas.

Nach der Ofenhitze des Tages war die Nachtluft beinahe eisig. Bo-litho stand am Bug der Kommandantengig und gab Allday ein Handzeichen.

«Auf Riemen!«blaffte Allday. Mit einem Schlag hoben sich die Riemen tropfend aus dem Wasser, und das Gurgeln der schwindenden Bugwelle klang auf einmal sehr laut in der tiefen Stille.

Bolitho wandte sich um und spähte angestrengt nach achtern. Sie kamen auf; am Bug der beiden vordersten Boote schimmerte phosphoreszierendes Seegras. Hier und da fiel es wie weiße Federn von einem der umwickelten Riemen.

Da kam das erste Boot. Hände streckten sich vor, um ein geräuschvolles Aneinanderstoßen zu verhindern. Es war Leutnant Bickford. Er sprach dienstlich und so normal, als melde er seine Division zur Musterung.»Die anderen sind dichtauf, Sir. Wie weit ist es noch, Ihrer Ansicht nach?»

Die beiden Boote dümpelten in der Brandung, und Bolitho fragte sich, wie weit das Geschwader gekommen sein mochte, als der Wind schließlich zu einer schwachen Brise abgeflaut war. Den ganzen Tag über, während der Vorbereitungen für seinen Angriffsplan, hatte er darauf gewartet, daß der Wind einschlief; es war so etwas wie ein unerklärlicher Instinkt gewesen. Hätte es abgeflaut, bevor er fertig war, dann hätte der Plan verschoben, vielleicht sogar aufgegeben werden müssen.

«Noch ungefähr drei Kabellängen, glaube ich«, erwiderte er.»Jetzt geht's weiter, Mr. Bickford, also passen Sie gut auf.»

Ein neues Kommando, die Boote drifteten auseinander; und als die Riemen wieder arbeiteten, setzte sich Bolitho auf die Ducht und spähte nach Steuerbord voraus, wo der westliche Arm der Bucht zuerst in Sicht kommen würde, vorausgesetzt, daß er die Abdrift richtig beurteilt hatte.

Er zwang sich, den hektischen Nachmittag nochmals zu überdenken, um eine schwache Stelle in seinem kühnen Plan zu entdecken. Jede s-mal hatte er Inchs Gesicht wieder vor Augen, hörte er seine Stimme in der Heckkajüte der Euryalus: eine Stimme, so müde und ausgelaugt wie die eines alten Mannes, nicht die des sechsundzwanzigjährigen Inch.

Es fiel ihm schwer, sich Inch so vorzustellen, wie er einst als Erster Offizier gewesen war, diensteifrig, aber subaltern, loyal, aber unerfahren; und noch schwerer fiel ihm das, wenn er sich vergegenwärtigte, was Inch jetzt für ihn getan hatte.

Ungeduldig hatte Inch in Gibraltar auf die Eskorte gewartet; er wußte genau, wie verzweifelt sie benötigt wurden. Doch schließlich war ihm klargeworden, daß er seine Eskorte nie bekommen würde. Da hatte er allen Mut zusammengenommen und war beim zuständigen Admiral um Erlaubnis vorstellig geworden, allein loszusegeln. Typischerweise hatte ihm der Admiral diese Erlaubnis unter der schriftlich festgehaltenen Bedingung erteilt, daß das Ganze unter Inchs eigener

Verantwortung lief. Das zweite Werferschiff, die Devastation, hatte ebenfalls Anker gelichtet. Beide waren sie aus dem Schutz des Felsens von Gibraltar gesegelt; beide Kommandanten hatten ständig damit gerechnet, von patrouillierenden spanischen Fregatten angegriffen zu werden.

Als Inch seine Geschichte erzählte, hatte Bolitho daran denken müssen, was er selbst über dessen Glück gesagt hatte. Auch jetzt hatte Inch wieder Glück gehabt, denn kein einziges Schiff war in Sicht gekommen. Bis heute früh, als Inchs Ausguck eine schnell aus einer Nebelbank heraussegelnde spanische Fregatte gemeldet hatte. Bolitho zweifelte kaum daran, daß es dieselbe war, die schon die Coquette gesichtet hatte, und die höchstwahrscheinlich mit größter Eile die Nachricht von Broughtons Angriff auf Djafou nach Spanien brachte. Vielleicht hatte der Kommandant gedacht, die beiden sonderbaren kleinen Schiffe gehörten zu einem Verband, der ihn abfangen sollte. Sonst hätte er sie kaum angegriffen.

