XV Vergeltung und Vergessen

Bolitho stand neben einem offenen Fenster im düsteren Zimmer des Kommandeurs, als Allday eintrat und ihm meldete, die Gig der Hekla sei da, um ihn abzuholen.

In den letzten paar Stunden hatte sich das Wetter erstaunlich verändert. Es war später Nachmittag, und es hätte eigentlich noch taghell sein müssen. Statt dessen war der Himmel mit niedrigen drohenden Wolken verhangen, und die Flagge auf dem oberen Turm stand steif in einem westlichen Wind, der allem Anschein nach ständig auffrischte.

Er war gerade im Begriff gewesen, den alten Kommandeur zu verlassen, als eine Schildwache auf der Brustwehr den Wetterwechsel meldete. Er wollte sich selbst ein Bild von der Lage machen und stieg daher auf den Turm. Vor seinen Augen verschwand der westliche Landarm der Bucht langsam unter einem riesigen Wirbel aus Sand und Staub, so daß der Verbindungsdamm plötzlich im Leeren zu enden schien. Selbst in der Bucht dümpelten die Schiffe heftig, und Gillmor seufzte erleichtert auf, als er sah, daß sein Erster Offizier für alle Fälle einen zweiten Anker ausgeworfen hatte.

Doch die Sorge um die Sicherheit ihrer Schiffe, alle Zweifel und sogar der Schreck über Witrands gräßlichen Tod hatten sich in gespannte Erregung verwandelt, als Bolitho ihnen mitteilte, was er herausgefunden hatte.

Als Alava erst einmal zu sprechen begonnen hatte, schien er gar nicht mehr aufhören zu können. Es war, als sei die Bürde der Mitwisserschaft zu schwer für seine gebeugten Schultern, und der Schock über das, was in dem kleinen Korb lag, war der letzte Anstoß für ihn, die Verantwortung abzuwerfen.

Bolitho hatte seiner leisen, kultivierten Stimme mit starrer Aufmerksamkeit zugehört, die ihm sowohl als Schranke gegen sein Mitleid mit Witrand diente, als auch gegen seine Abscheu vor jenen, für die sein Tod nur ein Detail der psychologischen Kriegsführung war.

Jetzt, während der Wind gegen die dicken Mauern heulte und durch die ungeschützten Brustwehren fuhr, fiel es ihm immer noch schwer, sich einzugestehen, daß er mit seinem früheren Verdacht in vieler Hinsicht recht gehabt hatte. Witrand war schon einmal in Djafou gewesen, mit dem strikten Befehl, den Weg für weitere Entwicklungen freizumachen. Wieviel von Alavas Informationen auf Tatsachen und wieviel auf Spekulation beruhte, war schwer zu sagen. Eins war sicher: Witrand war nicht nur hiergewesen, um die Basis gegen jede zukünftige Aktivität der britischen Flotte im Mittelmeer abzuschirmen. Djafou sollte der erste einer Reihe Stützpunkte an der Küste Nordafrikas werden, ein Tor nach Osten und nach Westen. Truppen, Artillerie und die für Transport und Schutz nötigen Schiffe hätten es Frankreich ermöglicht, aufs neue mit Macht in einen Kontinent vorzustoßen, der ihnen bis jetzt verschlossen gewesen war, und das zu einer Zeit, da England es weniger denn je daran hindern konnte.

Und doch mußte Alava gewußt haben, daß Bolitho bluffte, wenn er damit drohte, Garnison und Passagiere den Berberpiraten preiszugeben. Er mußte mit dem Gedanken gespielt haben, seinen Standpunkt zu behaupten — bis zu dem Moment, als Giffard mit seinem furchtbaren Fund hereingeplatzt war. Genau im richtigen Moment; Bolitho selbst hätte es nicht besser arrangieren können.

Als er mit Gillmor und Inch sprach, hatte er sich an Broughtons Warnung, an sein Mißtrauen gegenüber Draffen erinnert. Was würde er sagen, wenn er den vollen Umfang von Draffens Verräterei — falls es das war — erfuhr? Draffen konnte ja ebenfalls tot sein oder sich schreiend unter der Folter krümmen.

Da jetzt der Wind endlich wieder aufgefrischt hatte, bestand ein Schimmer von Hoffnung. Von dem Moment an, als der Reiter Gif-fards Leuten den Korb vor die Füße geworfen hatte, war es klar, daß die Einnahme des Kastells an der ganzen Küste bekannt war. Das Geschwader war immer noch nicht da; der Himmel mochte wissen, wie weit es inzwischen bei dem auffrischenden Wind gekommen war; und somit konnte man durchaus mit einem massiven Angriff der Berber auf das Kastell rechnen. Alava hatte erwähnt, daß Messadi mit seinen Piraten erhebliche Teile des Küstengebiets beherrschte und terrorisierte. Schebecken vom gleichen Typ wie die, welche die Na-varra angegriffen hatten, konnten nötigenfalls sehr dicht unter der

Küste operieren, wo sie einen Angriff schwerer Kriegsschiffe nicht zu fürchten brauchten.

Messadis Nachrichtendienst mußte ebenso gut sein wie der Draf-fens, dachte Bolitho. Denn es war ganz klar, daß der Angriff auf die Navarra nicht auf einem zufälligen Treffen auf hoher See beruhte. Dafür waren die Schebecken viel zu weit ab vom Land gewesen, und wenn es nicht plötzlich Sturm gegeben hätte, wären es bestimmt noch mehr gewesen. In diesem Fall hätte die Navarra den Angriff nicht abschlagen können, und Witrand wäre mit den anderen an Ort und Stelle getötet worden; die Übernahme Djafous durch die Franzosen wäre so lange verzögert worden, bis seine ursprünglichen Eigner, die Berber, es wiedererobert hatten. Oder bis Broughton ihnen zuvorgekommen wäre und dann selbst gesehen hätte, daß die Bucht als britische Basis nicht zu gebrauchen war.

