XVI Ein Ehrenhandel

Langsam, beinahe angstvoll, öffnete Bolitho die Augen. Es schien ewig zu dauern, bis er klar sehen konnte. Er mußte sich zusammennehmen, um dem furchtbaren Schmerz standzuhalten, der todsicher gleich kommen mußte. Wie Eiswasser rann ihm der Schweiß über Gesicht und Hals, doch obwohl er ängstlich gespannt darauf wartete, spürte er gar nichts. Er versuchte, sich zu bewegen, gab sich Mühe, die Geräusche der See oder der knarrenden Balken zu hören, doch vernahm er keinen Ton. Seine Unsicherheit drohte in Panik umzuschlagen, denn alles um ihn war so still, so völlig lautlos, und beinahe dunkel — wie in einem Grabgewölbe.

Mühsam versuchte er, sich aufzustützen, aber da schoß es ihm wie glühender Stahl durch die Schulter, bis er glaubte, sein Herz würde aussetzen. Er knirschte mit den Zähnen, kniff die Augen zu, um den Schmerz zu überwinden, doch er versank wieder in seinen Fiebertraum. Wie lange lag er schon so? Tage, Stunden — oder war es eine Ewigkeit, seit er… Er konzentrierte seine schwindende Willenskraft darauf, sich zu erinnern, seinen Geist davor zu bewahren, daß er unter dem Druck des körperlichen Schmerzes zusammenbrach.

Er erinnerte sich an Gestalten und Stimmen, schwebende Gesichter und die unbestimmten Bewegungen des Schiffes. Gewisse wenn auch kurze Episoden traten deutlicher hervor, doch ungeordnet und anscheinend beziehungslos. Inch, der ihm an Deck etwas Weiches unter den Kopf schob. Und Alldays schreckensstarres Gesicht, das sich bald von dieser, bald von jener Seite über ihn beugte. Auch hörte er sich selbst sprechen und versuchte, sich zuzuhören, als stünde er bereits neben sich selbst, und sein Geist schwebe über seiner sterbenden Hülle wie ein etwas neugieriger, aber unbeteiligter Zuschauer.

Auch andere Gesichter waren darunter gewesen, die ihm irgendwie bekannt vorkamen: ernst, jung, ruhevoll, traurig. Immer wieder hatte seine Stimme zeitweilig ausgesetzt, doch einmal, als er sich in der erstickenden Dunkelheit laut schreien hörte, hatte ein Unbekannter beruhigend gesagt:»Ich bin Angus, Sir, Schiffsarzt der Coquette.«Bolitho versteifte sich, aufs neue rann ihm der Schweiß aus allen Poren. Dieses Gesicht und die bloße Erinnerung an die gelassenen Worte brachten ihm die Wirklichkeit, den Schock seiner Verwundung wieder nahe. Wild und unbewußt hatte er gegen den Schmerz, gegen die Unfähigkeit, sich verständlich zu machen, gegen die tastende Hand des Arztes angekämpft.

Mit verzweifeltem Aufstöhnen versuchte er, die Schulter zu bewegen, in Arm und Fingern Gefühl zu entdecken. Nichts.

Er wurde wieder schlaff, vergaß den brennenden Schmerz, empfand nur noch die bohrende Verzweiflung, die ihn für alles andere blind machte.

Wie aus innerster Seele hörte er sich schreien:»O Cheney, Cheney, hilf mir! Sie haben mir den Arm abgenommen!»

Sofort scharrten Stuhlbeine über Steinboden, Schritte kamen auf ihn zu. Jemand rief:»Er kommt wieder zu sich! Sagt Bescheid!»

Sanft legte sich ein kühles Tuch über seine Stirn; und als er die Augen wieder öffnete, sah er Allday, der auf ihn niederblickte; seine harten Hände stützten ihm den Kopf, damit jemand anderer ihm den Schmerzens — und Angstschweiß abwischen konnte.

Er erinnerte sich jetzt an diese Hände. Sie hatten ihn gehalten, hatten sich fest an seine Schläfen gedrückt, um den ersten Schmerz von Angus' Sonde zu lindern.

Wie aus weiter Ferne hörte er Alldays Stimme:»Captain — wie geht's?»

Bolitho starrte zu ihm auf, so überrascht, Tränen in Alldays Augen zu sehen, daß er im Moment seine eigenen Schmerzen vergaß.

«Ist ja gut, Allday«, antwortete er,»ist ja schon gut!«Wie heiser seine Stimme klang!

Noch mehr Gesichter umschwebten ihn; Angus schob die anderen zur Seite, tastete nach seinem Puls, und dann fiel ihn wieder der Schmerz an, so daß er laut aufstöhnte.»Mein Arm?«konnte er noch fragen.»Sagen Sie's mir!»

Angus sah ihn an, gelassen, ohne zu lächeln.»Glauben Sie mir, Sir, er ist noch dran. Aber es ist zu früh, um etwas Bestimmtes zu sagen. Besser, man ist auf alles vorbereitet.»

Er verschwand aus Bolithos Blickfeld und sagte:»Sofort Verbandswechsel. Und er muß was essen. Kräftige Fleischbrühe und ein bißchen Brandy.»

Mühsam wandte Bolitho die Augen zu Allday hin.»Wo bin ich?»

«In der Festung, Captain. Die Hekla hat Sie vor zwei Tagen hergebracht.»

Zwei Tage. Aber er wollte es genau wissen.»Und vorher?«»Die Hekla hat zwei Tage bis hierher gebraucht, Captain. «Es klang ganz verzweifelt.»Ich dachte, wir schaffen's überhaupt nicht mehr bis zu diesem verdammten Steinkasten.»

Also im ganzen vier Tage. Zeit genug, daß die Wunde an zu eitern fing. Warum sollte er nicht ebensogut der Wahrheit ins Auge sehen wie Angus? Er hatte weiß Gott oft genug erlebt, wie es anderen passierte.

Ganz ruhig fragte er:»Also, wie ist das — und keine Lügen, um mich zu schonen — , muß der Arm ab?»