Inch hatte gefechtsklar gemacht und seine paar Mann auf Stationen befohlen. Der andere Werfer stand etwa eine halbe Meile vor ihm.

Unter Vollzeug hatte die Zweiunddreißiger-Fregatte gewendet, um den Windvorteil zu bekommen; gleich ihre erste Breitseite hatte die Devastation entmastet und eine Salve Schrapnell und Kettenkugeln über ihr Deck gefegt. Aber der kleine Werfer war kräftig gebaut, und seine Geschütze hatten ebenso energisch geantwortet. Inch hatte gesehen, wie mehrere Kugeln in den Rumpf des Feindes dicht an der Wasserlinie einschlugen. Doch eine zweite wütende Breitseite hatte die Devastation endgültig zum Schweigen gebracht.

Inch hatte für sein Schiff das gleiche erwartet; doch hatte er seine Hekla zwischen die Fregatte und den anderen Werfer manövriert und das Feuer eröffnet. Vielleicht hatte der spanische Kommandant damit gerechnet, Inch würde abdrehen und fliehen, nachdem er gesehen hatte, wie es seinem Begleitschiff ergangen war; oder vielleicht rechnete er auch damit, die Bramsegel der Coquette in voller Fahrt über der Kimm auftauchen zu sehen. Er hatte jedenfalls genug gehabt und abgedreht. Inch konnte Boote zu Wasser lassen und die Überlebenden des Schwesterschiffes, das gekentert war und sank, an Bord nehmen.

Es war Bolitho klar, daß Inch zwischen zwei höchst realen Gefühlen hin- und hergerissen war. Der Verlust der Devastation und des größten Teils ihrer Mannschaft bekümmerte ihn tief; hätte er nicht so gedrängt, läge sie immer noch unbeschädigt in Gibraltar vor Anker.

Doch als Bolitho skizzierte, was er in dieser Nacht vorhatte, da hatte er auch wieder etwas vom alten Inch gesehen: nämlich — als seine Haupteigenschaften, die er so sehr zu schätzengelernt hatte — bedingungsloses Vertrauen und Stolz.

Jetzt ankerte Inch mit der Hekla, seinem ersten selbständigen Kommando, hinter der gegenüberliegenden Landzunge, und sehr bald würde er etwas in der bisherigen Marinegeschichte völlig Neues probieren: den indirekten Beschuß. Mit Bolitho und seinem eigenen Stückmeister war er an der äußersten Spitze des schnabelförmigen Vorsprungs an Land gegangen, wo die Marine-Infanteristen in der glühenden Sonne wie tot herumlagen, und hatte eine sorgfältige Lageskizze der Festung aufgenommen. Bolitho hatte keinen Ton gesagt, um Inchs Konzentration nicht zu stören; er hatte mit höchstem Interesse zugesehen, wie gekonnt Inch dabei zu Werke ging. Entfernungen, Schußwinkel, Höhen wurden eingetragen; der Stückmeister hatte allerlei von Ladung, Pulvermengen und Zündung gemurmelt — zum Teil war es für Bolitho wie eine Fremdsprache gewesen.

Was Inch über sein komisches Schiff auch sagen oder denken mochte, auf jeden Fall schien er darauf seinen richtigen Platz gefunden zu haben. Es war nur zu hoffen, daß seine Treffsicherheit so groß war wie sein Eifer. Sonst wurden Bolithos Boote samt allen bewaffneten Matrosen in Stücke geschossen.

Hätte Inch seine Granatwerfer bei Tageslicht abfeuern können, so hätte er nicht den geringsten Zweifel gehabt, daß seine Berechnungen stimmten. Doch Bolitho wußte, daß die Verteidiger gewarnt waren und ebenfalls Vorbereitungen treffen würden. Noch mehr Zeit, von Menschenleben ganz zu schweigen, würde geopfert, wenn man bis zum nächsten Tage wartete; so wurde sein Vorschlag, einen Nachtangriff zu machen, einstimmig angenommen; nicht einmal Broughton hatte etwas dagegen gehabt. Bolitho wußte aus Erfahrung, daß man eine Küstenverteidigung am besten bei Nacht attackierte. Schildwachen wurden müde, und nachts gab es gewöhnlich so viele unbekannte, seltsame Geräusche, daß ein Schatten mehr oder weniger, ein Knarren oder Quietschen nicht allzuviel Beachtung fand.