Nachdenklich sagte Gillmor:»Die Frogs wollen also Malta nehmen, eh? Und dann immer so weiter, und kein britisches Schiff ist da, um ihnen Widerstand zu leisten!»

«Ohne Hilfe können wir nichts machen«, hatte Inch noch gesagt.

Es war, als hätte er seine Gedanken laut ausgesprochen. Aber Bo-litho erwiderte:»Ich habe immer gesagt: das Kastell ist Djafou. Fällt es, dann ist die Bucht für keinen sicher — weder für Franzosen, noch für Piraten, oder, was das anlangt, für uns. Wir müssen es zerstören, es so zerschlagen, daß es Monate, vielleicht ein Jahr dauert, es wieder aufzubauen. In dieser Zeit können wir in ausreichender Stärke wieder in diese Gewässer zurückkommen und den Franzosen da schlagen, wo es ihm am wehesten tut. Zur See!«Seine Worte bewirkten, daß ihr Pessimismus wich und schließlich in erregte Spannung umschlug.

Gillmor hatte etwas abgebremst.»Darüber müßten Sie doch wohl mit Sir Lucius Broughton sprechen?»

Darauf hatte Bolitho in die Bucht gedeutet, wo die Wellen im auffrischenden Wind bereits weiße Kappen bekamen.»Erst müssen wir den Schlag gegen jene führen, die diese Festung für ihre eigenen niederträchtigen Zwecke so nötig brauchen. Der Wind hält sich vielleicht, und wenn ja, ist das ein unerwarteter Vorteil für uns, den wir ausnutzen müssen.»

Das war erst vor einer Stunde gewesen. Jetzt war es Zeit zum Handeln, sonst würde die Hekla echte Schwierigkeiten bekommen, sich am Kastell vorbei in die offene See durchzukämpfen. Die Coquette sollte vor Anker bleiben und, falls Bolithos Angriff mißlang, nach seiner schriftlichen Order handeln: das Kastell demolieren, aber jeden

Spanier, jeden Marine-Infanteristen, jede lebende Seele überhaupt mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln evakuieren.

So enttäuscht Gillmor war, daß er bleiben mußte, war er deswegen doch nicht weniger besorgt um Bolitho.»Angenommen, Alavas Informationen stimmen nicht, Sir, und diese Berberpiraten sitzen ganz woanders? Oder Sie werden überrannt? Dann muß ich den Befehlen gehorchen, die Sie mir hinterlassen. Das könnte sehr leicht Ihren Untergang bedeuten, und dabei wissen wir doch, daß Sie zum Besten aller handeln.»

«Wenn das passiert, Captain Gillmor, dann brauchen Sie wenigstens nicht mitanzusehen, wie ich wegen eigenmächtigen Handelns kassiert werde«, hatte Bolitho erwidert und über Gillmors verdutztes Gesicht gelächelt.»Dann bin ich nämlich ohne jeden Zweifel tot.»

Aber als er seinen Hut aufnahm, der an der Lehne des großen Sessels im Kommandeurszimmer hing, fiel ihm Gillmors Warnung wieder ein. Mit einigem Glück würden sie irgendwo draußen auf die Restless stoßen, und diese konnte, was der schweren Fregatte nicht möglich war, Unterstützung leisten. Mit einigem Glück! Aber es zahlte sich nie aus, sich allzusehr auf Glück zu verlassen.

Er sah Allday an.»Fertig?»

«Aye, Captain.»

Unten am Landungssteg, dessen Steine noch Spuren von Musketenkugeln und Sawles Sprengladung trugen, spürte man den Wind stärker; man kam nur mühsam vorwärts und spürte Sand zwischen den Zähnen. Bolitho sah mehrere Boote, gedrängt voll mit den Passagieren der Navarra, und ein paar von Giffards Marine-Infanteristen. Auf seine Anordnung hin wurden alle Truppen außer den Schildwachen eingezogen und zur Sicherung des Forts verwandt, und er fand noch Zeit, sich zu fragen, was sie wohl denken mochten, wenn sie dort drin wie Tiere in der Falle saßen und die finsteren Mauern anstarrten.

Giffard und Bickford warteten schon bei der Gig, und der Hauptmann sagte ärgerlich:»Ich bin immer noch der Ansicht, meine Truppe sollte im Eilmarsch quer durch das Hinterland stoßen, Sir.»

Bolitho musterte ihn mit einem gewissen Wohlwollen.»Wenn wir mehr Zeit hätten, würde ich dem zustimmen. Aber Sie haben selbst gesagt, daß in diesen zerklüfteten Bergen ein paar gutplazierte Scharfschützen eine ganze Armee aufhalten können. Haben Sie nur keine Angst, Sie werden bald reichlich zu tun bekommen.»

Zu Bickford sagte er:»Mr. Fittock soll sich daranmachen, im Magazin und den unteren Räumen Sprengladungen zu legen. Das ist was für ihn, glaube ich. «Der Leutnant machte dazu ein so verbissenes Gesicht, daß Bolitho lächeln mußte.

Da kam Calvert hastig die Stufen herunter, mit so grimmig entschlossener Miene, wie man es sonst nicht an ihm kannte.

«Mit Ihrer Erlaubnis, Sir, möchte ich zu Ihnen auf die Hekla.»

Bolitho merkte, daß Giffard mißbilligend die Mundwinkel herabzog und daß einige Matrosen der Bootsbesatzung Calvert neugierig oder sogar verächtlich ansahen. Spontan sagte er:»Sicher. Steigen Sie ins Boot.»

Dann sagte Giffard mit offensichtlichem Mißbehagen:»Ich haben den — äh — Korb vergraben lassen, Sir. Am Ende des Fahrdammes.»

«Danke. «Bolitho mußte an die Frau denken, die in Bordeaux wartete. Ob er ihr wohl schreiben sollte, wo Witrand ums Leben gekommen war? Und daß er neben einem britischen Leutnant und einem pickligen Midshipman lag?

