II Der Besucher

Ein paar Minuten lang stand Bolitho reglos und starrte auf sein Haus. Er war absichtlich nicht durch die Stadt gegangen, sondern hatte den enggewundenen, angenehm ländlich duftenden, heckenumwachsenen Feldweg genommen. Nun stand er im hellen Sonnenschein und spürte, wie still es war, und wie hart das Land gegen seine Schuhsohlen drückte. Es war alles so anders als an Bord, es fehlten die ständigen Geräusche, die ständige Bewegung. Diese Erkenntnis überraschte und erfreute ihn sonst jedesmal. Diesmal allerdings war es nicht dasselbe. Mit halbem Ohr lauschte er auf das freundliche Summen der Bienen, das ferne Gebell eines Schäferhundes, der die Herde umkreiste; aber seine Augen ruhten auf dem Haus. Kantig und kompromißlos stand es vor dem Himmel und den sanften Hängen, die es umgaben und zur Landzunge hinunterführten.

Mit einem Seufzer schritt er weiter, seine Schuhe wirbelten Staub auf, und er blinzelte in die grelle Sonne. Als er das breite Tor in der Steinmauer durchschritten hatte, stockte er wieder — er hätte lieber nicht herkommen sollen, dachte er.

Doch als die Doppeltür oben an den Treppenstufen aufging und er Ferguson erblickte, seinen einarmigen Verwalter, und die beiden Dienstmädchen hinter ihm, die ihn begrüßen wollten, da war ihr Lächeln so aufrichtig erfreut, daß er für den Augenblick seine eigenen trüben Gedanken vergaß und gerührt war.

Ferguson ergriff seine Hand und murmelte:»Gott segne Sie, Sir. Schön, daß wir Sie wieder mal zu Hause haben.»

Bolitho lächelte.»Nicht für lange. Aber ich danke Ihnen.»

Da kam auch Fergusons Frau herbeigeeilt, rundlich, rosig, mit weißem Häubchen und makelloser Schürze, und in ihren Zügen kämpften

Freude und Tränen miteinander, als sie ihn begrüßte.»Wir hatten ja keine Ahnung, Sir. Wenn nicht Jack, der Zollwächter, gewesen wäre, hätten wir gar nicht gewußt, daß Sie wieder da sind! Er hat Ihre Obersegel gesehen, als der Nebel hochging, und ist extra hergeritten, um uns Bescheid zu sagen!»

«Vieles ist jetzt anders geworden. «Bolitho nahm den Hut ab und ging durch das hohe Entree. Da war es wieder: der kühle Stein, das alterslose Eichenpaneel, das matt im einfallenden Sonnenlicht glänzte.»Früher konnten die jungen Männer von Falmouth ein Schiff des Königs schon riechen, wenn seine Masten noch gar nicht über der Kimm standen!»

Ferguson wandte den Blick ab.»Sind nicht mehr viele junge Männer hier, Sir. Die keine feste Stellung haben, sind alle gepreßt worden oder haben sich freiwillig gemeldet. «Er folgte Bolitho in die große Halle mit dem leeren Kamin und den hochlehnigen, lederbezogenen Stühlen. Auch hier war es ruhig — es war überhaupt, als hielte das ganze Haus den Atem an.

«Ich hole Ihnen ein Glas Wein, Sir«, sagte Ferguson, und hinter Bo-lithos Rücken winkte er seiner Frau und den Mägden, hinauszugehen.»Sie werden in der ersten Stunde ein bißchen allein sein wollen. »

Bolitho drehte sich um.»Danke. «Er hörte, wie sich die Tür hinter ihm schloß, und trat an den Fuß der Treppe, wo die Bilder all derer hingen, die hier vor ihm gelebt hatten. So vertraut… Nichts war verändert worden, und doch…

Langsam stieg er die knarrenden Stufen hinan, an den Porträts vorbei, die ihn anblickten: Kapitän Daniel Bolitho, sein Ururgroßvater, der in der Bantry Bay gegen die Franzosen gekämpft hatte. Kapitän David Bolitho, sein Urgroßvater, hier an Deck seines brennenden Schiffes dargestellt, gefallen vor der afrikanischen Küste im Kampf gegen Piraten. Wo die Treppe einen Bogen nach rechts machte, wartete der alte Denziel Bolitho, sein Großvater — der einzige der Familie, der es bis zum Konteradmiral gebracht hatte — , auf ihn. Bolitho konnte sich noch erinnern, oder glaubte es wenigstens, daß er als kleines Kind auf seinen Knien gesessen hatte. Aber vielleicht waren es auch nur die Erzählungen seines Vaters und das vertraute Bild, woran er sich erinnerte. Vor dem letzten Porträt blieb er stehen.

Sein Vater, Kapitän James Bolitho, war jünger als die anderen gewesen, als es gemalt wurde. Hoch aufgerichtet, gelassen blickend, den leeren Ärmel quer am Rock festgesteckt — das hatte der Maler nachträglich geändert, nachdem er den Arm in Indien verloren hatte. Es war schwer, sich daran zu erinnern, wie er bei ihrem letzten Zusam-mensern vor vielen Jahren ausgesehen hatte, damals, als er Bolitho von der Schande seines älteren Bruders berichtet hatte. Hugh, sein Augapfel, der einen Offizierskameraden im Duell getötet hatte, war nach Amerika geflohen und hatte bei der Revolution gegen sein eigenes Vaterland gekämpft.

Tief seufzte Bolitho auf. Sie waren alle tot, auch Hugh, der seine Missetaten vor Bolithos eigenen Augen mit dem Leben gebüßt hatte. Dieser Tod war immer noch ein Geheimnis, das er mit niemandem teilen konnte. Hughs Leben, ein Leben voller Mißerfolg und Betrug, würde ein Geheimnis bleiben; was ihn, Richard Bolitho, anging, so mochte Hugh im Frieden der Vergessenheit ruhen.

Ferguson rief vom Fuß der Treppe:»Das Glas steht hier beim Fenster, Sir. Rotwein. «Er zögerte, ehe er weitersprach:»Da ist etwas im Schlafzimmer, Sir. «Anscheinend traute er sich kaum, es zu sagen.»Es sollte eine Überraschung sein, aber sie waren noch nicht fertig, als Sie das letzte Mal hier waren. «Seine Stimme verklang; Bolitho schritt rasch zur Tür am Ende des Treppenabsatzes und stieß sie auf.

Im ersten Moment fiel ihm nichts Besonderes auf: da war das Himmelbett in einem breiten Strahl fleckigen Sonnenlichts, das durch das Fenster kam — und der hohe Spiegel, vor dem sie gesessen und ihr Haar gekämmt haben mußte, wenn er weg war… Aber die Kehle wurde ihm trocken, als er sich umwandte und die beiden neuen Bilder an der Rückwand sah. Als ob sie wieder lebte, hier in diesem Zimmer, wo sie vergeblich auf ihn gewartet hatte. Er wollte näher herantreten, aber er hatte Angst — Angst, daß der Zauber weichen würde. Der Maler hatte sogar das Seegrün ihrer Augen getroffen und das herrliche Kastanienbraun ihres langen Haares. Und ihr Lächeln. Langsam trat er einen Schritt näher. Das Lächeln war wunderbar. Freundlich, etwas belustigt, so wie sie ihn immer lächelnd angesehen hatte, wenn sie beieinander waren.