Und warum auch? Die Festung hatte schon manchem Angriff standgehalten. Das britische Geschwader hatte abgedreht und nur ein paar Seesoldaten dagelassen, die selbst sehen mußten, wie sie in dem Gestrüpp und den Klippen der Landzunge zurechtkamen. Man hatte also sehr wenig zu befürchten.

«Da ist die Landzunge, Captain«, zischte Allday.»An Steuerbord voraus!»

Bolitho nickte. Er konnte das undeutlich schimmernde Kollier weißen Gischtes am Fuß der Klippen sehen, auch die dunkleren Schatten, wo sich die zerrissene Bergkette auftürmte. Jetzt war es bald soweit.

Er versuchte, sich seine kleine Flottille möglichst deutlich zu vergegenwärtigen. Seine Gig und Bickfords Kutter würden als erste in die Bucht einfahren. Dann vier weitere Boote in gleichen Abständen. Eins unter Leutnant Sawle, mit einem großen Sack Schießpulver befrachtet, der, wie er dort zwischen den mißtrauisch gespannten Rudergasten lag, genau wie ein toter Riese auf der Fahrt zur Beerdigung aussah. Er war in gefettetes Leder eingenäht, mit einer von Fittock, dem Stückmeister der Euryalus, persönlich und liebevoll hergestellten Zündung versehen und mußte ein paar Minuten, bevor Inchs Mörser das Feuer eröffneten, in Stellung gebracht sein.

Bolitho wünschte, er hätte Keverne mit dabei. Aber der war als sein Stellvertreter an Bord wichtiger. Meheux war ein zu wertvoller Batterieführer und Weigall zu schwerhörig für eine Nachtaktion; so blieben also nur die jüngeren Leutnants für das Unternehmen. Er runzelte die Stirn. Was machte er sich da für Gedanken? Ein Leutnant, jeder Leutnant, der sein Offizierspatent wert war, mußte bei jedem Einsatz brauchbar sein.

Trotz seiner Nervosität mußte er lächeln und war dabei der Finsternis dankbar, die sein Gesicht verbarg. Er fing wahrhaftig schon an, so zu denken wie Broughton, und das war bestimmt nicht das Richtige.

Er dachte auch an Leutnant Lucey, den Fünften Offizier, der beim ersten Angriff auf die Festung so große Angst gehabt hatte. Der saß irgendwo achtern in einem anderen Kutter und wartete darauf, seine Männer durch eine Mauerbresche zu führen, ohne auch nur einen Schimmer von dem zu haben, was ihn dahinter erwartete.

Und Calvert — wie würde der wohl da drüben am Berg zurechtkommen? Als Bolitho erklärt hatte, wie die Marine-Infanteristen unter Hauptmann Giffard beim letzten Angriff über den Fahrdamm vorgehen sollten, war Broughton dazwischengefahren:»Calvert kann Hauptmann Giffard die Instruktionen überbringen — wird ihm gut tun!«Und dabei hatte er seinen Flaggleutnant kalt und mitleidslos von oben bis unten gemustert.

Der arme Calvert war ganz verstört. Mit einem Midshipman und drei bewaffneten Matrosen als Bedeckung war er in der Dämmerung an Land gesetzt worden, um einen gefährlichen und mühsamen Marsch über die Berge zu unternehmen und der Marine-Infanterie ihren Gefechtsbefehl zu überbringen, die jetzt einsatzbereit sein mußte und darauf wartete, daß es losging. Giffard konnte dankbar sein, dachte Bolitho. Seine Männer hatten den ganzen Tag in der glühenden Sonne geschwitzt und gejapst, hatten nur ihre Marschverpflegung zum Essen und das bißchen Wasser in ihren Feldflaschen zum Trinken gehabt — sie waren sicher nicht in der Stimmung für halbe Maßnahmen.

Die Ruderpinne knarrte; träge hob sich das Boot über die kurzen, schnellen, kabbligen Wellen. Sie rundeten jetzt die Landzunge, und die Bucht öffnete sich, als ginge ein riesiger, pechschwarzer Vorhang auseinander.

Er hielt den Atem an. Und da war sie, die Festung. Wie ein bleicher Felsblock lag sie da, nur oben in den mächtigen Mauern war ein Fenster erleuchtet. Der Gegensatz zu den anderen dunklen Fenstern wirkte seltsam bedrohlich.

«Ganz leise, Jungs!«Er stand auf, spähte über die Ruderer hinweg, war sich der Geräusche von Boot und Wasser deutlich bewußt, auch der keuchenden Atemzüge der Männer und seines eigenen Herzschlages.