Wieder sah er die elende Hilflosigkeit in Alldays Augen.

«Nein, Captain. Bestimmt nicht. «Er versuchte zu lächeln, aber das machte es nur schwerer.»Wir haben schon Schlimmeres durchgestanden. Also reden Sie nicht solches Zeug.»

«Sie dürfen nicht so viel sprechen, Sir. «Wieder schwamm Angus' Gesicht über ihm.»Sie werden ruhen, bis der Verband gewechselt wird. Dann müssen Sie eine Kleinigkeit essen. «Er hielt etwas gegen das Licht, ein mattglänzendes, abgeflachtes Stückchen Metall.

«Diese arabischen Musketen sind manchmal sehr treffsicher. Die Kugel hätte Sie bestimmt getötet, wenn Sie sich nicht gerade umgedreht hätten. «Er lächelte ernsthaft.»Also müssen wir zumindest dafür dankbar sein, wie?»

Eine Tür knarrte, und er fügte hinzu:»Aber Sie haben eine ausgezeichnete Pflegerin. «Er machte eine Kopfbewegung zur Tür hin.»Kommen Sie, Mrs. Pareja. Der Kommandant ist gleich soweit.»

Ungläubig sah Bolitho sie herankommen. Vielleicht schwebte er immer noch im Fiebertraum?

Sie blieb stehen und sah auf ihn nieder, sehr bleich unter dem langen schwarzen Haar, ernst, ohne Lächeln. Und schön. Nur schwer konnte man sie sich an Bord der Navarra vorstellen, wie der Kopf ihres toten Mannes auf ihrer blutigen Schürze geruht und sie Bolitho so voll Zorn und bitterer Verzweiflung angestarrt hatte.

«Sie sehen schon viel besser aus«, sagte sie.

«Danke für alles, was Sie getan haben. «Er fühlte sich auf einmal völlig hilflos und leer unter ihrem kühlen Blick und konnte nicht weitersprechen.

Lächelnd zeigte sie ihre starken weißen Zähne.»Jetzt sehe ich, daß Sie wieder gesund werden. Es war schlimm, was Sie in den letzten beiden Tagen alles gesprochen haben.»

Sie lächelte immer noch, als Angus den Verband aufschnitt und nach allen Regeln der Kunst einen neuen anlegte.

Wortlos musterte Bolitho sie. Die ganze Zeit war sie hier bei ihm gewesen, hatte gesehen, wie er gegen die Schmerzen kämpfte, hatte sich um seine körperlichen Bedürfnisse gekümmert, während er hilflos war. Er war sich seiner Nacktheit unter der Bettdecke bewußt, seiner vom Schweiß verfilzten Haare, und er schämte sich.

«Anscheinend sind Sie schwer umzubringen.»

Während Angus seine Schale mit den blutigen Verbandsfetzen we g-räumte, sah sie Allday an und sagte zu ihm:»Gehen Sie und ruhen Sie sich aus. «Und als er zögerte:»Weg mit Ihnen, Mann! Sie haben weiß Gott keine Ruhe gehabt, seit Sie zurück sind, und, soviel ich gehört habe, überhaupt keine, seit Ihr Pflegling hier verwundet wurde.»

Bolitho bewegte seinen linken Arm unter der Decke und sagte leise:»Meine Hand!»

Allday hob die Decke an und nahm Bolithos Finger in die seinen. Bolitho fühlte den Schweiß über seine nackte Brust rinnen, als er mit dem Rest seiner Kraft Alldays Hand drückte.

«Tun Sie, was sie sagt, Allday. «Er versuchte, ihm nicht ins Gesicht zu sehen.»Ich schlafe besser, wenn ich weiß, daß Sie munter und kräftig sind, sobald ich Sie brauche. «Er zwang sich zu lächeln.»Wahre Freunde sind kostbar.»

Allday verschwand, und die Tür fiel ins Schloß.

Als Bolitho Mrs. Pareja wieder ansah, glänzten Tränen in ihren Augen. Sie schüttelte ärgerlich den Kopf.»Verdammt, Captain, aber es stimmt, was man sagt! Sie behexen alle, die in Ihre Nähe kommen. Das muß die Kornische Magie in Ihnen sein!»

«Ich fürchte, diese angebliche Magie kommt von den anderen, Mrs. Pareja.»

Sie setzte sich an sein Bett und rührte in einer Schale Fleischbrühe.»Mein Name ist Catherine. «Sie lächelte dabei, und sekundenlang spürte er wieder die Kühnheit, die ihm schon auf der Navarra an ihr aufgefallen war.»Aber nennen Sie mich Kate. So hat man mich genannt, bevor ich Luis heiratete.»

«Es tut mir leid um Ihren Mann«, sagte er leise.

Der Löffel zitterte nicht in ihrer Hand; er ließ die heiße Brühe durch die Kehle rinnen, und sie belebte ihn trotz seiner Schmerzen.

Da sagte sie:»Sie haben mehrere Male den Namen >Cheney< gerufen. Ist das Ihre Frau?»

Er blickte sie an.»Ja, aber sie ist tot.»

«Ich weiß. Einer Ihrer Offiziere hat es mir erzählt. «Kate wischte ihm die Lippen mit einem sauberen Tuch ab.»Sie haben sehr viel geredet, allerdings habe ich nicht alles verstanden. Manchmal haben Sie von zu Hause gesprochen und von irgendwelchen Porträts. Aber wir wollen das jetzt vergessen. Sie sind sehr schwach und müssen ruhen.»

Bolitho bemühte sich, seinen Arm zu bewegen.»Nein. Ich will nicht allein bleiben. «Fast verzweifelt bat er:»Erzählen Sie mir von sich.»

Sie lehnte sich zurück und lächelte wie über etwas lange Vergangenes.»Ich habe in London gelebt. Kennen Sie London gut?»

Er schüttelte leicht den Kopf.»Ich war manchmal dienstlich dort.»