Mit kurzem Abschiedsnicken sprang er ins Boot und befahl:»Ablegen!»

Inch begrüßte ihn am niedrigen Schanzkleid des Bombenwerfers. Der Hut saß ihm schief, und er spähte auf die weißen Wogenkämme jenseits der Landzunge. Dann sah er Calvert, öffnete den Mund, wollte etwas sagen, überlegte es sich jedoch anders. Er kannte schließlich Bolitho besser als die meisten anderen. Und wenn der etwas tat, dann hatte er gewöhnlich gute Gründe dafür.

Das Boot wurde an Bord gehievt und auf seinem Gestell festgelascht, und dann befahl Inch:»Klar bei Ankerspill. «Er blickte zu Bolitho hin:»Wenn Sie soweit sind, Sir?»

Sie sahen einander in die Augen, trotz des Altersunterschiedes wie Verschworene.»Ab dafür, Commander Inch!«grinste Bolitho.

Inch hüpfte vor Vergnügen.»Also dann — ab dafür, Sir!»

Im Vergleich zu seinem Logis auf der Euryalus war die Heckkajüte des Bombenwerfers eng wie ein Kaninchenstall. Selbst hier wurde deutlich, wie sehr das Schiff auf Festigkeit gebaut war, und die massiven Decksbalken machten den Raum noch niedriger und enger.

Bolitho hockte auf der Sitzbank, sah durch die dicken Fensterscheiben den Gischt draußen vorbeifliegen und spürte, wie der flache Schiffsrumpf knarrend in eine steile Welle tauchte und schwerfällig nach Backbord drehte. Die Hängelampen schlugen wilde Kreise. Wie mochte erst dem Rudergast auf dem ungeschützten Deck zumute sein, und jenen Unglückseligen, die jetzt oben in den Masten waren und reffen mußten? Sie taten ihm richtig leid.

Knallend sprang die Tür auf, und Allday erschien mit einer Kanne Kaffee. Er schwankte rückwärts, konnte sich gerade noch mit den Fersen abstützen, schwankte wieder und stolperte dann zum Tisch, wobei er sich den Kopf an einem Decksbalken stieß, weil die Hekla gerade in ein so tiefes Wellental rutschte, daß es einem übel werden konnte. Ein Wunder, daß kein Tropfen des glühendheißen Kaffees verlorenging. Das muß schon ein sehr geschickter Koch sein, dachte Bolitho, der auf einem derartig stampfenden Schiff kochen kann.

Allday rieb sich den Schädel und fragte:»Können Sie nicht ein bißchen schlafen, Captain? Es sind noch vier Stunden bis Tagesanbruch.»

Dankbar ließ sich Bolitho den heißen Kaffee in den Magen rinnen. Während sich die Hekla von der Küste freikämpfte, hatte er vor Nachdenken nicht schlafen können; jetzt aber, da die Zeit allmählich knapper wurde, mußte er es wenigstens versuchen. Calvert lag, in eine Decke gewickelt, in einer der beiden kistenartigen Kojen; doch ob er schlief oder über Leleans Tod nachgrübelte, war schwer zu sagen. Er hätte ihn in Djafou lassen sollen, das war ihm durchaus klar. Doch ebenso klar war ihm, daß Calvert verrückt geworden wäre, hätte er ihn der Folter seiner Gedanken überlassen.

«Ich lege mich gleich hin, Allday«, sagte er.

Inch kam in die Kajüte; auf seinem Ölzeug glänzten die Salzkristalle, und er stolperte zur Kaffeekanne. Er wischte sich das klatschnasse Gesicht ab und sagte:»Der Wind hat etwas gedreht, Sir. Westnordwest, soweit ich sagen kann. In einer Stunde gehe ich über Stag. «Er hielt inne, weil ihn seine Autorität als Schiffskommandant plötzlich genierte.»Wenn's Ihnen recht ist, Sir.»

Bolitho lächelte.»Sie sind der Kommandant. Bestimmt ist es richtig für unser Vorhaben. Bei Tagesanbruch sichten wir vielleicht die Restless.«Er zwang sein Gehirn, sich nicht mehr mit seinen Zweifeln und Bedenken herumzuschlagen. «Aber jetzt will ich schlafen.»

Allday folgte Inch zur Kampanjeleiter und murmelte:»Mein Gott,

Sir, und ich habe mir eingebildet, ich würde gern wieder mal auf einem kleinen Schiff fahren!»

«Sie werden eben alt«, grinste der Kommandant.

Die See donnerte über das Deck, und eine gute Portion kam wie ein Sturzbach die Leiter hinunter auf sie zu.

Allday fluchte lästerlich und erwiderte dann:»Und, mit Respekt, Sir, ich möchte sogar noch 'n bißchen älter werden, bevor ich sterbe!»

«Guten Morgen, Sir. «Inch faßte an den Hut, als Bolitho an der Kam-panje erschien und über das Süll trat.

Bolitho nickte und ging zur Leereling, bereits hellwach von der frischen, feuchten Luft. Das Tageslicht war erst ein ferner Schimmer, und jetzt, da die Hekla über Stag gegangen war und fast parallel zur Küste segelte, konnte er schätzen, daß sie kaum mehr als zwei Meilen von ihr entfernt waren. Der Wind hatte noch weiter gedreht und kam jetzt stetig von Backbord; manchmal schlug Spritzwasser über das starke Schanzkleid und floß geräuschvoll durch die Speigatten ab. Er konnte Land sehen; es war allerdings nicht mehr als ein purpurner Schatten. Man konnte sich nur schwer vorstellen, daß Djafou erst knappe dreißig Meilen achteraus lag; aber das kam daher, daß die Hekla zunächst so mühsam gegen den Wind hatte ankreuzen müssen.

Inchs Schiffsführung war gut, und seinem langen Pferdegesicht war überhaupt nicht anzusehen, daß er fast die ganze Zeit an Deck gestanden hatte, während sein Schiff in weitem Bogen unter ständigem Kreuzen bis zu seiner jetzigen Position gelangt war.