Unter der Tür hörte er einen Schritt und dann Fergusons leise Stimme:»Sie wollte, daß sie nebeneinander hängen, Sir.»

Jetzt erst warf Bolitho einen Blick auf das andere Bild. Er war in seinem alten Galarock gemalt, dem mit den breiten weißen Aufschlägen, den Cheney so gern gehabt hatte.

«Danke«, sagte er heiser.»Schön, daß Sie ihren Wunsch erfüllt haben.»

Damit trat er rasch ans Fenster und lehnte sich über das warme Sims. Dort, gerade hinter jenem Hügel, konnte er die glitzernde Linie des Horizonts sehen. Es war dieselbe Landschaft, die Cheney von diesem Fenster aus gesehen hatte. Er hätte vielleicht zornig oder traurig sein können, weil Ferguson die Bilder hier aufgehängt, Erinnerungen an sie und seinen Verlust heraufbeschworen hatte. Aber das wäre falsch gewesen; jetzt, als er hier stand, die Hände auf das Sims gestützt, hatte er zum erstenmal seit langer Zeit ein seltsam friedvolles

Gefühl.

Ein alter Gärtner unten spähte herauf und schwenkte seinen verbeulten Hut, aber Bolitho sah ihn nicht.

Er trat ins Zimmer zurück und wandte sich erneut den Bildern zu. Hier waren sie wieder beieinander. Cheney hatte dafür gesorgt, und nichts konnte sie jetzt mehr trennen. Wenn er wieder auf See war, vielleicht auf der anderen Seite der Erdkugel, dann konnte er an dieses Zimmer denken. An die beiden Porträts nebeneinander, die zusammen auf den Horizont hinaussahen.

«Ich komme gleich hinunter«, sagte er.»Der We in ist sicher schon warm.»

Später, als er an seinem großen Schreibtisch saß und Briefe an Hafenbeamte und Schiffsausrüster schrieb, dachte er darüber nach, was dieses Haus alles erlebt hatte. Was würde damit geschehen, wenn er starb? Der einzige, der Anspruch auf das Erbe der Bolithos hatte, war sein junger Neffe, Adam Pascoe, Hughs illegitimer Sohn. Er tat zur Zeit unter Kapitän Thomas Herrick Dienst; aber Bolitho war entschlossen, dem Jungen so bald wie möglich die Besitzrechte an dem Haus zu sichern. Er biß die Zähne zusammen. Sosehr er seine Schwester Nancy liebte, aber es kam gar nicht in Frage, daß ihr Mann, Ratsherr in Falmouth und einer der größten Grundbesitzer der Grafschaft, das Haus in die Hände bekam.

Ferguson trat ins Zimmer.»Entschuldigung, Sir«, sagte er stirnrunzelnd,»aber da ist ein Mann, der Sie unbedingt sprechen will. Er ist außerordentlich hartnäckig.»

«Wer ist's?»

«Ich habe den Kerl noch nie gesehen. Ein Seemann, keine Frage, aber weder Offizier noch Gentleman, auch das ist keine Frage.»

Bolitho lächelte. Es war schwierig, sich Ferguson als den Mann vorzustellen, den einst ein Preßkommando an Bord der Phalarope gebracht hatte, zusammen mit Allday übrigens. Zwei grundverschiedene Charaktere, wie es damals den Anschein hatte. Jedoch waren die beiden sehr gute Freunde geworden; und selbst als Ferguson seinen Arm verloren hatte, wollte er in Bolithos Diensten bleiben. So war er hier Verwalter geworden. Ebenso wie Allday ging er sofort in Abwehrstellung, wenn irgend etwas Unerwartetes oder Ungewöhnliches auf Bo-litho zukam.

«Lassen Sie ihn ein, Ferguson«, sagte er.»Er wird ja wohl nicht allzu gefährlich sein.»

Ferguson führte den Besucher herein und schloß die Tür mit offensichtlichem Mißbehagen hinter ihm. Bestimmt wartet er direkt davor für alle Fälle, dachte Bolitho.

«Was kann ich für Euch tun?»

Der Mann war untersetzt und muskulös, tiefgebräunt und trug sein Haar in einem altmodischen Zopf. Er hatte einen Rock an, der ihm viel zu klein war, und Bolitho kam auf die Idee, daß er ihn nur trug, damit man nicht gleich sah, daß er Seemann war. Aber schon die weiten Hosen waren unverkennbar. Auch wenn er splitternackt gewesen wäre, hätte man gewußt, daß er Seemann war.

«Entschuldigung, daß ich so frei bin, Sir. «Er klopfte grüßend mit der Faust an die Stirn; dabei flitzten seine Augen durch den Raum.»Mein Name ist Taylor, Steuermannsmaat auf der Auriga, Sir.»

Bolitho sah ihn ruhig und aufmerksam an. Er sprach mit einem leichten Nordengland-Tonfall und war offensichtlich nervös. Ein Deserteur, der auf Gnade hoffte, oder auf einem anderen Schiff untertauchen wollte? Es war gar nicht so ungewöhnlich, daß solche Leute wieder in die eine und einzige Welt zurückwollten, wo sie mit ein bißchen Glück Sicherheit finden konnten.

Rasch fuhr Taylor fort:»Ich war bei Ihnen auf der Sparrow, Sir. Damals im Jahr 79, in Westindien. «Gespannt blickte er Bolitho an.»Ich war Topsgast.»

Langsam nickte Bolitho.»Natürlich, ich erinnere mich jetzt. «Auf der kleinen Korvette Sparrow, seinem allerersten Kommando, als er dreiundzwanzig war, als das Leben noch Spaß machte und ihm die ganze Welt ein Tummelplatz für seinen grenzenlosen Ehrgeiz schien.

«Wir hörten, Sie sind zurück, Sir. «Taylor redete sehr schnell.»Und weil ich Sie sozusagen kenne, haben sie mich gewählt, daß ich zu Ihnen geh'n soll. «Er lächelte bitter.»Hab erst gedacht, ich müßt 'n Boot klauen oder zu Ihrem Schiff schwimmen. Aber Sie sind ja an Land, da war's einfacher, sozusagen. «Unter Bolithos starrem Blick schlug er die Augen nieder.»Seid Ihr in Schwierigkeiten, Taylor?»

Mit plötzlicher Abwehr im Blick schaute der Mann auf.»Hängt von Ihnen ab, Sir. Mich haben sie gewählt, daß ich mit Ihnen spreche, und weil ich weiß, daß Sie 'n fairer und gerechter Käpt'n sind, Sir, hab ich mir gedacht, Sir, Sie würden mich vielleicht anhören…»

Brüsk stand Bolitho auf und sah ihn fest an.»Wo liegt Euer

Schiff?»