Überraschenderweise hob sie das Kinn und lachte. Es war ein kehliger, ungehemmter Laut, als hätte er etwas höchst Erheiterndes gesagt.»Ich kann an Ihrem Gesicht sehen, daß London nichts für Sie ist, mein lieber Captain. Aber ich denke doch, daß Ihr London von meinem sehr verschieden ist — dem London, wo Ladies Quadrille tanzen und sich ein Bukett vors Gesicht halten, damit man denken soll, sie erröten; wo die jungen Stutzer zierlich um sie herumschwänzeln und ihnen den Hof machen. «Sie hob den Kopf hoch, und das üppige Haar fiel ihr locker um den Hals.»Es ist eine Art zu leben, die ich zu erlernen versucht habe. Aber nun scheint es, daß meine Mühe umsonst war. «Eine Sekunde stieg etwas wie Sehnsucht in ihren Augen auf, aber dann schloß sie kurz:»Das Leben ist eben grausam.»

Sie stand auf und setzte die Schale auf den Tisch, und Bolitho sah, daß sie ein anderes Kleid trug — gelbe Seide, tief ausgeschnitten und mit zierlicher Stickerei um die Taille. Sie bemerkte seinen Blick und sagte:»Eine der spanischen Damen hat es mir gegeben.»

«Haben Sie Ihren Gatten in London kennengelernt?«Er wollte keine traurigen Erinnerungen in ihr wachrufen, aber irgendwie interessierte ihn das.

«Meinen ersten. «Sie sah sein verwirrtes Gesicht und lachte wieder ihr perlendes Lachen.»O ja, ich habe schon zwei Männer begraben, sozusagen. «Sie kam rasch wieder ans Bett und legte ihm die Hand auf die gesunde Schulter.»Machen Sie nicht so ein bekümmertes Gesicht. Das sind alte Geschichten. Der erste war ein wirklich brillanter Mann. Wir wollten zusammen die Welt erobern. Er war ein Glücksritter, ein Söldner, wenn Sie wollen. Er nahm mich mit nach

Spanien, wo er gegen die Frogs kämpfen wollte. Aber alle Schlachten, die er schlug, schlug er in Tavernen um Weiber. Eines Tages muß er dabei an einen ebenbürtigen Gegner geraten sein, denn er wurde tot in einem Straßengraben vor Sevilla aufgefunden. In Sevilla habe ich dann Luis kennengelernt. Er war doppelt so alt wie ich, aber er brauchte mich. «Sie seufzte.»Er war Witwer, und nur seine Arbeit hielt ihn aufrecht. Ich glaube, er war glücklich mit mir«, schloß sie etwas leiser.

«Davon bin ich überzeugt.»

«Danke, Captain. «Sie wandte das Gesicht ab.

Wieder ging die Tür knarrend auf, aber diesmal war es Gillmor. Er grüßte durch ein höfliches Kopfneigen und trat dann zum Bett.

«Ich bin aufrichtig froh, daß Sie sich erholen, Sir.»

Bolitho fiel auf, wie überanstrengt der Kommandant der Coquette aussah; vermutlich hatte er durch den Ausfall Bolithos doppelte Sorgen.

Eilig sprach Gillmor weiter.»Die Ausgucks haben soeben gemeldet, daß unser Geschwader in Sicht ist. «Er atmete langsam aus.»Endlich.»

«Was verschweigen Sie mir?«fragte Bolitho mit plötzlicher Spannung.»Da ist doch was nicht in Ordnung?»

«Die Euryalus wird geschleppt. Anscheinend hat sie Bugspriet und vordere Bramstenge verloren. Ich habe Mr. Bickford mit dem Kutter entgegengeschickt.»

«Ich muß aufstehen!«Bolitho versuchte, sich aus den Decken zu befreien.»Bringt mich auf mein Schiff, um Gottes willen!»

Gillmor trat beiseite und überließ es Mrs. Pareja, ihn auf sein Lager zurückzudrücken.»Tut mir leid, Sir, aber wir haben beschlossen, daß Sie hierbleiben.»

Bolitho biß vor Schmerzen die Zähne zusammen. »Wir! Wer ist wir?»

Gillmor schluckte heftig, blieb aber fest.»Commander Inch und ich, Sir. Es hat keinen Sinn, daß Sie jetzt sterben, da Sie das Schlimmste überstanden haben.»

«Seit wann erteilen Sie mir Befehle, Captain Gillmor?»

Diese Demütigung, die Hilflosigkeit, das Gefühl, mehr an sich selbst als an das Wohl des Geschwaders gedacht zu haben, erfüllte ihn mit sinnlosem Zorn.

Bevor Gillmor antworten konnte, mischte Mrs. Pareja sich ein:»Also, das ist kindisch! Regen Sie sich nicht so auf, sonst rufe ich Mr. Angus!»

Gillmor fing wieder an.»Entschuldigen Sie bitte, Sir. Aber ich glaube, wir brauchen Sie bald, und zwar gesund.»

Bolitho schloß die Augen.»Nicht doch — ich muß mich entschuldigen. Bei Ihnen beiden. Ist die Restless beim Geschwader?»

Gillmor zögerte.»Nein, Sir. Aber vielleicht segelt sie so weit draußen, daß Giffards Leute sie nicht gesichtet haben.»

«Vielleicht.»

Er wurde wieder müde; der pulsierende Schmerz in seiner Schulter verstärkte sich. Er konnte sich nur schwer auf das konzentrieren, was Gillmor sagte, und noch schwerer wurde es ihm, Ordnung in seine Gedanken zu bringen.

«Ich gehe jetzt, Sir«, sagte Gillmor.»Sobald wir etwas hören. «Er verschwand, ehe Bolitho protestieren konnte.

«Ein guter Offizier. «Sie setzte sich auf sein Bett und wischte ihm mit einem kühlen Tuch die Stirn ab.»Als ich so alt war wie er, hatte ich auch ein Schiff wie die Coquette. In der Südsee. Das war eine ganz andere Welt. «Es fiel ihm immer schwerer, sich daran zu erinnern.»Drei Fuß lange Eidechsen und Schildkröten, so groß, daß ein Mann auf ihnen reiten konnte. Unberührt von der Zivilisation…»

«Ruhen Sie, Captain. «Ihre Stimme verklang, und Bolitho sank in einen tiefen Erschöpfungsschlaf.