Eine dichte Nebelbank kam hinter ihnen her, so daß der falsche Eindruck entstand, das Schiff mache überhaupt keine Fahrt; doch dieser Eindruck wurde durch den Schaum und das Spritzwasser korrigiert, die um den Bug flogen, und durch die straffen bräunlichen Segel über

Deck.

Er spähte nach vorn und sah einen matten Silberschein über den tanzenden Wogenkämmen: nun mußte die Sonne gleich aufgehen, wenn auch der östliche Horizont noch immer hinter Sprühwasser und Schatten verborgen lag. Ein paar Möwen segelten kreischend um die Masttopps; und er fragte sich, ob wohl auch andere Augen als die ihren die vorsichtige Annäherung der Hekla beobachteten. Vorsichtig nicht nur wegen des Überraschungsmoments. Während er die bereits so nahe Küstenlinie beobachtete, hörte er den Lotgasten aussingen:»Sieben Faden!«Sein Ruf ging in dem Knattern und Krachen der Segel fast unter.

Doch Inch schien nichts dabei zu finden — er kannte schließlich den flachen Rumpf besser als Bolitho.

Die Schatten an Deck bekamen allmählich Charakter und Persönlichkeit: ein paar Matrosen werkten an den Geschützen, andere liefen auf dem Vorschiff umher, wo Mr. Broome, der alte Stückmeister, seine Mörser überprüfte.

Aber die Mörser waren nicht die einzigen Zähne, mit denen die Hekla beißen konnte. Außer ein paar Drehbassen hatte sie noch sechs schwere Karronaden. Und die kräftige Konstruktion der massiven Planken hatte auch etwas für sich.

«Fünf Faden!»

«Einen Strich anluven, Mr. Wilmot!«rief Inch. Sein Erster (und einziger) Offizier schritt breitbeinig über das krängende Deck, und als das Ruder quietschend herumkam, rief er:»Liegt an, Sir! Ost zu Süd!»

«Sieben Faden!»

«Verdammt!«sagte Inch zu der Welt im allgemeinen,»das ist Seemannslos! Mal rauf, mal runter — wie'n Wasserfall!»

Am Fockmast hatten ein paar Matrosen einen Schleifstein festgelascht und schliffen geschäftig ihre Entersäbel — das Knirschen ging Bolitho durch und durch. Wie übervölkert das Deck war — aber außer der normalen Besatzung der Hekla waren ja noch die Überlebenden der Devastation und seines Landekommandos an Bord.

Inch rieb sich das windgerötete Gesicht.»Dauert nicht mehr lange, Sir. «Er deutete nach oben.»Ich habe einen guten Mann im Mast, der nach der Restless Ausschau hält.»

Bolitho erwiderte:»Es soll da so eine schmale Bucht geben, wo dieser Messadi seinen Schlupfwinkel hat. Windschutz genug für seine Schebecken, und mehrere Dörfer in Reichweite, wo er kriegen kann, was er braucht. «Er blickte Inch forschend an.»Sie können doch mit den Mörsern feuern, ohne zu ankern, hoffe ich?»

«Aye, Sir«, antwortete Inch stirnrunzelnd;»wir haben es allerdings noch nie gemacht. «Doch dann lächelte er zuversichtlich.»Aber eine Festung hatten wir ja auch noch nie beschossen — und es ging ganz gut.»

«Schön. Sobald Sie das Nest aufgestört haben, schießen wir auf jeden, der rauskommt. «Er sah zum Himmel empor.»Die Restless wird hoffentlich in der Nähe sein und uns unterstützen, sobald wir Feindberührung haben.»

«Und wenn sie nicht verfügbar ist, Sir?«fragte Inch trocken.»Dann ist sie eben nicht verfügbar«, entgegnete Bolitho achselzuk-kend.

Wieder grinste Inch.»Als ob man in einem Wespennest herumstochert. «Auf eine neue Meldung des Lotgasten eilte er nach vorn und ließ Bolitho mit seinen Gedanken allein.

Das Land nahm jetzt deutlich Form an; es waren dieselben schwarzen und öden Berge wie um Djafou. Die Küstenlinie verlief zwar unregelmäßig, aber von einer Einfahrt oder einer schmalen Bucht war bis jetzt noch nichts zu sehen. Doch das täuschte, wie er aus seiner Knabenzeit wußte. Einmal, fast noch als Kind, war er in einem kleinen Boot von Falmouth losgefahren und zu seinem Schrecken in eine schnelle Küstenströmung geraten. Irgendwo in der Nähe mußte eine Bucht sein, wo er in Sicherheit gewesen wäre, doch in dem schwindenden Licht konnte er nichts als diese grimmigen, feindseligen Klippen sehen. Er hatte schon alle Hoffnung und fast allen Mut verloren, da fand er sie ganz unerwartet. Ein paar Klippen lagen davor und verbargen sie fast; hinter ihnen war das Wasser glatt und ruhig. Vor Erleichterung war er in Tränen ausgebrochen. Sein Vater fuhr damals zur See. Hugh, sein Bruder, hatte ihn gesucht und hatte ihm eine Ohrfeige verpaßt, als er ihn fand.

Dünnes Sonnenlicht lag über dem driftenden Dunst; er hörte den Ausguck rufen:»Da is' was in Lee voraus, Sir! Kabbelwasser!»

Bolitho nahm ein Teleskop und suchte eifrig die spärliche Küstenlinie ab. Tatsächlich: da waren die charakteristischen kleinen Brecher an der inneren Biegung eines Landvorsprungs. Angestrengt versuchte er, diese Bucht in seine Vorstellung von Inchs Karte einzuordnen. Das mußte die Stelle sein, die Avala mit seiner leisen Aristokratenstimme beschrieben hatte.

Jemand kam an Deck, rutschte aus und entschuldigte sich verlegen. Es war Calvert, der sich in der Dämmerung an der Leereling entlangtastete. Er sah verhärmt und unausgeschlafen aus; dunkle Schatten waren unter seinen Augen.