Taylor deutete mit dem Daumen über die Schulter.»Ostwärts an der Küste, Sir. «Etwas wie Stolz erhellte sein tief gebräuntes Gesicht.»Fregatte, sechsunddreißig Geschütze, Sir.»

«Ah. «Langsam schritt Bolitho an den leeren Kamin und wieder zurück.»Und Ihr und Euresgleichen habt das Schiff in Eure Gewalt gebracht, ist es so? Seid Ihr ein Meuterer?«Der Mann zuckte zusammen.»Wenn Ihr mich kennt, wirklich kennt, müßtet Ihr wissen, daß ich nicht mit Leuten verhandle, die ihr Land verraten haben«, schloß Bolitho hart.

Leise erwiderte Taylor:»Wenn Sie mich zu Ende anhören wollen, Sir — mehr will ich ja gar nicht. Dann können Sie mich hängen lassen, wenn Sie wollen — das weiß ich.»

Bolitho biß sich auf die Lippen. Einfach hierherzukommen, dazu gehörte Mut. Mut und noch etwas anderes. Dieser Taylor war kein frisch gepreßter Mann, kein Querulant vom unteren Deck. Er war Berufsseemann. Es konnte nicht leicht für ihn gewesen sein. Jede Minute seines Weges nach Falmouth hätte ihn jemand sehen können, der sich bei den Behörden in ein günstiges Licht setzen wollte, und sogar in diesem Moment konnte eine Patrouille zum Stadttor unterwegs sein.

«Schön«, sagte er,»ich kann Euch nicht versprechen, daß ich Euren Ansichten zustimme, aber anhören will ich Euch. Das ist alles, was ich sagen kann.»

Taylor schien etwas erleichtert.»Wir gehören zur Kanalflotte, Sir, und waren zwei Jahre lang ständig im Dienst. Wir hatten nich' viel Ruhe, denn Fregatten sind knapp, wie Sie ja wissen. Wir waren in

Spithead, als die Geschichte vorigen Monat losging, aber unser Käpt'n stach in See, bevor wir unsere Solidarität mit den anderen zeigen konnten. «Er preßte die Hände zusammen und fuhr bitter fort:»Ich muß Ihnen das sagen, Sir, damit Sie verstehen. Unser Käpt'n ist ein harter Mann, und der Erste Offizier hat sich angewöhnt, die Leute so zu piesacken, daß kaum einem der Rücken nich' von der Katze[11] zerfetzt is'!»

Bolitho preßte die Hände zusammen. Ich müßte ihm jetzt das Wort abschneiden, ehe er noch mehr sagt; schon indem ich ihm zuhöre, habe ich mich auf Gott weiß was eingelassen, dachte er. Doch er entgegnete nur kalt:»Wir sind im Krieg, Taylor. Die Zeiten sind eben hart, für Offiziere ebenso wie für Matrosen.»

Doch Taylor war hartnäckig.»Als die Geschichte in Spithead losging, waren sich die Delegierten darüber einig, daß wir raussegeln und gegen die Frogs[12] kämpfen. Da war kein einziger Mann, der nich' loyal gewesen wäre, Sir. Aber manche Schiffe haben eben schlechte Offiziere, Sir, das kann keiner bestreiten. Da gibt's welche, die haben seit Monaten keinen Sold bekommen, und die Leute sind halb tot vor Hunger, weil das Fleisch so schlecht is'. Der Schwarze Dick — «, Taylor errötete — ,»'tschuldigung, Sir, ich meine Lord Howe, hat mit den Delegierten gesprochen, und da war alles klar. Er is' auf ihre Forderungen eingegangen, so gut er konnte. «Böse zog er die Brauen zusammen.»Aber die Auriga war zu der Zeit auf See, für uns galt das anscheinend nich'. Im Gegenteil, unser Käpt'n wurde immer schlimmer statt besser! Und das is' die Wahrheit, ich schwör 's Ihnen!»

«So habt ihr also das Schiff in eure Gewalt gebracht?»

«Aye, Sir. Bis uns Gerechtigkeit zugesichert wird. «Er sah zu Boden.»Wir haben gehört, daß wir zu diesem neuen Geschwader kommen sollen, unter Vizeadmiral Broughton. Das bedeutet, wir sind vielleicht wieder jahrelang weg von England. Es is' nich' fair, was man uns angetan hat. Wir haben Admiral Broughton in Spithead gesehen. Er soll 'n guter Offizier sein, aber er würde mächtig hart durchgreifen, wenn 's wieder Ärger gibt.»

«Und wenn ich Euch sage, daß da nichts zu machen ist — was dann?»

Taylor sah ihm in die Augen.»Es gibt 'ne ganze Menge an Bord, die schwören, sie hängen uns sowieso alle. Die wollen das Schiff nach Frankreich segeln und es da gegen ihre Freiheit eintauschen. «Er biß die Zähne zusammen.»Aber ich und noch andere, wir wollen das nich'. Wir wollen nur unser Recht — wie die Jungs in Spithead.»

Bolitho kniff die Augen zusammen. Wieviel wußte Taylor von den Unruhen in der Nore-Flotte? Vielleicht war er aufrichtig, vielleicht war er aber auch das Werkzeug in den Händen eines erfahreneren Aufrührers. Was er da von seinem Schiff gesagt hatte — daran war kaum zu zweifeln.

«Hat es Verletzte bei den Offizieren gegeben?»

«Keinen einzigen, Sir, auf mein Wort. «Beschwörend breitete Taylor die Hände aus.»Wenn Sie uns versprechen, daß Sie unsere Sache dem Admiral unterbreiten, Sir, dann würde das mächtig viel ausmachen. «Der Anflug eines Lächelns huschte über seine rauhen Züge.»Ich glaube, der Master und der eine oder andere Leutnant sind ganz froh, daß es so gekommen is'. Das war 'n mächtig unglückseliges

Schiff, Sir.»

Bolithos Gedanken rasten. Vizeadmiral Broughton war vielleicht in London, er konnte aber auch sonstwo sein. Bis er seine Flagge auf der Euryalus hißte, war Konteradmiral Thelwall sein direkter Vorgesetzter, und der war zu krank, als daß man ihn mit so etwas belasten konnte. Da waren auch noch Captain Rook und der Garnisonskommandant von Falmouth. Dann gab es wahrscheinlich Dragoner in Truro und den Hafenadmiral in Plymouth, dreißig Meilen weit weg. Und alle waren sie bei diesem Zeitdruck gleichermaßen nutzlos.

Wenn tatsächlich eine Fregatte zu den Franzosen überlief, dann konnte das wie ein Signal auf die Männer der Nore wirken, die noch am Rande der Meuterei standen. Denen mochte es als ein letztes Mittel erscheinen, wenn sonst nichts mehr half. Und wenn die Franzosen etwas davon erfuhren, konnten sie unverzüglich eine Invasion starten. Bei dem bloßen Gedanken lief es Bolitho eiskalt den Rücken hinunter. Unvorstellbar, daß eine verwirrte und demoralisierte Flotte vernichtet wurde, bloß weil er sich nicht zu handeln getraut hatte. Eventuelle spätere persönliche Konsequenzen durften da keine Rolle spielen.