Ein paar Stunden später erwachte er mit heftigem Schüttelfrost. Obwohl die Läden des Fensters geschlossen waren, wußte er, daß es Nacht war; und als er den Kopf zur Seite drehte, hörte er Allday sagen:»Er ist aufgewacht, Ma'am.»

Hinter einem Wandschirm kam eine kleine Laterne hervor, und zwei Gesichter beugten sich über ihn.

«Mein Gott«, flüsterte Allday,»ich muß Mr. Angus rufen!»

«Warten Sie noch. «Sie beugte sich so tief über ihn, daß ihre Haare sein Gesicht berührten.»Holen Sie ihn noch nicht. Sie wissen doch, wie diese Chirurgen sind. Die denken immer gleich an Messer und Säge. Schlächter sind das«, zischte sie wütend.

«Aber sehen Sie ihn doch bloß an!«Allday war ganz verzweifelt.»Wir müssen was tun!»

Bolitho konnte nicht sprechen. Er war sehr schwach, aber zum erstenmal hatte er wieder Gefühl in der rechten Hand. Auch sein Arm schmerzte und war steif, aber er konnte ihn fühlen. Diese aufregende Entdeckung verstärkte noch das Fieber und den Schweiß, und er konnte nicht verhindern, daß ihm die Zähne klapperten.

Ruhig und bestimmt sagte sie:»Gehen Sie nach nebenan, Allday. Ich weiß, was ich zu tun habe.»

Die Tür öffnete und schloß sich, und Bolitho hatte die vage Vorstellung, daß Allday, geduckt wie ein Hund, dahinter hockte. Dann hörte er Seide rascheln, und kurz bevor die Laterne verschwand, sah er ihren Körper hell vor der dunklen Wand schimmern; lose hing ihr Haar über die nackten Schultern. Seine Bettdecke wurde angehoben, und lautlos glitt sie neben ihn, Brust und Schenkel dicht an seinen Körper gepreßt, seinen Kopf in ihrem Arm.

Die Nacht verstrich; zwischen tiefem Schlaf und verrückten Träumen hörte er, daß sie leise und sanft zu ihm sprach, wie eine Mutter zu ihrem kranken Kind; der Klang war beruhigender als die Worte selbst. Die Wärme ihres Körpers hüllte ihn ein wie ein warmer Mantel, ve r-trieb die Eiseskälte und brachte seine rasenden Gedanken zur Ruhe.

Als er dann wieder die Augen öffnete, sah er Streifen hellen Sonnenlichts durch die Läden scheinen; ein paar Sekunden lang dachte er, auch das wäre nur wieder ein Traum gewesen. Allday saß halb schlafend im Stuhl; und neben dem Fenster sah er ein Stück von ihrem gelben Kleid — sie ruhte dort in einem hochlehnigen Sessel.

Kate stand auf und murmelte:»Nun sehen Sie schon viel besser aus. «Dabei lächelte sie ihm verstohlen zu, und da wußte er, daß es kein Traum gewesen war.»Wie fühlen Sie sich?»

Fast unbewußt lächelte er ebenfalls.»Hungrig.»

Allday sprang auf.»Ein Wunder!»

Draußen kamen Schritte über den Steinfußboden: Keverne und dahinter Calvert. Kevernes düstere Miene erhellte sich etwas, als er Bolitho sah.

«Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte, Sir«, sagte er.

Bolitho stützte sich auf den Ellbogen.»Was ist passiert?»

Resigniert hob der Leutnant die Schultern.»Wir sichteten zwei französische Vierundsiebziger und segelten hinterher. Es wurde dunkel, aber Sir Lucius bestand darauf, wir sollten dranbleiben, und zwar — «, es klang bitter — ,»in geschlossener Formation.»

«Weiter!«Er konnte es sich genau vorstellen: die Schiffe versuchten, unter vollen Segeln eng beieinander zu bleiben; dazu der Wind, die schwere See, die verzweifelten Versuche, die Hecklichter im Auge zu behalten.

«Gleich nach Sonnenaufgang sichteten wir den Feind wieder. Der Admiral gab Befehl, daß die Zeus allein wenden sollte, aber durch die enge Formation wurde das Signal falsch abgelesen. Die Tanais geriet dazwischen, und wir kollidierten mit ihrem Heck. Wir verloren das Bugspriet, und obendrein brach noch die Bramstenge weg. Als wir uns endlich auseinandermanövriert hatten, waren die Frogs schon außer Sicht, mit Kurs Nord mit jedem Quadratmeter Leinwand, den sie hatten, hol sie der Satan!»

«Der Schaden?»

«Ist in einem Tag repariert. Ich habe die Maststenge schon ersetzen lassen, und zur Zeit wird an Bugspriet und Klüverbaum gearbeitet.»

Bolitho wandte den Kopf ab. Wenn die Fregatte, die den Werfer Devastation in Grund geschossen hatte, nicht schon über das Geschwader Bescheid wußte — die beiden französischen Vierundsiebziger würden jetzt keinen Zweifel mehr haben.

Keverne berichtete weiter:»Sir Lucius läßt beste Wünsche ausrichten und bestellen, er wird Sie aufsuchen, sobald es sich machen läßt. «Neugierig sah er Mrs. Pareja an.»Sie haben sehr viel geleistet, wenn ich das sagen darf, Sir. Ich habe auch von Witrands Tod gehört. Tut mir leid.»

«Ich gehe am besten wieder an Bord, Sir«, mischte sich Calvert ein; aber er schien nicht sehr glücklich über diese Aussicht.

Keverne ignorierte ihn.»Was sollen wir tun, Sir?«Er schritt zum Fenster und spähte durch die Jalousien.»Das kommt mir alles so hoffnungslos vor.»