«Ausguck!«rief Inch durch die hohlen Hände.»Was von der Restless zu sehen?»

«Nichts, Sir!»

«Der verdammte Kerl muß sich verirrt haben«, sagte Inch. Er war nervöser als sonst. Bolitho musterte ihn verstohlen. Vielleicht war

Inch besorgter, als er sich anmerken ließ, weil er sich an dieser verräterischen Küste so entlangtasten mußte. Oder vielleicht verbarg er damit seine wahren Gefühle über die Aufgabe, die ihm zugeschoben worden war? Es würde nicht einfach für ihn werden. Jetzt flüsterte Inch nickend mit dem Stückmeister und dem Ersten. Oder hatte er keine Lust, Bolithos Mißerfolg mit anzusehen?

Langsam, aber sicher kam der runde Landvorsprung näher; sein Gipfel schimmerte bereits im Frühlicht. Nun war es bald soweit.

Inch kam nach achtern.»Mit Ihrer Erlaubnis, Sir, lasse ich die Mörser feuern, sobald wir in Höhe der Landspitze sind. So haben meine Leute Zeit, neu zu laden; und die nächsten Schüsse fallen dann, sobald wir die Einfahrt passieren. Mr. Broome glaubt bestimmt, daß wir eine ganz schöne Konfusion anrichten werden, selbst wenn wir nichts treffen.»

Bolitho lächelte befriedigt. Inch hatte offenbar neues Selbstvertrauen gewonnen, und schon allein das war ansteckend.»Recht so. Machen Sie weiter.»

«Mannschaft auf Stationen, Mr. Wilmot! Sie wissen, was wir heute vorhaben!»

Die Geschützbedienungen waren schon vor Stunden herausgerufen worden. In der Kombüse löschte der Koch das Feuer; aber sonst konnten sie nur warten und Mr. Broome zusehen, der mit seinen Maaten wie eine Gruppe Hohepriester bei den niedrigen Mörsern stand.

«Die werden diese stinkigen Bastarde schon aufwecken!«murmelte Allday grimmig.

«Drei Faden!«sang der Lotgast aus. Hart und klar stand das Vorland jetzt gegen den Himmel und verlief in den kabbligen Wolkenkämmen, als wolle es dem Bugspriet einen freundschaftlichen Schubs versetzen.

Broome hob seine Hand.»Weg von den Mörsern, Jungs!«Bolitho sah, wie eine Lunte aufsprühte und der Stückmeister blitzschnell den Arm vorstreckte. Er hielt den Atem an.

In Sekundenabstand gaben beide Mörser Feuer, und zu seiner Überraschung war das Krachen der Schüsse gar nichts gegen den furchtbaren Rückstoß. Das Deck sprang und vibrierte so stark unter seinen Füßen, daß ihm die Zähne schmerzhaft aufeinanderschlugen und ihm das Genick weh tat, als sei er von einem durchgehenden Pferd gefallen.

Inch sah zu ihm herüber.»Ganz ordentlich, Sir.»

Bolitho nickte nur, denn seiner Stimme traute er nicht. Dann eilte er zur Reling und sah, wie es auf dem Grat des Vorlandes dunkel aufglühte; Sekunden später kam der dumpfe Schall der Detonation übers Wasser und ließ die Luft erzittern.

Brüllend trieb Broome seine Geschützbedienungen an, neu zu laden; aufgeregt redeten die wartenden Männer auf dem Hauptdeck durcheinander. Was für eine seltsame, entnervende Art der Kriegsführung, dachte Bolitho. Hoch über eine feste Landmasse zu schießen, ohne zu wissen, ohne sich auch nur darum zu kümmern, was dahinter lag!

«Achtung aufs Ruder, Mr. Wilmot!«rief Inch, rannte an die Reling und starrte in die vorderste Reihe der Brecher.»Wir müssen anluven, wenn wir noch näher herankommen!»

«Fertig, Sir!«bellte Broome.

«Noch nicht«, sagte Bolitho und wartete ab, bis sie an einer Reihe schaumfleckiger Riffe vorüber waren.»Gleich haben wir die Landspitze umrundet!»

Er riß seine Augen von den glitzernden Klippen los und stellte sich vor, was passiert wäre, wenn das Schiff etwas mehr Tiefgang gehabt hätte.

«Jetzt kommt's«, sagte Inch.»Da brennt irgendwas, wir müssen getroffen haben.»

Bolitho versuchte, mit seinem Teleskop die Stöße der Strömung auszugleichen. In der Bucht war es noch sehr dunkel, und das glosende Feuer war schon am Erlöschen — auf einem ausgedörrten Abhang hinten in der Bucht mochte ein Fleck Heidekraut in Brand geraten sein.

«Und noch mal!«Er riß den Mund auf und war froh, daß ihm diesmal die Zähne nicht so stark aufeinanderschlugen. Aber trotzdem — daß die Decksplanken der Hekla dieser gewaltigen Beanspruchung stand hielten, sprach sehr für die Konstrukteure dieses Schiffstyps.

Ein einziger heller Blitz, der sich zu einer mächtigen Feuerwand auswuchs, spiegelte sich in dem geschützten Wasser der kleinen Bucht wider, so daß er doppelt und dreifach so stark wie in Wirklichkeit erschien. In den wenigen Sekunden, in denen er aufflammte und erstarb, sah Bolitho die schwarzen Silhouetten einiger unbewegt vor Anker liegender Fahrzeuge, und vor Erleichterung wurde ihm beinahe schlecht.

«Na, da sind sie ja!«sagte Allday und lehnte sich ungeduldig gegen die Reling.»Möcht' ich doch wetten, daß wir ihnen die gottverdammten Bärte angesengt haben!»

Bolitho hörte gar nicht hin.»Wir sind nahe genug, Commander Inch! Drehen Sie bei, dann werden wir ja sehen, was passiert.»