«Was solltet Ihr mir sonst noch mitteilen?«fragte er knapp.

«Die Auriga liegt in der Veryan Bay vor Anker. Gut acht Meilen von hier. Kennen Sie die Gegend, Sir?»

Bolitho lächelte grimmig.»Ich bin in Cornwall geboren, Taylor. Ja, die kenne ich sehr gut.»

Taylor leckte sich die Lippen. Vielleicht hatte er erwartet, sofort festgenommen zu werden. Nun aber, da Bolitho ihn tatsächlich anhörte, überstürzten sich seine Worte.

«Wenn ich bei Sonnenuntergang nich' zurück bin, setzen sie Segel, Sir. Ein paarmal kam 'n armierter Kutter ran, aber wir haben gesagt, sie sollen wegbleiben, wir liegen da wegen Reparaturen.»

Bolitho nickte. Es war nichts Ungewöhnliches, daß Schiffe mittlerer Größe in dieser Bucht Schutz suchten, wenn das Wetter nicht allzu schlimm war. Der Mann, der diese Meuterei bis zum gegenwärtigen Stand der Dinge geführt hatte, wußte bestimmt ganz genau, was er tat.

Taylor sprach weiter.»Da is' 'n kleiner Gasthof an der Westseite der Bay, Sir.»

«Der >Drachenkopf<«, nickte Bolitho.»Ein Schmugglernest.»

«Kann sein, Sir. «Taylor sah ihn unsicher an.»Aber wenn Sie heute nacht dahin kommen und sich mit unseren Delegierten treffen, dann können wir an Ort und Stelle alles klarmachen.»

Bolitho wandte sich ab. Das hörte sich alles so einfach an. Und was sollte nachher der Kommandant der Auriga machen? Seinen Koffer packen und von Bord gehen? Diese wirren Gedankengänge mochten im Zwischendeck ganz einleuchtend klingen, aber höheren Ortes würde man wenig Verständnis dafür haben.

Doch das Wichtigste und Vordringlichste war zu verhindern, daß das Schiff dem Feind übergeben wurde. Bolitho hatte nicht den geringsten Zweifel, daß der Kommandant der Auriga genauso war, wie Taylor ihn beschrieben hatte, vielleicht noch schlimmer. Solche Tyrannen gab es überall in der Flotte; er selber hatte einmal ein Schiff nur bekommen, weil sein Vorgänger so ein brutaler, kaltherziger Schinder gewesen war.

Jedenfalls konnte er nicht den Kopf in den Sand stecken und tun, als wüßte er von nichts.

«Also gut.»

«Danke Ihnen, Sir«, sagte Taylor heftig nickend.»Sie müssen allein kommen, höchstens mit einem Diener. Die haben gesagt, sie bringen den Käpt'n um, wenn Sie uns reinlegen. «Er ließ den Kopf hängen.»Tut mir leid, Sir, ich war dagegen. Ich will weiter nichts, als meine Tage in Frieden zu Ende leben, wenn's geht in einem Stück, und 'n

Topf voll Prisengeld, damit ich mal irgendwo 'ne kleine Kneipe aufmachen kann oder 'ne Schiffshandlung.»

Bolitho sah ihn nachdenklich an. Aber vermutlich wirst du an einer Rah enden, dachte er.

Taylor fing wieder an:»Auf Sie werden sie hören, Sir. Das weiß ich. Und mit 'nem neuen Käpt'n lebt auch das Schiff wieder auf.»

«Ich kann nichts versprechen. Lord Howes Pardon müßte auch auf euer Schiff Anwendung finden, aber…«Er sah Taylor fest in die Augen.»Es könnte ziemlich schlimm für euch alle werden, wie Ihr vermutlich wißt.»

«Aye, Sir. Aber wenn man so lange in solchem Elend gelebt hat, muß man eben was riskieren.»

Bolitho ging zur Tür.»Ich werde bei Sonnenuntergang zum Gasthof reiten. Wenn das stimmt, was Ihr mir gesagt habt, werde ich tun, was ich kann, um die Sache zu einem gerechten Abschluß zu bringen.»

Die Erleichterung in Taylors Zügen schwand jedoch, als Bolitho fortfuhr:»Andererseits, wenn das nur Verzögerungstaktik ist, damit ihr mehr Zeit habt, das Schiff in Feindeshand zu bringen, dann seid euch über die Konsequenzen klar. So etwas hat es früher schon gegeben, und die Schuldigen haben dafür büßen müssen. «Er machte eine bedeutsame Pause.»Das war bisher jedesmal ein Ende am Strick.»

Der Mann tippte sich mit der Faust an die Stirn und eilte auf den Flur hinaus. Ferguson sah ihm mit offensichtlichem Mißfallen nach.»Alles klar, Sir?«fragte er besorgt.

«Im Augenblick ja, danke. «Er zog seine Uhr.»Lassen Sie nach meiner Gig signalisieren. «Ferguson machte ein enttäuschtes Gesicht.»Ich komme später noch einmal an Land, aber da ist noch verschiedenes zu erledigen.»

Eine Stunde später kletterte Bolitho durch die goldbronzierte Fallreepspforte an Bord und lüftete den Hut zum Trillern der Bootsmannsmaatenpfeifen und dem Stampfen des Musketen.

Keverne sah äußerst besorgt aus.»Der Schiffsarzt macht sich Sorgen um den Admiral, Sir«, berichtete er.»Es geht ihm sehr schlecht, und ich fürchte.»

Bolitho warf einen Blick auf Allday, dem die Neugier im Gesicht geschrieben stand, seit die Gig am Kai festgemacht hatte.

«Die Rudergasten sollen sich bereit halten, Allday. Ich werde sie bald wieder brauchen. «Damit ging er nach achtern und hinunter in die Admiralskajüte.

Der Admiral lag reglos in seiner Koje, noch kleiner und zerbrechlicher als sonst. Er hatte die Augen geschlossen. Hemd und Taschentuch waren blutbefleckt.

Bolitho sah den Schiffsarzt an, einen mageren, drahtigen Mann mit ungewöhnlich großen, haarigen Händen.

«Nun, Mr. Spargo?»

Der hob die Schultern.»Ich weiß nicht recht, Sir. Eigentlich müßte er an Land. Ich bin schließlich nur ein Schiffsarzt. «Wieder zuckte er die Achseln.»Aber die Anstrengung könnte gerade jetzt tödlich sein.»

Bolitho nickte. Er hatte sich entschlossen.»Dann lassen Sie ihn hier, und passen Sie gut auf ihn auf. «Und zu Keverne:»Kommen Sie mit hinauf in meine Kajüte.»

Stumm ging Keverne hinter ihm her, bis sie in der großen Kajüte waren, die über die ganze Breite der Kampanje ging. Durch die offenen Heckfenster hatte man einen wunderbaren Blick auf St. Anthony's Head. Es sah aus, als ob der Leuchtturm leise schwanke, denn das Schiff wiegte sich majestätisch im Tidenstrom.