Bolitho dachte an Draffen, an seine Lügen und Täuschungen, und wieder pulste ihm das Blut schmerzhaft in der Schulter. Dort draußen war Broughton an Bord seines Flaggschiffs der Gefangene seiner Zweifel und trüben Ahnungen. Wenn sein Stolz es ihm nicht erlaubte, Bolitho oder jemand anderen um Rat zu fragen — um so schlimmer für ihn. Bolitho konnte ihn seines Stolzes wegen bewundern, aber mit seiner immer wieder durchbrechenden Sturheit konnte er sich nicht abfinden.

Hauptmann Giffard erschien keuchend im Türrahmen, das Gesicht ebenso rot wie sein Uniformrock.

«Die Restless rundet soeben die Landzunge, Sir!»

Wieder stützte sich Bolitho mühsam auf den Ellbogen, ungeachtet seiner Schmerzen.

«Signalisieren Sie, daß der Kommandant sich schnellstens bei mir melden soll!«Er sah Giffard bedeutsam in die Augen.»Bei mir, verstanden?»

Als Giffard draußen war, fuhr er fort:»Gehen Sie wieder an Bord, Mr. Keverne, und bestellen Sie Sir Lucius mit allem Respekt, ich käme bald wieder an Bord. «Er sah, wie Allday den anderen rasche Blicke zuwarf.»Sehr bald. Sagen Sie ihm das!«Und zu Calvert gewandt:»Sir Lucius hatte angeordnet, daß Sie an Land Dienst machen. Sie bleiben also hier. «Er sah Calverts dankbare Erleichterung und schloß:»Jetzt gehen Sie und halten Sie Ausschau nach der Restless!»

Als sie wieder allein waren, sagte er:»Ich weiß schon, was Sie sagen wollen, Mrs. Pareja — Kate«, verbesserte er lächelnd.

«Warum sind Sie dann so widerspenstig?«Sie war plötzlich errötet, und ihr Atem ging schneller.

«Weil ich jetzt dort gebraucht werde. Allday — Sie müssen mich rasieren, und ich brauche ein neues Hemd. Und zwar gleich!««betonte er, denn Allday machte wieder seine starrköpfige Miene.

«Es ist doch merkwürdig«, fuhr er fort, als Allday gegangen war,»daß ich jetzt klarer denken kann als vorher.»

«Weil Sie so viel Blut verloren haben. «Sie seufzte.»Aber wenn Sie müssen, dann müssen Sie eben, nehme ich an. Männer sind nun mal für den Krieg geschaffen, und Sie sind keine Ausnahme.»

Sie kam ans Bett und stützte seine Schultern, bis er in sitzender Stellung war.

«Was wird aus Ihnen, wenn hier alles vorbei ist?«fragte er nachdenklich.

«Nach Spanien gehe ich nicht zurück. Ohne Luis wäre ich dort wieder eine Fremde. Vielleicht fahre ich nach London. «Sie lächelte nachdenklich.»Ich habe meine Juwelen, viel mehr als seinerzeit in London. «Aus ihrem Lächeln wurde ein Kichern.»Sie könnten mich doch mal in London besuchen, hm? Wenn Sie hinkommen, um eine neue Beförderung in Empfang zu nehmen, Captain.»

Doch als er sie ansah, merkte er, daß sich hinter ihrem Lächeln mehr als nur Neckerei verbarg. Eine ernstgemeinte Aufforderung oder sogar eine dringende Bitte? Schwer zu sagen.

Er lehnte sich vertrauensvoll an sie.»Das tue ich bestimmt. Glauben Sie mir.»

Allday legte eben letzte Hand an Bolithos Hemd und Halsbinde, als Kommander Samuel Poate von der Restless ins Zimmer trat. Er war klein, rosig und, wie Bolitho fand, auch so aggressiv und munter wie ein junges Schweinchen. Wie er so dastand, den Hut vorschriftsmäßig unterm Arm, seine Stupsnase zuckend vor Wichtigtuerei und unterdrücktem Zorn, war die Ähnlichkeit unverkennbar.

«Ihren Bericht, Commander!«befahl Bolitho kurz.»Und zwar rasch. Ich habe so ein Gefühl, daß es bald losgehen wird.»

Poate hatte eine so kurze, abgehackte Sprechweise wie ein Zeuge vorm Kriegsgericht, der weder Worte noch Zeit verschwenden will.

«Setzte Sir Hugo Draffen und Gefangenen an Land, wartete dann draußen auf See auf Signal, Sir. Kam aber nichts. Wind setzte aus, mußte ankern, wäre sonst auf Grund getrieben. Hörten Explosionen, mußte Angriff auf Djafou sein, aber von wem und wie — keine Ahnung. Immer noch nichts von Sir Hugo zu sehen; als wieder Wind aufkam, kreuzte ich hinaus und fuhr Patrouille vor der Küste.»

«Warum haben Sie den Gefangenen mit an Land gehen lassen?»

«Befehl von Sir Hugo, Sir. Konnte nichts machen. Sagte, er wäre eine Geisel. Hab das zwar nicht richtig begriffen, hatte aber auch zu viel zu tun, um lange darüber nachzudenken. «Kalt glitzerten seine Augen, als er jetzt weiter berichtete:»Haben aber am Strand einen Mann winken sehen, setzte ein Boot ab — war einer von Ihren Matrosen, Sir. Überlebender von der Abteilung Calvert. War ganz durcheinander vor Angst, dachte, der Kerl wäre verrückt. Hat später zugegeben, daß er den Flaggleutnant und einen Midshipman bei Überfall durch Berber verlassen hat; ist weggelaufen. Hat sich stundenlang versteckt, schließlich Höhle im Berg gefunden.»

Ganz vorsichtig und mit Alldays Hilfe stand Bolitho auf.

Poate fuhr fort:»Von der Höhle aus will er gesehen haben, wie Wi-trand erst gefoltert und dann geköpft wurde. Weiß allerdings nicht, was davon stimmt.»

«Es stimmt, Commander.»