Die Strömung trug sie an die linke Seite des Forts; Gott sei Dank stimmte wenigstens eine seiner Berechnungen. Weit hinter dem Fort konnte er noch einen anderen, nadelspitzen Lichtpunkt ausmachen — vermutlich die Laterne der vor Anker liegenden Brigg. Mit einigem Glück würde Broughtons Geschwader noch vor Sonnenaufgang um ein weiteres, wenn auch kleines Fahrzeug stärker sein.

Er ließ sich auf ein Knie nieder und öffnete ganz vorsichtig den Schieber einer Blendlaterne. Nur den Bruchteil eines Zolls, und doch kam ihm das dünne Licht, das ein paar kurze Sekunden übers Wasser spielte, wie der Strahl eines mächtigen Leuchtturms vor.

Wieder stand er auf. Trotz der tiefreichenden Dünung draußen vor der Bucht, der weiten Fahrt unter den schweren Riemen und all der sonstigen irritierenden Verzögerungen waren sie genau planmäßig angekommen.

Die Festung lag jetzt schon viel näher, nur eine gute Kabellänge entfernt. Er glaubte, den dunkleren Schatten unter der Nordwestecke sehen zu können, wo der Eingang von See lag, der, wie es hieß, durch ein massives Fallgitter geschützt war. Dort würde nun sehr bald Fit-tocks Sprengladung liegen und den Weg für ihren Angriff freimachen.

Er knirschte mit den Zähnen, denn irgendwo achtern in einem der Boote klirrte es metallisch. Ein unvorsichtiger Matrose mußte mit seinem Entersäbel angestoßen sein. Aber nichts geschah; auch von den hohen, unzugänglichen Mauern ertönte kein Alarmruf.

Gott sei Dank, dachte er grimmig. Denn Broughtons Schiffe würden inzwischen weit von Land entfernt sein, und ohne richtigen Wind konnten sie nicht zu Hilfe kommen.

Etwas Weißes blitzte in der Dunkelheit auf; er dachte, es sei ein Ruderblatt, aber es war nur ein Fisch, der hochgesprungen war und klatschend ein paar Fuß vom Boot entfernt ins Wasser zurückfiel.

Als er wieder zur Festung hinsah, war sie schon ganz nahe. Er konnte in der Mauer die einzelnen Schießscharten unterscheiden und sogar die helleren Flecken, wo die Kugeln des Geschwaders ihre Spuren hinterlassen hatten.

«Auf Riemen!«Bickfords Boot glitt langsam an ihm vorbei, und die anderen schwärmten in sicherer Rufentfernung fächerförmig aus. Es war soweit.

Das einzige Boot, das noch unter Riemen fuhr, pullte stetig weiter. Leutnant Sawle stand aufrecht im Heck, eine zweite Gestalt, wahrscheinlich Mr. Fittock, der Stückmeister, stand gebückt neben ihm. Das war der wichtigste Teil der ganzen Aktion und außerdem eine Chance für Sawle, sich auf eine solche Weise auszuzeichnen, daß seine fernere Karriere in der Flotte gesichert sein würde, mochte er nun ein Leuteschinder sein oder nicht. Freilich hatte er eine ebenso gute Chance, in Stücke gerissen zu werden, wenn mit der Sprengladung etwas schiefging. Er war ein tüchtiger Offizier, aber wenn er heute nacht ums Leben kam, so würde das, dachte Bolitho, an Bord der Euryalus nur milde Trauer erregen.

«Nicht der erste, was, Captain?«murmelte Allday, und Bolitho wußte nicht: sprach er von dem möglichen Tod des Leutnants oder von dem nächtlichen Angriff überhaupt. Beides war möglich. Aber er hatte andere Dinge im Kopf.

«Wir haben noch fünf Minuten«, sagte er kurz.

Bickfords Leute ruderten jetzt rückwärts, damit das Boot nicht in der wirbelnden Strömung querschlug.

Wieder dachte er an Inch und stellte ihn sich an Bord der Hekla vor, wie er die letzten Vorbereitungen traf, um mit seinen gedrungenen Mörsern hoch über den Bergrücken der Landzunge zu feuern. Inch brauchte sich jetzt nicht mehr zu verbergen. Er konnte so viel Licht machen, wie er brauchte; in den Hügeln oberhalb seiner Position lagen die Marine — Infanteristen, die ihm nicht nur die Einschläge signalisieren, sondern ihn auch gegen unerwünschte Störer absichern würden.