«Ich gehe wieder an Land, Mr. Keverne. «Er mußte aufpassen, daß er den Ersten nicht mit in die Sache hineinzog; aber andererseits mußte er soweit informiert werden, daß er wußte, was er zu tun hatte, falls der Plan danebenging.

Kevernes Gesicht glich einer Maske.»Sir?»

Bolitho löste seinen Degen aus dem Gehänge und legte ihn auf den Tisch.»Von Vizeadmiral Broughton gibt es noch keine Nachricht. Auch keine Anzeichen von Unruhen an Land. Captain Rooks Boote kommen längsseit, sobald unsere Leute gegessen haben, und dann können Sie mit der Übernahme von Vorräten weitermachen — den ganzen Nachmittag und bis in den Abend, wenn die See ruhig bleibt.»

Keverne wußte, daß noch etwas kommen würde, und wartete.

«Sir Charles ist sehr krank, wie Sie ja selbst gesehen haben. «Warum zeigte Keverne nicht ein bißchen Neugier, wie Herrick es getan hätte, als er noch sein Erster gewesen war.»Sie haben also das Kommando, bis ich zurück bin.»

«Wann wird das sein, Sir?»

«Weiß ich nicht. Spät in der Nacht vielleicht.»

Jetzt wurde Keverne endlich neugierig.»Kann ich Ihnen irgendwie helfen, Sir?«Er machte eine Pause.»Wird es Ärger geben?»

«Nicht, wenn ich's verhindern kann. Ich hinterlasse Ihnen schriftliche Order, nach der Sie handeln werden, falls ich länger als diese Nacht aufgehalten werde. Sie werden sie dann öffnen und Schritte — «, erhob die Hand — ,»nein, alle notwendigen Schritte unternehmen, um die Befehle unverzüglich auszuführen. «Er versuchte, sich über die Landkarte klarzuwerden, die er im Kopfe hatte. Die Euryalus würde mehr als zwei Stunden brauchen, um Anker zu lichten und die Veryan Bay zu erreichen; und dann würde der Anblick ihrer schweren Kanonen sehr bald auch das tapferste Herz zur Unterwerfung veranlassen. Aber bis dahin konnte es zu spät sein.

Warum nicht jetzt gleich in See gehen? Niemand würde ihn deswegen tadeln, ganz im Gegenteil. Er runzelte die Stirn. Nein, auf keinen Fall. Hier wurde ein neues Geschwader aufgestellt. Und jetzt, da der Krieg in seine gefährlichste Phase trat, wäre es ein schlechter Anfang, wenn das Flaggschiff ein vor Anker liegendes eigenes Schiff zu blutigen Fetzen zusammenschießen mußte, bloß weil er nicht die Nerven gehabt hatte, es anders zu machen.

Überraschenderweise zeigte Keverne lächelnd seine ebenmäßigen Zähne.»Ich bin nicht achtzehn Monate mit Ihnen gefahren, Sir, ohne etwas von Ihren Methoden gelernt zu haben. «Das Lächeln schwand.»Und ich hoffe, ich besitze Ihr Vertrauen.»

Jetzt lächelte Bolitho.»Ein Kommandant kann allenfalls seine Gedanken mit jemandem teilen, Mr. Keverne. Die Verantwortung bleibt immer bei ihm selbst, wie Sie eines Tages noch merken werden. «Wenn es heute nacht schiefgeht, dachte er trübe, dann könntest du früher befördert werden, als du glaubst.

Trute, der Kajütsteward, spähte vorsichtig durch die Tür und fragte:»Darf ich den Tisch zum Lunch decken, Sir?»

Keverne sagte:»Ich werde mich um die Leute kümmern, Sir. «Abwesend sah er einen Moment zu, wie Trute sich mit Tellern und Bestecken zu schaffen machte.»Ich bin froh, wenn wir erst wieder auf See sind. «Ohne ein weiteres Wort ging er hinaus.

Mißmutig saß Bolitho an seiner einsamen Tafel und stocherte in der kalten Kaninchenpastete herum, die Rook von Land geschickt haben mußte. Er überdachte nochmals, was Taylor ihm erzählt hatte. Die Tatsache, daß dieser unbehelligt nach Falmouth hereingekommen war und das Haus der Bolithos so schnell gefunden hatte, sprach Bände und ließ darauf schließen, daß andere wachsame Augen in nächster Nähe waren, bereit, der Auriga Nachrichten zu übermitteln. Jeder Täuschungsversuch, etwa die Landung von Seesoldaten am Kai, würde sofort Verdacht erregen; der Kommandant der Auriga war dann in größter Gefahr, und die Konsequenzen mußten furchtbar sein.

Ärgerlich stand er auf. Wann endlich wurden solche Männer ein für allemal aus der Flotte ausgestoßen? Eine neue Generation Seeoffiziere wuchs heran, die wußte, daß die Mannschaft einen um so höheren Kampf wert hatte, je besser ihre Lebensbedingungen waren. Aber hier und da gab es immer noch Schinder und Tyrannen, oft Männer, die höherenorts Einfluß hatten, und die man erst bei solchen Gelegenheiten wie dieser maßregeln oder entlassen konnte — wenn es zu spät war.

Trute kam wieder herein und sah ihn besorgt an.»Hat Ihnen die Pastete nicht geschmeckt, Sir?«Er stammte aus Devon, und Leute aus Cornwall waren ihm ein bißchen unheimlich — Bolitho auch.

«Später vielleicht. «Bolitho warf einen Blick auf seinen Degen.

Er war so alt und abgegriffen; auf allen Familienporträts war er schon abgebildet.»Den lasse ich in Eurer Obhut. «Er gab sich Mühe, möglichst normal zu sprechen.»Ich nehme meinen Entersäbel mit — und Pistolen.»

Trute starrte auf den Degen.»Den wollen Sie hierlassen, Sir?»

Bolitho ging nicht darauf ein.»Jetzt geben Sie durch, daß mein Bootsführer kommen soll.»

Allday war ebenso überrascht.»Ohne Ihren Degen, das ist nicht richtig, Captain. «Er schüttelte den Kopf.»Was denn nun noch alles!»

«Ich habe Ihnen schon oft gesagt«, fuhr Bolitho ihn an,»daß Sie eines Tages den Mund noch mal zu weit aufreißen werden. Sie sind nicht alt und weise genug, als daß ich Ihnen nicht mal eine verpasse!»

«Aye, aye, Captain«, grinste Allday.

Es war hoffnungslos.»Wir gehen zusammen an Land. Kennen Sie den >Drachenkopf

Allday wurde ernst.»Aye. In der Veryan Bay. Der Wirt ist'n alter, scheeläugiger Schurke. Ein Auge nach vorn, das andere beinah' nach achtern, aber er ist so schlau wie'n Midshipman hungrig.»

«Gut. Dahin gehen wir.»