«Hat außerdem noch gesagt, als er von seinem Versteck aus diesen

Mord beobachtete, hätte er auch Sir Hugo gesehen. «Er holte tief Atem.»Ein Matrose könnte sich kaum so eine Geschichte ausdenken. Er will tatsächlich beobachtet haben, daß Draffen mit den Berbern sprach, die den Gefangenen folterten!»

«Aha. «Er sah auf — Poate hatte anscheinend noch mehr zu sagen.

«Habe inzwischen erfahren, daß Sie verwundet und andere getötet wurden, weil Ihnen Unterstützung der Restless fehlte, Sir. War aber so wütend und empört über diese Geschichte, daß ich weiter längs der Küste fuhr und schließlich, mit Glück und Gottes Hilfe, auf eine kleine Dhau stieß.»

«Mit Draffen?«Bolitho kochte das Blut in den Adern.

Poate nickte.»Habe ihn unten, Sir. Unter Bewachung.»

«Bringen Sie ihn her!«Er blickte zum Fenster hin und horchte auf den Wind, der leise in den Jalousien sang.»Sie haben sich sehr richtig verhalten. Wahrscheinlich weiß noch niemand, wie bedeutungsvoll das unter Umständen werden kann.»

Draußen im Flur gab Poate seine Befehle.»Lassen Sie mich allein, Kate. Und Sie mich auch, Allday. «Er lächelte über ihre Betroffenheit.»Keine Angst, ich werde schon nicht mit dem Arm herumfuchteln.»

Als er allein war, stützte er sich auf die Sessellehne und bewegte vorsichtig den Arm in der provisorischen Schlinge.

Als Draffen zusammen mit Poate und Calvert eintrat, verriet er weder Angst noch Unsicherheit. Gelassen sagte er:»Vielleicht sind Sie so freundlich, mich zum Admiral zu bringen. Ich habe keine Lust, mich von diesen Leuten so behandeln zu lassen.»

«Sie sind unter Arrest«, stotterte Calvert.

Draffen fuhr herum und sah ihn kalt und verächtlich an.»Still, Sie junger Laffe!»

Ohne Umschweife kam Bolitho zur Sache:»Sie wollten Djafou für Ihre eigennützigen Zwecke zurückerobern lassen, Sir Hugo. Es hat keinen Zweck, wenn Sie leugnen. «Merkwürdig, daß er so ruhig sprechen konnte, obwohl er diesen Mann zutiefst verabscheute.»Ganz gleich, wie es hier ausgeht, Sie werden vor ein Kriegsgericht gestellt.»

Draffen starrte ihn an und lachte dann laut auf.»Mein Gott, Captain, in was für einer Welt leben Sie eigentlich?»

«In unserer Welt, Sir Hugo. Was wir hier in Djafou gefunden haben, dürfte reichen, Ihnen die Unschuldsmaske herunterzureißen.»

Draffen breitete die Hände aus.»Sklaverei ist eine Tatsache, Cap-tain, ganz gleich, was die Stimme der Öffentlichkeit dazu sagt. Und wo Nachfrage besteht, muß ein Angebot her. Es gibt Leute in London, denen ein gesunder Sklave mehr wert ist als eine ganze Bootsladung Ihrer Matrosen, die in der Schlacht gefallen sind, das können Sie mir glauben! Lernen Sie Ihre Lektion, wie ich sie gelernt habe. Gesetz und Recht gelten nur für Leute, die sie auch bezahlen können!»

Poate öffnete schon den Mund, um einzugreifen, da erschien plötzlich ein heller Blutfleck auf Bolithos sauberer Binde. Aber Bolitho bedeutete Poate, still zu sein, und erwiderte:»Dann ist zu hoffen, daß diese Leute Ihnen helfen werden, Sir Hugo, denn für alle anderen Engländer sind Sie ein verdammenswerter Lügner, Betrüger und…««Er biß vor Schmerz und Wut die Zähne zusammen»… Ein Schweinehund, der zusehen konnte, wie ein Mann erst gefoltert und dann ermordet wurde — der Kriegsgefangene Witrand, der unter dem Schutz des Königs stand!»

Jetzt blitzte ein Funken Angst in Draffens Augen auf. Aber er entgegnete grob:»Selbst wenn das wahr wäre — Witrand besaß keinen Kombattandenstatus und stand nicht unter Kriegsrecht. Als Offizier in Zivil war er als Spion zu betrachten.»

Doch er kniff betroffen die Lippen zusammen, als Bolitho antwortete:»Das jedoch wußten nur der Admiral und ich, Sir Hugo. Wenn Sie ihn nicht bereits kannten — was meiner Ansicht nach der Fall ist, denn Sie versuchten nicht, an Bord der Euryalus mit ihm zu sprechen — , dann müssen Sie gehört haben, daß er unter der Folter seine Identität preisgab. So oder so sind Sie gebrandmarkt!«Er spürte, wie seine Wunde unter dem Verband blutete, aber er konnte sich nicht beherrschen.»Hinrichtungen ekeln mich an, aber ich würde weiß Gott einen Monatssold dafür geben, Sie in Tyburn am Galgen tanzen zu sehen!»

Draffen musterte ihn verächtlich.»Schicken Sie die Leute hier raus!»

«Kein Schachern, Sir Hugo. Sie haben genug Tod und Leiden verursacht.»

«Na schön. Dann werde ich eben vor allen sprechen. «Er stützte die Hände in die Hüften und sagte gelassen:»Ich habe, wie Sie bemerkten, mächtige Freunde in London. Die können Ihnen das Leben in Zukunft sehr schwermachen und Ihnen jede Hoffnung auf Beförderung vereiteln.»

Angewidert wandte Bolitho den Kopf ab.»Ist das alles?»

Draffen zuckte zusammen und antwortete dann grob:»Sie haben doch einen Neffen in der Flotte? Den Bastard Ihres verstorbenen Bruders?»

Bolitho blieb ganz unbeweglich. Er hörte Poates Füße auf dem Steinboden scharren und Calvert erschrocken auffahren.

«Was würde der dazu sagen«, sprach Draffen weiter,»wenn er hörte, daß sein Vater, der Kaperkapitän, meine Sklavenschiffe passieren ließ? Daß er durch meine Schmiergelder reich geworden ist?»