>Komischer Kahn<, hatte Keverne gesagt. Die Hekla war nicht viel mehr als eine schwimmende Batterie mit gerade genügend Segelfläche, um sie von einem Einsatzort zum anderen zu tragen. Lag sie in Schußposition, so wurde sie an Bug und Heck fest verankert. Durch Anholen oder Nachlassen der einen oder der anderen Trosse konnte Inch das Schiff und damit die Zwillingsmörser ohne viel Anstrengung in den gewünschten Schußwinkel bringen.

«Mr. Sawles Boot ist unter der Mauer, Captain«, sagte Allday gespannt.

«Gut. «Er mußte sich auf Alldays Angabe verlassen, denn das Boot war nur ein tieferer Schatten vor dem dunklen Loch des Eingangs.

Ein Midshipman, der zu Bolithos Füßen hockte, gähnte lautlos.

Das war vermutlich auch eine Art, gegen die Angst anzukämpfen. Gähnen war manchmal ein Zeichen dafür.

Beruhigend sagte er:»Jetzt ist es bald soweit, Mr. Margery. Sie übernehmen das Boot, sobald der Angriff beginnt.»

Der Midshipman nickte; eine laute Antwort traute er sich anscheinend nicht zu.

Allday erstarrte.»Da — unterhalb der Mauer fährt ein Boot, Cap-tain!»

Bolitho sah die Gischt eintauchender Riemen — wahrscheinlich war die Garnison so vorsichtig gewesen, ein Wachboot patrouillieren zu lassen. Vermutlich sollte es nur einen Angriff auf die vor Anker liegende Brigg verhindern, aber im Moment war es so tödlich wie ein ganzes Regiment Leibwache.

Auf und ab schwangen die Riemen, tauchten mit ermüdender Gleichmäßigkeit ins Wasser, und an dem grünlichen Leuchten um den Bug war das Näherkommen des Bootes besser zu verfolgen als bei

Tageslicht.

Jetzt hielt die taktmäßige Bewegung inne; die Ruderer hatten sich wohl auf die Riemen gelegt, um sich auszuruhen und sich von der Strömung weitertreiben zu lassen, bevor sie die nächste Runde ihrer Patrouille begannen.

«Jetzt müßte Mr. Sawle seine Ladung eigentlich gelegt haben«, murmelte Allday.

Und wie als Antwort auf seine leisen Worte sprühte es auf: ein Licht wie ein helles rotes Auge unter der Mauer — Fittock hatte die Lunte gezündet. Das Wachboot konnte es nicht sehen, weil die Mauerecke davor war; aber sobald Sawles Leute aus dem Mauerschatten traten, mußte Alarm gegeben werden.

Bolitho biß sich auf die Lippen. Jetzt preßten sich Sawles Männer gegen das große eiserne Gitter, warteten auf den Abzug des Wachbootes und hörten das gleichmäßige Zischen der Lunte. Halb unbewußt murmelte er:»Los, Mann! Macht, daß ihr wegkommt!«Aber nichts rührte sich an jenem dunklen Fleck bei der Mauer.

Da — ein prasselndes Krachen, Bolitho sah die Augen des ihm zunächst sitzenden Ruderers gelbrot aufleuchten, als starre der Mann in einen gespenstischen Sonnenaufgang. Es war der Reflex des Mündungsfeuers von einem der Mörser jenseits der Landzunge; er fuhr herum und hörte ein scharfes, kurz abreißendes Pfeifen wie von einem aufgestörten Moorhuhn. Die Explosion war ohrenzerreißend. An der entferntesten Ecke des Forts leuchtete es hell auf, eine weißliche Rauchwolke stieg hoch, dann war wieder Finsternis, und er schloß geblendet die Augen. Aber so viel hatte er wenigstens feststellen können: Inchs erster Schuß lag fast genau im Ziel. Er hatte die gegenüberliegende Brustwehr des Kastells getroffen oder mindestens die untere Mauer. Mit berstendem Krachen stürzte das Mauerwerk zusammen; klatschend fielen große Brocken ins Wasser.

Wieder ein Krachen. Der nächste Schuß schlug etwa an derselben Stelle ein wie der erste. Stürzendes Mauerwerk, Rumpeln und Grollen; in dicken Bänken trieb der Rauch übers Meer.

Das Wachboot war in Qualm gehüllt, aber er hörte Geschrei in der Finsternis, und dann das plötzliche Gellen einer Trompete von der Festung her.