Allday runzelte die Stirn, als Trute hereinkam und ein Paar Pistolen und einen krummen Entersäbel auf den Tisch legte.»Ein Duell, Cap-tain?«fragte er naiv.

«Lassen Sie die Gig holen. Dann richten Sie Mr. Keverne mein Kompliment aus, und ich ginge von Bord, sobald ich seine Orders fertig hätte.»

Bolitho ging noch einmal zum Admiral; aber dessen Befinden war kaum verändert. Er schien ruhig zu schlummern; sein runzliges Gesicht wirkte im Schlaf etwas entspannter.

An Deck wartete Keverne schon.»Gig längsseit, Sir. «Keverne blickte hoch zu der schlaffen Flagge.»Der Wind ist für die nächste Zeit gestorben, glaube ich.»

Bolitho knurrte. Es war, als wolle Keverne ihn warnen: daß er, sobald er von Bord ging, allein war und nicht damit rechnen konnte, daß ihm das Schiff zu Hilfe käme. Er verfluchte seine eigene Unsicherheit. Keverne hatte doch keine Ahnung, worum es ging; und überhaupt, was konnte er anderes tun? Zu warten, bis der Admiral kam, hieße nur, sich vor der Verantwortung zu drücken, die er freiwillig übernommen hatte.»Passen Sie gut auf das Schiff auf«, sagte er kurz und kletterte dann zu dem wartenden Boot hinunter.

Als sie am Kai waren, stieg er die Stufen hinauf, blieb stehen und schaute zurück. Da lag sein Schiff wie eingerahmt im blauen Wasser unter dem klaren Himmel, unzerstörbar, wie auf ewig. Eine Illusion, dachte er grimmig. Kein Schiff ist stärker als die Männer, die auf ihm dienen.

Kritisch sah Allday zu, wie der Bootsmannsmaat die Gig von den Steinen wegmanövrierte und sich zur Rückfahrt anschickte.»Was jetzt, Captain?»

«Zum Haus. Ich habe noch etwas zu erledigen, und wir brauchen zwei Pferde.»

Er faßte sich an die Brust und fühlte das Medaillon unter seinem Hemd. Cheney hatte es ihm geschenkt, es enthielt eine Locke ihres herrlichen braunen Haares. Er würde es zu Hause lassen. Was heute nacht auch geschah, keiner sollte mit seinen dreckigen Pfoten dieses Medaillon anfassen.

«Ein schöner Tag«, sprach er langsam weiter.»Schwer, dabei an Krieg und dergleichen zu denken.»

«Aye, Captain«, stimmte Allday zu,»ein Krug Bier und eine Frauenstimme, das wäre jetzt nicht schlecht.»

Aber nun hatte es Bolitho auf einmal eilig.»Na, dann los, Allday. Wenn der Ofen heiß ist, muß man Brot backen. Hat keinen Zweck, die Zeit mit Träumen zu vergeuden.»

Bereitwillig ging Allday hinter ihm her, ein Lächeln auf den Lippen. Wie auf See war wieder mal alles drin. Was der Captain auch vorhatte, es schien ihn nicht nur zu bedrücken, sondern auch wütend zu machen, also würde jemand noch vor dem Morgenrot kräftig eins auf den Kopf kriegen.

Beim Gedanken an Bolithos Worte verzog er das Gesicht. Ein Bramsegel oder eine Pardune — mit beiden wurde er fertig. Auch eine zimperliche Frau ging noch an. Aber ein Pferd! Er rieb sich den Hintern. Wenn wir erst im» Drachenkopf «sind, dachte er düster, dann brauche ich mehr als nur einen Krug Bier.

Kurz vor Sonnenuntergang saßen sie auf, aber als sie den Fluß über eine kleine Furt hinter Falmouth durchritten, wurde es schon schnell dunkel. Doch Bolitho kannte die Gegend wie seinen Handrücken und ritt in flottem Trab voran; der unglückliche Allday folgte ihm, bis sie an den engen, gewundenen Feldweg kamen, der zur Bucht führte. Stellenweise war er sehr steil, die Baumwipfel berührten sich beinahe in der Höhe, und aus dem dichten Gebüsch am Wegrand kamen die Geräusche aufgeschreckter Tiere. Dann eine scharfe Biegung: ein paar Minuten lang hatten sie den Strand im Blickfeld, etwas weiter draußen die weißen Linien der Brandung und die mächtigen Steine, die wie schwarze Zähne am Fuß der hohen Klippen lagen.

«Mein Gott, Captain«, keuchte Allday,»dieser Gaul hat keinen Respekt vor meinem Hintern!»

«Still, zum Teufel!«Bolitho parierte sein Pferd am Kamm der nächsten Erhebung und spähte angestrengt auf eine dunkle Linie dichten Gestrüpps.

Der Rand der Steilküste verliefjetzt wieder landeinwärts und reichte wahrscheinlich bis auf ein paar Meter an die Büsche heran. Dahinter glänzte matt das Meer, so glatt wie ein Zinnteller. Doch die Bucht lag in tiefem Schatten — vielleicht war überhaupt kein Schiff da. Aber ebenso konnten es ein halbes Dutzend sein.

Ein kleiner Schauer überlief ihn, und er war ganz froh, daß er sich von Mrs. Ferguson hatte überreden lassen, den dicken Bootsmantel anzuziehen. Hier oben war es kalt und die Luft feucht. Vor Sonnenaufgang würde wieder Nebel aufkommen.

Er hörte Alldays schweren Atem neben sich und sagte:»Nicht mehr weit. Der Gasthof liegt ungefähr eine halbe Meile vor uns.»

«Das alles gefällt mir nicht, Captain«, knurrte Allday.

«Es muß Ihnen auch nicht gerade gefallen. «Bolitho sah ihn an. Er hatte Allday in den Grundzügen gesagt, worum es ging, aber nicht mehr. Gerade so viel, damit er sich in Sicherheit bringen konnte, falls etwas schiefging.»Sie haben doch hoffentlich nicht vergessen. «Er brach ab und packte Allday am Arm.»Was war das?»

Allday stellte sich in die Steigbügel.»Ein Hase vielleicht?»

Der Anruf kam so plötzlich wie ein Schuß.»Stehenbleiben! Und die Hände so hoch, daß wir sie sehen können!»

«Bei Gott, ein verdammter Hinterhalt!«Allday griff nach seinem Entersäbel.

«Laß das!«Bolitho riß sein Pferd herum und schlug Allday die Hand vom Säbelgriff.»Genau das habe ich erwartet, Mann!»

«Sachte, Käpt'n!«sprach die Stimme von vorhin.»Wir wollen Ihnen ja nichts tun, aber.»

Eine andere Stimme, härter und gespannter, fuhr dazwischen:»Wir haben keine Zeit zu verlieren! Entwaffne sie, und zwar schnell!»

Es schienen etwa drei Mann zu sein. Eine schattenhafte Gestalt griff an Alldays Seite und befreite ihn von seinem Entersäbel. Bolitho hörte, wie der Stahl klirrend auf den steinigen Weg fiel. Neben ihm tauchte ein anderer Mann aus dem Dunkel auf.»Und Sie auch, Sir. Sie haben doch bestimmt Pistolen mit?»