Er schritt nach achtern an die Heckreling, um den Matrosen aus dem Wege zu gehen, die zu den Brassen und Fallen rannten. Soweit, so gut. In den nächsten Minuten würde es sich herausstellen, ob sie nur ihre Zeit verschwendeten. Wenn die Piraten sich entschlossen, in ihrer tiefen Bucht zu bleiben, dann war weiter nichts zu tun, als das Bombardement von See aus fortzusetzen. Die Mörser waren ja sehr eindrucksvoll, aber unter diesen Bedingungen konnten sie allenfalls eine Panik hervorrufen. Sie brauchten Stabilität, einen guten Ankerplatz und Beobachter an Land, um die Trefferlage zu signalisieren.

Mit schlagenden Blöcken und klatschenden Fallen holte die Hekla unter dem schweren Druck von Ruder und Segel über und drehte protestierend in den Wind.

Im Verhältnis zu seiner geringen Länge war das Deck sehr breit, und jeder Quadratfuß war gedrängt voll mit hastenden Männern, bis das Manöver beendet war und der Bomber auf Steuerbordbug lag, das Heck jetzt wieder dem Lande zugewandt.

Die Hekla war ein schwer zu handhabendes Schiff, und zum erstenmal seit langen Jahren fühlte Bolitho den unangenehmen Krampf der Seekrankheit im Magen.

Inch jedoch grinste nur und schwenkte die Arme, denn seine Stimme ging im Tosen des Windes und der See vollkommen unter. Die Hekla war für ihn mehr als nur ein Schiff, das er befehligte. Sie war wie ein neues Spielzeug, dessen Geheimnisse ihn immer noch überraschten und erregten.

Es dauerte noch eine halbe Stunde, bis das Manöver ganz beendet war und das Schiff wieder in seiner ursprünglichen Position lag, mit dem Landvorsprung in Lee. Mittlerweile war es so hell geworden, daß man schon die nächste Kette runder Bergkuppen ausmachen konnte und gelegentlich auch den kleinen, halbkreisförmigen Strand, sowie erheblich mehr Riffe, als er zuerst gedacht hatte.

Nachdenklich sagte Inch:»Wind flaut ab, Sir. «Geräuschvoll rieb er sich die Bartstoppeln.»Wird vielleicht doch noch heiß.»

Aber vor der Kimm lag noch reichlich Dunst und Nebel. Trotz der immer heller werdenden Lichtreflexe auf dem Wasser wurde es nicht warm, und sie fröstelten unter ihren durchweichten Uniformen.

Bolitho wandte den anderen den Rücken zu. Wahrscheinlich fand Inch die Aussicht bedenklich, bei dem abflauenden Wind so dicht unter Land zu liegen. Auch manche Matrosen steckten die Köpfe zusammen — bestimmt machten sie sich ebenfalls Sorgen.

Es war unfair, Inch einer solchen Gefahr auszusetzen, aber er mußte noch etwas abwarten. Vielleicht hätte er doch Befehl geben sollen, daß die Marine-Infanterie über Land marschierte, ohne Rücksicht auf Verluste. Aber er wußte, das war alles nur Pessimismus. Er hatte recht, er mußte recht behalten. Selbst wenn alle verfügbaren Seesoldaten die Bucht erreicht hatten, konnten die Schebecken immer noch entwischen; die kleinkalibrigen Musketen hätten sie nicht daran hindern können.

Er sah sich um, denn Calvert sagte:»Hören Sie?«Alle starrten ihn an, und er schlug die Augen nieder, faßte sich jedoch und sprach schnell weiter:»Bestimmt habe ich etwas gehört. «Es war beinahe das erstemal, daß Calvert etwas sagte, seit er an Bord war.

Dann hörte auch Bolitho es und verspürte das gleiche Kältegefühl wie an Bord der Navarra: der regelmäßige, hallende Takt der Trommeln; leicht konnte er sich die schlanken Schebecken mit den kraftvollen Ruderreihen vorstellen, wie sie elegant und mit latenter Grausamkeit zum Angriff fuhren.

Er konnte Inchs Beunruhigung durchaus verstehen.»Achtung! Sie kommen heran!«stieß er hervor.

Eine Welle der Erregung lief über das Deck; die Geschützführer holten sich ihre Männer vom Schanzkleid weg und brachen die lautlose Spannung durch Drohungen und Flüche.

«Jetzt haben wir sie, Sir«, murmelte Inch.»Sie können uns nicht den Windvorteil wegnehmen.»

Bolitho, die Hand am Degengriff, ging zu ihm hinüber.»Die brauchen keinen Windvorteil. Sie fahren aus eigener Kraft.»

Aufgeregte Rufe erklangen, als die erste Schebecke aus dem Schatten schoß; Gischtstreifen flogen von ihrem langen schlanken Bug, als sie über die niedrigen Brecher ritt.

Die Trommeln erklangen jetzt deutlicher, denn eine Schebecke nach der anderen löste sich vom Land; Bolitho hörte Inch laut zählen vielleicht wurde ihm erst jetzt klar, mit was für einem Gegner sie es zu tun hatten.

Gelassen bemerkte Allday:»Das sind viel mehr als neulich, Cap-tain. «Er leckte sich die Lippen.»Zwanzig, vielleicht auch zweiundzwanzig.»

Bolitho beobachtete sie genau; sein Gesicht war wie eine Maske, die wachsende Betroffenheit verbarg. Sobald sie von den Klippen klargekommen waren, schwärmten die Schebecken zu einem riesigen Fächer aus; die eintauchenden Riemen und die Bugwellen wühlten die weite Wasserfläche auf wie eine Bö.

An Deck der Hekla blieb alles totenstill. Wie Statuen standen die Geschützbedienungen da und starrten auf die näher kommenden Fahrzeuge. Es war eine richtige Flotte. Niemand hatte je etwas dergleichen gesehen; wenn es ihnen nicht gelang, diese Flotte in den Grund zu bohren, würde keiner am Leben bleiben, um später davon zu erzählen.