Der dritte Schuß der Hekla lag zu weit; er hörte splitterndes Krachen von Steinen und nahm an, daß er auf dem Fahrdamm oder auf dem Eiland unter den Mauern eingeschlagen hatte. Die MarineInfanteristen würden mit ihren Blendlaternen der Hekla signalisieren, wie die Einschläge lagen, und dann konnte Inch vor dem nächsten Schuß Seitenrichtung oder Erhöhung entsprechend ändern.

«Mr. Sawle zieht jetzt ab«, sagte Allday erleichtert.»Verdammt knapp war das.»

«Mr. Bickford!«rief Bolitho.»Sagen Sie durch: Fertig machen zum Angriff!»

Jetzt brauchten sie nicht mehr leise zu sein. Der Krach bei den Festungsmauern konnte Tote wecken. Die Spanier eilten auf Gefechtsstationen. Vielleicht ahnten manche von ihnen, womit sie es zu tun hatten; andere wieder mochten vor Schreck über die unter Inchs Granaten erzitternden und einstürzenden Festungsmauern keines klaren Gedankens mehr fähig sein.

In diesem Moment explodierte Sawles Sprengladung. In einer großen Feuerzunge flog der untere Eingang in die Luft, eine kleine Flutwelle brach unter der Mauer hervor und riß Sawles Kutter, Heck voraus, mit sich fort; Männer und Riemen wurden in wirbelndem Durcheinander in die See geworfen wie ein Fangboot, das ein verwundeter Wal angreift.

Bolitho zog den Degen und winkte damit zu Bickford hinüber. In diesem Augenblick stürzte ein Stück der oberen Brustwehr in die Flammen, dazu eine Kanone auf eisernen Rädern und eine lange schwere Kette — vermutlich von der Zugvorrichtung des Fallgatters.

«Und jetzt, Jungs, zu — gleich!«Er fiel beinahe um, so schoß das Boot vorwärts; heißer Rauch wirbelte ihm um den Kopf, ein Zeichen der Kraft dieser letzten Detonation.

Der gekenterte Kutter glitt in der Dunkelheit vorbei, hier und da sah er ein bleiches Gesicht, um sich schlagende Arme, stoßende Beine — sie mußten die Explosion überlebt haben.

Dann aber, als das zerrissene Fallgatter wie ein gähnendes Maul mit verfaulten Zähnen in der Mauer klaffte, direkt vor dem Bug seines Bootes, vergaß er alles außer dem, was er jetzt unmittelbar zu tun hatte.

Eine Musketenkugel schlug ins Dollbord, und irgendwo ertönte ein Schmerzensschrei.

Er schwang den Degen überm Kopf und brüllte:»Pullt, Jungs!«Mit höchster Geschwindigkeit schoß die Gig durch den Rauch. Verkohlte

Holzstücke trieben auf dem Wasser, und dann zwei grotesk geformte Heckpforten, wohl von alten Galeassen, mit denen das Kastell sich einst gegen Piraten verteidigt haben mochte. Riemen krachten gegen Holz und Stein; Bickfords Boot kam gefährlich dicht hinterher, ein Pistolenschuß von der Mauer über ihnen erhellte für den Bruchteil einer Sekunde die Ruderer.

«Auf Riemen!«Alldays Stimme ging fast im Krachen des Einschlags einer weiteren Granate unter.»Riemen ein!»

Jetzt trieb das Boot heftig kratzend an einem niedrigen Steg entlang und kam zum Stillstand. Ein Mann sprang ihnen aus der Dunkelheit entgegen, aber ein Matrose schoß auf kürzeste Entfernung seine Muskete auf ihn ab, er wurde herumgerissen und stürzte lautlos über die Kante des Steges ins Wasser.

Bolitho tastete sich auf nassem Stein vorwärts und versuchte dabei, sich den Grundriß dieses fremdartigen Ortes zu vergegenwärtigen, wie er ihn auf der Zeichnung gesehen hatte. Jetzt konnte er nicht mehr umdisponieren — zu spät, es sich anders zu überlegen.

Er deutete mit dem Degen auf die steinernen Stufen; brüllend wie Teufel rannten die Matrosen über den Steg. Was auch geschah, jetzt ging es nur noch vorwärts.

Er rannte die Stufen hinauf in den Rauch hinein; in seinem Hirn war nur wahnsinnige Kampfeswut, sonst Leere. Und Allday blieb an seiner Seite.

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