Bolitho wandte sich ihm wieder zu und sagte ganz ruhig:»Das ist eine Lüge.»

«Die Leute werden es schon glauben. Und vor allen Dingen wird es mit der Laufbahn Ihres Neffen vorbei sein — nicht wahr?»

Bolitho blinzelte, weil sich seine Augen vor Schmerzen trübten. Er durfte jetzt nicht ohnmächtig werden — er durfte nicht!

«Hätte ich bisher irgendwelches Verständnis oder Mitgefühl für Sie empfunden, Sir Hugo, es wäre jetzt damit vorbei. Kein Mann verdient das, der das Leben eines jungen Menschen zerstören will, der bisher nur Not und Elend erfahren hat. Bringen Sie ihn weg, Mr. Poate!»

Gelassen erwiderte Draffen:»Sie haben mich vieler Vergehen beschuldigt. Was andere auch dazu sagen mögen — Sie werden mir Satisfaktion geben, sobald Sie wieder gesund sind!»

«Wie Sie wünschen. Sie werden mich durchaus dazu bereit finden. »

Bolitho sank in den Sessel, und Draffen wurde hinausgebracht.

Später war sie wieder bei ihm und führte ihn unter Vorwürfen zu seinem Bett.

«Ich kann noch nicht schreiben«, sagte er,»darf ich Ihnen diktieren? Ich muß dem Admiral sofort einen Bericht schicken.»

Sie musterte ihn neugierig.»Stimmt das, was er von Ihrem Bruder sagte?»

«Zum Teil. Nicht alles »

Die Tür flog wieder auf, und Poate stürmte herein.»Sir! Leutnant Calvert muß verrückt geworden sein!»

Bolitho faßte die Stuhllehne fester.»Was ist passiert?»

«Er hat Draffen auf die Plattform des Turmes gebracht und uns die Falltür vor der Nase zugeworfen. Als ich ihn aufforderte, sie wieder zu öffnen, gab er keine Antwort. «Poate schien es kaum fassen zu können.

«Hören Sie!»

Alle sahen zu Allday hin, der sich aus dem Fenster beugte. Über dem sanften Brausen von See und Wind hörte man das alarmierende Klirren von Stahl auf Stahl.

Es hielt nicht lange an. Calvert erschien in der Tür, zwei Degen unterm Arm. Er sah außerordentlich gefaßt aus, beinahe melancholisch.»Ich melde mich zum Arrest«, sagte er.»Sir Hugo ist tot.»

Leise erwiderte Bolitho: «Mich hatte er gefordert, Calvert.»

Doch der schüttelte den Kopf.»Sie vergessen, Sir — vorher hatte er mich >junger Laffe< genannt. «Er wandte sich ab, schien Poate und die anderen, die sich an der Tür drängten, überhaupt nicht zu sehen.»Sie wären jedenfalls in einem Duell nie mit ihm fertig geworden, Sir. Schon gar nicht, wenn Sie links fechten mußten. «Müde hob er die Schultern.»Sie sind ein Kämpfer, Sir, aber als Duellant weniger geübt, fürchte ich. «Mit blitzenden Augen fuhr er herum.»Sie haben mich gerettet und mehr: Sie haben mir meine Ehre wiedergegeben. Ich kann doch nicht untätig zusehen, wie Sie kaputtgehen, wenn ich helfen kann — und vielleicht besser als irgend jemand sonst.»

Schiffsarzt Angus stieß sich durch die Umstehenden.»Seid ihr denn alle verrückt? Könnt ihr nicht sehen, in welchem Zustand der Kommandant ist?»

Bolitho sah ihn abweisend an.»Gehen Sie auf den Turm. Da oben liegt ein Toter. «Und zu Calvert gewandt:»Sie meinen es gut, aber…»«

Calvert zuckte die Achseln. »Aber. Was dieses Wort alles ausdrük-ken kann! Ich weiß, was ich mir damit eingebrockt habe, aber es ist mir egal. Vielleicht tat ich es, um Lelean zu rächen — ich weiß nicht genau. «Mit plötzlicher Entschlossenheit blickte er Bolitho ins Auge.»Lelean brauchte mich, ebenso wie das Geschwader jetzt Sie braucht. Vielleicht war das mein stärkstes Motiv, Draffen zu töten.»

Er schnallte sein Koppel ab und überreichte es Hauptmann Giffard mitsamt dem Degen.

Die Gaffer an der Tür zerstoben, denn Broughtons kratzige Stimme ertönte:»Geben Sie ihm seinen Degen wieder, Giffard!»

Der Admiral trat ins Zimmer, nickte Bolitho kurz zu und sagte:»Ich habe Ihnen unrecht getan, Calvert. Ein Gerichtsverfahren kann ich Ihnen zwar nicht ersparen. «Er musterte den Leutnant mit offensichtlichem, ganz neuartigem Interesse.»Aber falls wir je wieder nach England kommen, werde ich dafür sorgen, daß Sie einen tüchtigen Verteidiger bekommen.»

Calvert blickte zu Boden.»Danke, Sir Lucius.»

Jetzt wandte sich Broughton an Bolitho.»Nun, obwohl Sie anscheinend wieder gesund und kräftig genug sind, um meine Angelegenheiten zu regeln, muß ich doch zu Ihnen kommen — eh?«Ärgerlich sah er sich um.»Schaffen Sie mir diese Leute vom Hals!«Doch dann wurde er etwas freundlicher.»Außer Ihnen natürlich, verehrte Dame, denn ich habe gehört, daß ich ohne Ihre, äh, Bemühungen jetzt keinen Flaggkapitän mehr hätte. «Kühl lächelnd musterte er sie von oben bis unten.»Und das wäre schade.»

Unerschüttert hielt Kate seinen Blicken stand.»Da haben Sie recht, Sir Lucius. Anscheinend haben Sie ihn sehr nötig.»