Bolitho reichte sie ihm zusammen mit dem Säbel hinunter und sagte kaltblütig:»Ich habe ja gehört, daß es eine Vertrauenssache ist, aber ich wußte nicht, daß das Vertrauen einseitig sein soll.»

Der Mann zögerte.»Wir riskieren eine ganze Menge, Käpt'n. Sie hätten ja Miliz mitbringen können. «Er schien etwas Angst zu haben.

Der andere, der sich noch nicht hatte sehen lassen, rief dazwischen:»Nehmt die Pferde beim Kopf und führt sie!«Und nach einer kurzen Pause:»Ich bleibe achtern. Eine falsche Bewegung, und ich schieße ohne langes Palaver!»

«So eine Frechheit«, murmelte Allday.»Den Saukerl schnappe ich mir noch.»

Bolitho blieb stumm und ließ den Mann das Pferd führen. Er hatte es nicht anders erwartet. Nur ein Dummkopf hätte bei einem solchen Treffen die elementarsten Vorsichtsmaßregeln außer acht gelassen.

Wahrscheinlich war man ihnen schon während der letzten paar Minuten gefolgt. Der Hufschlag ihrer Pferde hatte die Geräusche wohl überdeckt.

An der Wegbiegung leuchtete ein einzelnes Licht auf, und er sah die weißlichen Umrisse des Gasthofes. Ein kleines schäbiges Bauwerk, das im Lauf der Jahre mehrfach um- und ausgebaut worden war — offenbar ohne viel Sinn für architektonische Schönheit.

Der Mond schien nicht, und die Sterne sahen ganz winzig aus. Es war auch kälter geworden; die See lag nicht weit entfernt, wie Bolitho wußte. Ein rauher, gefährlicher Pfad von etwa einer halben Meile führte zum Fuß der Klippen. Kein Wunder, daß der Gasthof bei den Schmugglern als sicherer Ort galt.

«Absitzen!»

Vom Hause her kamen noch zwei Gestalten, und als Bolitho sich aus dem Sattel schwang, sah er Metall glitzern.»Mir nach!»

Im Gastzimmer mit dem niedrigen Gebälk brannte nur eine Laterne, aber nach dem stockfinsteren Feldweg wirkte sie wie ein Leuchtturm. Der Raum stank nach Bier und Tabak, Speck und Dreck.

Der Wirt trat ins Lampenlicht, sich die Hände an einer langen schmutzigen Schürze reibend. Er sah genauso aus, wie Allday es beschrieben hatte: sein eines Auge schielte so stark, als wolle es aus der Höhle fallen.

«Hab nichts mit zu tun, Sir«, winselte er dünn.»Bitte vergessen Sie das nich'!«Er richtete sein gesundes Auge auf Bolitho und jammerte weiter:»Ich hab Ihren Vater gekannt, Sir, ein feiner Mann!»

«Halt's Maul!«blaffte die Stimme dazwischen.»Ich häng' dich an deinen eigenen Deckenbalken auf, wenn du nicht mit diesem Gewinsel aufhörst!»

Der Gastwirt kroch wieder in den Schatten zurück, und Bolitho wandte sich langsam um. Der Sprecher war etwa dreißig; sein Gesicht war rot, aber nicht so gegerbt, wie man es bei einem Seemann erwartet hätte. Er war recht gut gekleidet: einfacher blauer Rock und frischgewaschenes Hemd. Ein intelligentes, hartes Gesicht. Ein Mann, der wahrscheinlich zu Wutausbrüchen neigte.

«Ich sehe Taylor nicht.»

Der Mann, offenbar der Anführer, erwiderte kalt:»Er ist bei den Booten.»

Bolitho sah sich die anderen an: vier, und draußen waren wahrscheinlich noch zwei. Lauter Matrosen. Sie schienen sich außerordentlich unbehaglich zu fühlen und blickten mit einer Mischung aus Angst und Resignation ihren Sprecher an.

«Setzen Sie sich bitte, Captain. Ich habe Ale bestellt. «Er lächelte höhnisch.»Aber vielleicht möchte ein Gentleman wie Sie lieber Brandy?»

Der Mann wollte offensichtlich provozieren.»Ale ist mir sehr willkommen«, antwortete Bolitho gelassen, knöpfte sich den Mantel auf und ließ sich in einen Stuhl fallen.»Ihr seid der gewählte Delegierte?»

«Bin ich. «Mit wachsender Nervosität sah er zu, wie der Wirt einen schäumenden Tonkrug mit Ale und ein paar Humpen anbrachte.»Du bleibst in deiner Küche!»

Etwas ruhiger fuhr er fort:»Nun, Captain, haben Sie sich entschlossen, unsere Bedingungen anzunehmen?»

«Ich wüßte nicht, daß wir irgend etwas abgesprochen hätten. «Bo-litho hob den Humpen und merkte mit Befriedigung, daß seine Hand noch ruhig war.»Ihr habt ein Schiff in eure Gewalt gebracht. Das ist Meuterei, und wenn ihr weiter auf eurem Plan beharrt, auch noch Hochverrat.»

Seltsamerweise schien der Mann eher befriedigt als zornig zu sein.»Da hört ihr's, Jungs! Mit solchen Leuten ist nicht zu verhandeln. Statt Zeit zu vergeuden, hättet ihr gleich auf mich hören sollen!»

Ein grauhaariger Deckoffizier fuhr dazwischen:»Sachte! Vielleicht erzählst du ihm erst mal das andere, worüber wir uns geeinigt haben?»

«Du Narr!«Der Sprecher wandte sich wieder an Bolitho.»Ich wußte, daß es so kommen würde. Die Jungs in Spithead haben gewonnen, weil sie zusammengehalten haben. Nächstes Mal lassen wir uns durch keine verdammten Versprechungen auseinanderbringen!»

Der Deckoffizier sagte rauh:»Würden Sie sich bitte dieses Buch ansehen, Sir. «Er schob es über den Tisch und blickte Bolitho dabei fest ins Gesicht.»Dreißig Jahre fahre ich zur See, als Junge und als Mann, und ich war noch nie an so einer Geschichte beteiligt, bei Gott nicht,

Sir.»

«Deswegen hängen sie dich doch, du Narr«, sagte der Sprecher verächtlich.»Aber zeig's ihm ruhig, wenn dir davon besser wird.»

Bolitho schlug das leinengebundene Buch auf und durchblätterte die Seiten. Es war das Strafbuch der Fregatte; und als er die saubergeschriebenen Eintragungen überflog, drehte sich ihm vor Abscheu der Magen um.

Keiner der Männer konnte wissen, was das Buch für ihn bedeutete. Sie versuchten nur, ihm zu zeigen, was sie durchgemacht hatten. Aber grundsätzlich sah sich Bolitho bei jedem Schiff, das er übernahm, zuerst das Strafbuch an. Er war überzeugt, daß es besser als alles andere zeigte, was der vorherige Kommandant für ein Mensch war.