Bolitho trat an die Reling. Deutlich spürte er, daß die Männer, die bis vor kurzem noch erwartungsvoll und erregt gewesen waren, jetzt auf einmal Angst bekamen.

«Vergeßt eins nicht«, rief er mit fester Stimme, und alle Gesichter wandten sich ihm zu,»so etwas wie eure Hekla haben die bisher genausowenig gesehen wie ihr so einen Haufen Schebecken. Und auch einer Karronade haben sie wahrscheinlich noch nicht ins Maul geblickt. Also an die Geschütze und klar zum Feuern!«Sie sahen einander unschlüssig an, und er befahl kurz:»Jeder Geschützführer sucht sich sein Ziel aus. Und dann schießt wie noch nie, Jungs! Auch ihr an den Drehbassen und mit den Musketen — schießt, schießt und hört nicht auf, ganz egal, was kommt! Wenn sie uns entern, sind wir verloren!«Er zwang sich zu einem Lächeln.»Also sorgt dafür, daß jeder Schuß trifft!»

Er hörte metallisches Klirren: Inch hatte seinen krummen Säbel gezogen und befestigte ihn eben mit einer golddurchwirkten Kordel an seinem Handgelenk. Mit einem Blick auf Bolitho erläuterte er verschämt grinsend:»Ein Geschenk, Sir.»

Ein dumpfer Krach hallte von der Küste wider, und eine Kugel flog jaulend dicht übers Deck. Ein Geschützführer trat erschrocken von seiner Karronade zurück, aber Bolitho brüllte:»Näher kommen lassen! Noch nicht feuern!«Das Buggeschütz einer Schebecke spie Feuer und Rauch, eine Kugel traf den Rumpf der Hekla hart an der Wasserlinie. Die feindliche Flotte war inzwischen noch weiter ausgefächert, so daß die Hekla fast von ihr umzingelt war — die vordersten Boote glichen den Spitzen des Halbmondes, den sie in ihren Flaggen über den Lateinersegeln führten.

Immer schneller schlugen die Trommeln, immer näher trieben die langen Ruder die Fahrzeuge an die langsame Hekla heran; es war wie eine Kavallerieattacke auf ein Karree Fußsoldaten.

Er riß seinen Degen heraus und hielt ihn hoch.»Immer mit der Ruhe, Jungs!«Ein paar Matrosen, die dicht bei ihm standen, schwitzten trotz des kühlen Windes. Für sie mußte es so aussehen, als wollten die Schebecken direkt durch ihr Schiff fahren.

Das spärliche Sonnenlicht blitzte auf der Klinge — er hieb den Degen nieder und kommandierte:»Karronaden — Feuer!»

Unter der Reling detonierte das ihm nächste Geschütz mit ohrenbetäubendem Brüllen, polternd glitt das kurze stumpfe Rohr auf seinem Schlitten binnenbords, und die Bedienung stürzte bereits wieder mit Schwabber und Ladestock herzu. Bolitho fühlte die Detonation in seinem Kopf wie einen furchtbaren Schmerz und sah, wie die große Achtundsechzig-Pfund-Kugel mit blendendem, gelbrotem Blitz in eine Ruderbank schmetterte, dort zerbarst, und wie die Schrapnells alles niedermähten; wie die Riemen brachen und Splitter in alle Richtungen flogen, und wie die Schebecke herum und gegen das Nachbarfahrzeug geworfen wurde. Wieder spuckte eine Karronade Feuer und Rauch, und dann eine dritte auf der Gegenseite — eine Schebecke war zu nahe an den Steuerbordbug der Hekla herangekommen und bekam die schwere Kugel voll ins Vorschiff. Kreischende Berber, der abgebrochene Fockmast und das noch nicht in Aktion getretene Geschütz der Schebecke verschwanden in einem Schwall erstickenden braunen Rauches. Als er sich verzog, war das Fahrzeug bereits gekentert und versank in den wirbelnden Wellen.

Drehbassen knallten und krachten vorn und achtern, jaulend flog das gehackte Blei in die weißgewandeten Gestalten, die sich immer noch, Skimitars schwingend, Musketen abfeuernd, Kampfrufe brüllend, auf den Decksgängen der Schebecken drängten.

Wieder erzitterte der Schiffsrumpf, eine Kugel schmetterte in das

Schanzkleid, riß die dort stehenden Matrosen um und hinterließ eine Spur von Blut und zerfetztem Fleisch.

Eine Schebecke rammte die Hekla krachend unterhalb der Heckreling; ihr Steuermann mußte wohl tot oder so benommen sein, daß er sich in der Entfernung verschätzt hatte. Beim Anprall bestachen die Drehbassen ihr Deck vom Bug bis zum Heck, und als sie abfiel, bekam sie noch zwei Treffer von den Backbordkarronaden, so daß sie auseinanderbrach und sank.

Aber zwei andere Schebecken kamen längsseit, und als die Matrosen zur Abwehr herbeirannten, kletterten schon die ersten der brüllenden Piraten die Enternetze hoch, die Inch vor Sonnenaufgang hatte ausbringen lassen.

«Drauf, Leute!«schrie Bolitho durch die hohlen Hände. Aus dem Luk strömten die anderen Matrosen, darunter viele seiner eigenen Besatzung, die bereits im Kampf um Djafou dem Tod ins Auge gesehen hatten.

Unter gellendem Hurrageschrei stürmten sie vorwärts, stießen ihre Piken, hieben ihre Säbel in die enternden Seeräuber, die, von dem rasiermesserscharfen Stahl aufgespießt, zuckend in den Netzen hängenblieben.

Doch da hörte er warnende Rufe durch den Rauch: im Vorschiff mußten zum mindesten einige Piraten die Netze zerschnitten haben und an Bord gekommen sein.»Inch, bleiben Sie hier«, rief er.»Und Sie, Allday, kommen mit mir! Wir müssen dafür sorgen, daß die Karronaden weiterfeuern, sonst sind wir alle verloren!»