Broughton runzelte die Stirn, zuckte aber dann lässig die Achseln.»Das war ein gutes Wortgefecht, Ma'am. «Und wieder zu Bolitho gewandt:»Folgendes habe ich vor.»

Kein Wort, kein Zeichen von Schreck oder Zorn über Draffens Tod. Typisch für Broughton, daß er den Mann bereits abgeschrieben hatte. Eine Erinnerung, nichts weiter. Später, in England, würde sie sich nicht mehr so leicht verdrängen lassen.

«Es ist ziemlich sicher, daß die Franzosen versuchen werden, uns von hier zu vertreiben. «Sir Lucius hielt inne, als erwarte er einen Einwand.»Daß ich sie gesichtet und dann dank Rattrays Dummheit mit dem Signal wieder verloren habe, macht mich geneigter, Ihre seinerzeitige Ansicht über Djafou zu akzeptieren. Sie haben Giffard einen sehr guten Bericht hinterlassen, ehe Sie sich in diesen überflüssigen Privatkrieg gegen die Piraten stürzten. Wirklich, Bolitho — «, er seufzte — ,»Sie müssen sich endlich damit abfinden, daß Sie über diese leichtsinnigen Heldentaten hinaus sind!»

«Es schien mir ratsam, diese Gefahr zu beseitigen, ehe wir uns auf weiteres einließen, Sir.»

«Vielleicht. «Es klang etwas vorsichtig.»Aber inzwischen wissen Franzosen und Spanier, daß sie das Geschwader aus Gibraltar jetzt vor ihrer Nase haben. Es ist daher um so wichtiger geworden, daß sie zu Ende führen, was geplant war, das ist ganz klar. «Er nickte bekräftigend.»Ich beabsichtige, mit dem Geschwader Kurs auf Cartagena zu nehmen. Denn wenn nur die Hälfte von dem stimmt, was die Agenten berichten, so zieht der Feind dort seine Kriegs- und Transportschiffe zusammen. Was könnte auch wahrscheinlicher sein? Es wäre ein weiterer Versuch, die Beziehungen der beiden Länder nach ihrer Niederlage bei St. Vincent zu kräftigen.»

Bolitho nickte. Offenbar hatte der Admiral in den letzten Tagen gründlich über die Lage nachgedacht. Verständlicherweise. Denn wenn er nach Gibraltar zurückkam und dort berichtete, daß Djafou nutzlos und Draffen von einem seiner eigenen Offiziere getötet worden war, dann konnte ihn das teuer zu stehen kommen. Broughton hatte bereits mit seiner Rolle bei der Spithead-Meuterei und dem Verlust der Auriga das Mißvergnügen der Admiralität erregt, und mehr als jeder andere brauchte er einigen Zuwachs auf seinem Habenkonto; aber dazu reichte die Aufbringung der Navarra und einer kleinen Brigg schwerlich aus.

«Sehr wahrscheinlich, Sir«, antwortete er.»Doch ebenso möglich ist es, daß wir dem Feind auf offener See begegnen.»

«Darauf hoffe ich sogar. «Broughton, der jetzt einige Erregung erkennen ließ, schritt zum Fenster.»Wenn wir sie in ein Gefecht verwickeln, müssen wir ihnen zeigen, daß wir nicht zum Spaß hier sind. Und daß nach uns noch andere und Stärkere kommen.»

«Und wenn wir in Cartagena nichts vorfinden — was dann, Sir?»

Broughton wandte sich um und sah ihm gelassen ins Gesicht.»Dann, Bolitho, bin ich ruiniert. «Er schien zu merken, daß er zu viel Vertraulichkeit gezeigt hatte, und fuhr knappen Tones fort:»Wir lichten morgen früh Anker. Commander Inch segelt mit der Navarra und der Brigg nach Gibraltar zurück. Er nimmt außerdem die ganze Kastellbesatzung und die, äh, Zivilisten mit, die wir übernommen haben. Zweifellos wird es dem Gouverneur von Gibraltar sehr lieb sein, sie gegen britische Kriegsgefangene austauschen zu können.»

«Ich habe im Festungsmagazin Sprengladungen legen lassen, Sir.»

«Gut. Wir werden sie zünden, bevor wir segeln. «Er seufzte.»Also dann.»

Er machte Miene zu gehen, und Bolitho fragte rasch:»Ich hoffe, Sie werden Mr. Keverne als Kommandant auf der Brigg einsetzen, Sir?»

Der Admiral wich jedoch seinem Blick aus.»Ich fürchte, das geht nicht. Sie haben schon genug Ausfälle, und wir brauchen jeden erfahrenen Offizier. Ich werde Fourneaux anweisen, daß er einen Prisenoffizier abstellt.»

Fragend nickte er zu Angus hinüber, der, sich die Hände abwischend, hereinkam.»Draffen war tot, Sir«, sagte der Arzt.

Gleichgültig erwiderte der Admiral:»Dachte ich mir. Nun, Mr. An-gus, Captain Bolitho bleibt über Nacht hier und geht erst morgen früh, eine halbe Stunde vor Segelsetzen, an Bord. Arrangieren Sie das. Dann lassen Sie Calvert suchen und ihm bestellen, ich brauche ihn sofort, um die Geschwaderbefehle auszuschreiben. «Auf einmal lächelte er und sah um Jahre jünger aus.»Wissen Sie, Bolitho, ich war mal in Versuchung, mit Calvert das Rapier zu kreuzen, um ihm eine Lehre zu erteilen. Hätte ich das getan, so wären Sie jetzt Geschwaderkommandeur und müßten statt meiner in Gibraltar den Kopf hinhalten!«Der Gedanke schien ihn mächtig zu amüsieren, denn er lächelte immer noch, als er aus dem Zimmer ging.

Bolitho schloß die Augen und lehnte sich in den Sessel zurück. Alle Kraft und Energie hatten ihn verlassen; er fühlte sich vollständig ausgelaugt.

«Nur eine Nacht«, sagte er, halb zu sich selbst. Sie strich ihm übers Haar und sagte leise:»Ja. Eine Nacht. «Und dann:»Für uns.»

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