Er wußte, daß sie ihn beobachteten, und spürte die Spannung im Raum wie etwas Körperliches. Die meisten der aufgeführten Vergehen waren banal und ziemlich typisch: ungebührliches Betragen, Ungehorsam, mangelnde Sorgfalt im Dienst, Unverschämtheit. Er wußte aus Erfahrung, daß sie größtenteils nicht viel mehr bedeuteten als Unwissenheit des Betreffenden.

Aber die Strafen waren furchtbar. Allein in einer Woche, in der die Auriga Patrouille vor Le Havre gefahren war, hatte der Kommandant insgesamt tausend Peitschenhiebe verhängt. Zwei Mann waren in dieser Woche zweimal ausgepeitscht worden; einer war daran gestorben.

Er klappte das Buch zu und sah hoch. Es gab dazu viele Fragen. Warum hatte der Erste Offizier nichts unternommen, um dieser Brutalität Einhalt zu gebieten? Aber das war natürlich Unsinn. Was hätte zum Beispiel Keverne dagegen tun können, wenn sein Kommandant solche Strafen verhängt hätte? Bei dieser Vorstellung stieg plötzliche Wut in Bolitho hoch. Er hatte oft genug bemerkt, wie die Leute ihn ansahen, wenn etwas nicht klappte. Und das kam gar nicht so selten vor, denn die Bedienung eines Linienschiffes war eine komplizierte, schwere Arbeit. Manchmal lag wildes Entsetzen in diesen Blicken, und das machte ihn jedesmal ganz krank. Der Kommandant, jeder Kommandant, kam gleich nach Gott, soweit es die Mannschaft betraf: ein höheres Wesen, das mit einer Hand Beförderungen und mit der anderen die schlimmsten Strafen austeilen konnte. Der Gedanke, daß manche, wie der Kommandant der Auriga, diese Macht mißbrauchten, war abscheulich.

Langsam sagte er:»Ich möchte an Bord kommen und mit Ihrem Kommandanten sprechen. «Ein paar Männer wollten gleichzeitig etwas sagen, aber er sprach weiter:»Ohne das kann ich nichts tun.»

Der Hauptdelegierte sagte:»Sie mögen ja die anderen eingewickelt haben, aber ich durchschaue Sie. «Zornig fuhr er mit der Hand durch die Luft.»Zuerst tun Sie, als ob Sie Mitgefühl mit uns haben, und dann liefern Sie uns an den Galgen, damit jeder Seemann sieht, was es einbringt, einem Offizier zu trauen!»

Allday fluchte und wollte aufspringen, sah aber Bolitho nur hilflos an, als dieser sagte:»Nur Ruhe, Allday! Wenn ein Mann denkt, es ist Zeitverschwendung, ein Unrecht gutzumachen, dann hat es keinen Sinn, mit ihm zu diskutieren.»

«Aye«, brummte einer der Matrosen.»Was is'n dabei, wenn der Käpt'n an Bord kommt? Wir können ihn ja als Geisel mitnehmen, wenn er uns reinlegt.»

Zustimmendes Gemurmel — sekundenlang wußte der Anführer nichts einzuwenden, das sah Bolitho recht gut.

Er riskierte daher den nächsten Zug.»Wenn ihr andererseits nicht die Absicht hattet, Gerechtigkeit zu suchen, sondern lediglich einen Vorwand wolltet, um mit dem Schiff zum Feind überzulaufen — «, er ließ das Wort einen Moment in der Luft hängen — ,»für diesen Fall muß ich euch allerdings darauf hinweisen, daß ich bereits gewisse Anordnungen getroffen habe, um euch zuvorzukommen.»

«Er blufft!«Aber die Stimme des Mannes klang nicht mehr so sicher.»Hier ist meilenweit kein Schiff!»

«Bei Sonnenaufgang kommt wieder Nebel auf. «Bolitho steckte die Hände unter die Tischplatte, weil er wußte, daß sie vor Erregung oder Schlimmerem zitterten.»Erst im Laufe des Vormittags könnt ihr Segel setzen. Ich kenne die Bucht genau — sie ist zu gefährlich. «Seine Stimme wurde härter.»Ganz besonders ohne eure Offiziere!»

Der Deckoffizier murmelte:»Da hat er recht, Tom. «Er streckte den Kopf vor.»Warum sollen wir 's nicht so machen, wie er sagt? Anhören kann doch nicht schaden.»

Nachdenklich betrachtete Bolitho den Anführer. Tom war also sein Name. Immerhin ein Anfang.

«Hol der Satan eure Augen, allesamt!«schrie dieser, kirschrot vor Jähzorn.»Delegierte wollt ihr sein? Ein Haufen alter Weiber seid ihr!»

Aber seine Wut verflog so rasch, wie sie gekommen war, und Bo-litho mußte wieder an Keverne denken.»Also gut, einverstanden«, sagte der Mann grob und deutete auf den alten Unteroffizier.»Du bleibst hier mit einem Mann als Ausguck. «Und mit einem feindseligen Blick auf Allday:»Diesen Lakaien da kannst du als Geisel hierbehalten. Wenn wir ein entsprechendes Signal geben, legst du ihn um. Wenn uns irgendeiner angreift, schießen wir sie alle beide tot und hängen sie neben unseren ehemaligen Herrn und Gebieter — recht so?»

Der Deckoffizier zuckte zusammen, nickte aber.

Mit einem Blick in Alldays finsteres Gesicht sagte Bolitho:»Sie wollten Ruhe und ein Bier. Jetzt haben Sie beides. «Dann legte er ihm kurz die Hand auf die Schulter und konnte dabei den Zorn und die Gespanntheit des Mannes beinahe fühlen.»Es wird schon klargehen. «Er versuchte, seinen Worten etwas mehr Gewicht zu geben.»Wir kämpfen ja schließlich nicht gegen den Landesfeind.»

«Das werden wir sehen. «Der Mann namens Tom machte eine spöttische Verbeugung und öffnete die Tür.»Jetzt gehen Sie vor und verhalten sich anständig. Es macht mir gar nichts aus, wenn ich Sie auf der Stelle niederhauen muß!»

Ohne zu antworten, schritt Bolitho in die Dunkelheit hinaus. Sie hatten die ganze Nacht vor sich, aber bis zum Morgengrauen mußte noch viel getan werden, wenn es Hoffnung auf Erfolg geben sollte. Während er eilig den steilen Pfad hinunterstieg, dachte er wieder an das Strafbuch. Es war eigentlich überraschend, daß sich Männer, die solche Unmenschlichkeiten erduldet hatten, noch die Mühe machten, Gerechtigkeit zu suchen, und das durch Mittel, von denen sie kaum etwas verstanden. Noch überraschender war, daß die Meuterei nicht schon vor Monaten ausgebrochen war. Diese Erkenntnis machte ihm Mut, obwohl er wußte, daß sie nur eine unsichere Grundlage darstellte.

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