Am Gangspill sprühten Funken, und oben sauste Eisen durch die Luft. Ein paar Kugeln trafen den Schiffsrumpf, wobei die Kanoniere der Schebecken wahrscheinlich auch ihre eigenen Leute umbrachten, denn sie feuerten mit ihren langen Geschützen blind in den dicken Rauch.

An der vordersten Karronade waren mehrere Matrosen ausgefallen; Bolitho hörte sie schreien, als die ersten Enterer aus dem Qualm auftauchten und mit ihren Skimitaren und breiten Säbeln blindwütig um sich hieben.

Am Vorschiff bellte eine Drehbasse, blutend stürzten ein paar Piraten auf die Planken und zuckten im Todeskampf; aber andere schwärmten durch einen großen Riß im Netz an Deck und stürzten sich mit geschwungenen Säbeln auf die Matrosen.

Bolitho packte einen Geschützführer an der Schulter und schrie:»Versuch, das Boot da zu treffen!«Halb betäubt nickte der Mann und ließ neu laden.

Allday fuhr herum und hieb einen Enterer nieder, der sich irgendwie durch Leutnant Wilmots Abteilung gekämpft hatte. Der Berber rutschte das Deck entlang, ein Matrose stieß ihm die Pike zwischen die Rippen, und er bleckte die Zähne im Todesschrei.

Bolitho schwenkte den Degen und winkte eine Gruppe von Matrosen unter dem Großmast herbei. Er fühlte eine Pistolenkugel dicht an seiner Wange vorbeifliegen, drehte sich um und sah Wilmot fallen — Blut strömte aus seinem Mund. Eben hatte er noch an der Spitze seiner Männer gekämpft.

Inch rief seinen Leuten zu, eine brennende Schebecke mit ihren Bootshaken wegzustoßen, die gefährlich nahe herangetrieben war. Bolitho hörte furchtbare Schreie aus diesem Boot und sah, daß die Ruderer an ihren Bänken festgekettet waren — es mußten Sklaven sein, die jetzt einem schrecklichen Tod geweiht waren.

Ein Mann kam von oben; sein Gesicht war von einer Musketenkugel zerfetzt. Ein anderer rollte sich von einer Karronade weg; das zurückstoßende schwere Rohr hatte ihm den Fuß zerquetscht.

Der Geschützführer von vorhin winkte Bolitho zu; weiß leuchteten seine Zähne in dem pulvergeschwärzten Gesicht. Er hatte es geschafft, die Schebecke zu treffen, die direkt unter dem Riß im Netz festgemacht hatte.

Ein bärtiger Pirat duckte sich unter eine Pike weg und kam direkt auf Bolitho zu, den schweren Krummsäbel in Brusthöhe vorstoßend. Bolitho parierte, Funken sprühten, er fühlte den Anprall bis in die Schulter hinein, aber es riß den Kerl halb herum, und bevor er sein Gleichgewicht wiederfand, hatte Stückmeister Broome ihn schon mit einem Belegnagel zu Boden geschlagen.

Auf einmal stand Inch neben ihm und schrie:»Wir haben schon über die Hälfte versenkt, und den anderen geht's auch ziemlich drek-kig!»

Er schwenkte den Hut, und als der Qualm über den schwitzenden Kanonieren dünner wurde, sah Bolitho, daß die See mit zerschossenen Schiffsrümpfen und Wrackteilen bedeckt war. Hier und dort ruderte noch eine havarierte Schebecke eilends dem Lande zu. Es würde eine

Weile dauern, dachte er benommen, bis Messadi an diesem Küstenstrich wieder sein Schreckensregiment ausüben konnte.

Da kam ein Ruf von Broome:»Bei Gott, Sir! Da ist noch eine, direkt vorm Bug!»

Durch den Rauch sah Bolitho den gespaltenen Wimpel ganz nahe — irgendwie wußte er, daß es das Führerschiff war. Da versuchte wohl Habib Messadi in eigener Person, der Hekla zu entkommen und noch einmal die schützende Bucht zu erreichen.

Er rannte mit Inch nach achtern, wo die Rudergasten breitbeinig über zwei toten Kameraden standen, deutete mit dem Degen auf die fliehende Schebecke und rief:»Eine Guinea für den Geschützführer, der sie versenkt!»

Das Bewußtsein ihres Sieges, das plötzliche Begreifen, daß sie einen furchtbaren, zahlenmäßig weit überlegenen Feind abgeschlagen hatten, war genug. Hurraschreiend oder vor Erschöpfung schluchzend rannten sie wieder an die Taljen; Drehbassen- und sogar Musketenkugeln durchschnitten die Luft, um die schnelle Schebecke zu treffen.

Da fuhr eine der schweren Karronaden im Rückstoß binnenbords, und aufblitzend schlug das Geschoß dicht unter dem ausladenden Bug der Schebecke ein. Ein zweites traf die reichgeschnitzte Kampanje und zermalmte die dichtgedrängten Männer zu blutigem Brei.

Alles brüllte und schrie; Bolitho stieg ein Stück in die Wanten, um über die rollende Rauchwolke blicken zu können: die Masten der Schebecke kippten bereits.

Inch rief ihm etwas zu, doch als er sich umwandte, spürte er einen Schlag gegen die rechte Schulter — nicht sonderlich schlimm, aber er taumelte und brach in die Knie. Mit dumpfer Überraschung sah er Blut, das über seine weiße Kniehosen auf die Planken rann. Er lag auf der Seite, das mächtige Großsegel über sich, und dahinter ein blasses Wölkchen. Rufe ertönten, Inch kam mit schreckensstarrem Gesicht herbeigerannt. Bolitho öffnete den Mund, um ihn zu beruhigen, aber da durchfuhr ihn ein Schmerz, so stark und furchtbar, daß er in gnädige Dunkelheit versank.

Und dann kam das Vergessen…

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