Kapitel 9

Fidelma verließ allein die Burg, obwohl die Wachposten am Tor sie davon abhalten wollten und darauf bestanden, ihr angesichts der Bedrohung durch die Ui Fidgente einen Krieger mitzugeben. Sie ritt den Hügel hinab in die Stadt. Die Dämmerung war angebrochen, ein dünner Nebelschleier erhob sich. Alles wirkte düster und kalt. Sie ritt über den beinahe menschenleeren Marktplatz. Am anderen Ende befand sich das Gasthaus, an dessen Tür die Bekanntmachung für die Entführer Alchus hing. Sie war am Türpfosten angemacht und wurde von einer Laterne beleuchtet. Ob auf dem Land oder in der Stadt, an jedem Gasthof brannte bei Einbruch der Nacht eine Laterne. Fidelma ging davon aus, daß Cerball seinen Auftrag ausgeführt hatte und Capa nun überall die Bekanntmachung anbrachte.

Musik und Gelächter drangen aus dem Gasthaus.

Der Lärm kam ihr so unbeschwert und überschwenglich vor. Plötzlich dachte sie, daß sie Eadulf lieber in ihr Vorhaben einweihen sollte. Sie bemerkte zwei oder drei ältere Kinder, die sicher auf ihre Eltern warteten, die sich drinnen aufhielten. Sie schienen im Lichtschein der Laterne etwas zu spielen.

»Würde sich einer von euch gern einen pingm verdienen, indem er eine Nachricht zur Burg bringt?« fragte sie die Kinder.

Ein größerer Junge sah sie an.

»Nur einen pingm?« protestierte er. »Das letztemal war es einen screpall wert.«

Fidelma blickte ihn überrascht an und sagte: »Das letztemal?«

»Du hast mich schon einmal gebeten, eine Nachricht zur Burg zu bringen, da hast du mir einen screpall angeboten. Das war erst letzte Woche.«

»Bist du sicher, daß ich es war?« fragte Fidelma.

»Nun«, sagte der Junge zögernd und neigte den Kopf zur Seite, »es war eine Frau in einem feinen Umhang. Sie stand im Schatten an der Ecke des Gasthauses.«

»Aber du hast den Auftrag nicht angenommen?«

»Nein. Ich wollte es gerade tun, da trat mein Vater aus dem Gasthaus. Da ist er auch jetzt drin. Ich mußte ihn nach Hause bringen. Zu viel von dem corma.«

Seine Gefährten lachten, aber dem Jungen machte das nichts aus.

Fidelma stimmte diese Neuigkeit zufrieden, wenngleich sie sie auch aufwühlte. Nun war endlich die Frage beantwortet, die sie so lange bewegt hatte: Wieso hatte die fremde Frau ausgerechnet dem Zwerg die Nachricht anvertraut? Soeben war das Rätsel gelöst worden - es war einfach purer Zufall gewesen. Die geheimnisvolle Frau hatte auf irgend jemanden gewartet, der keine Fragen stellen würde. Sie hatte es mit dem Jungen versucht, da er aber verhindert war, hatte sie den Zwerg angesprochen.

»Und überhaupt«, sagte der Junge, »ich mache keine Botengänge für weniger, als du mir letzte Woche geben wolltest.«

Fidelma warf dem Jungen wortlos eine kleine bron-zefarbene Münze hin. Nachdenklich ließ sie ihr Pferd lostraben. Als sie sich dem Haus am Rand der Stadt näherte, grübelte sie immer noch. Das Haus stand ein wenig von den anderen entfernt, war mittelgroß und verfügte über ein kleines Nebengebäude und einen Stall. Inzwischen war es ganz dunkel, doch die Wärme, die sich in der Stadt gehalten hatte, hinderte den Nebel daran, weiter vorzudringen.

Fidelma fuhr aus ihren Gedanken auf und brachte ihr Pferd zum Stehen. Sie erkannte die dunklen Umrisse eines Pferdes, das am Haus angebunden war. Da ging die Tür auf. Über dem Vorbau hing eine Laterne, so konnte sie den großen Krieger mit den breiten Schultern und dem schwarzen Haar erkennen. Es war Gorman. Er hielt eine Weile die Hand der Frau, die neben ihm auf der Türschwelle stand.

»Paß auf dich auf, Gorman«, sagte die Frau. »Tu nichts Voreiliges.«

Der Krieger erwiderte etwas, doch Fidelma konnte es nicht hören. Dann beugte er sich vor und umarmte die Frau vertraut, ehe er auf sein Pferd stieg und in der Nacht verschwand. Glücklicherweise ritt er nicht auf dem Weg zurück in die Stadt, auf dem sich Fidelma befand. Sie wartete eine Weile und trieb dann ihr Pferd weiter zum Haus voran. Dort ließ sie sich von dessen Rücken gleiten und band die Zügel um den Pfosten bei der Tür.

Die Holzbalken des Vorbaus knackten laut, als sie sie betrat. Die Tür flog auf.

»Gorman, hast du ...«

Die Frau verstummte erschrocken, als sie Fidelma erblickte.

»Guten Abend, Della.«

Der Schreck wich vom Gesicht der Frau, nun lächelte sie. Sie war in den Vierzigern, doch ihr Äußeres wirkte noch jung, ihr volles Haar schimmerte immer noch golden. Sie trug ein enganliegendes Kleid, das ihre hübsche Figur betonte. Ihre Hüften waren schmal geblieben, ihre Arme wohlgeformt.

Fidelma nahm die Hände der Frau, die diese ihr zur Begrüßung reichte.

»Fidelma! Wie schön, dich zu sehen.«

»Es ist schon lange her, Della«, erwiderte Fidelma.

Della blickte ihr tief in die Augen. Darin stand Mitgefühl.

»Ich habe von deinem Kummer gehört. Gibt es irgendwelche Neuigkeiten von Alchu?«

Fidelma schüttelte den Kopf. Della trat zur Seite und ließ sie eintreten.

»Nimm Platz. Dort, dicht neben dem Feuer, denn es ist sehr kühl. Etwas zu trinken? Ich habe corma und Holundersekt.«

Fidelma nahm Platz und sagte, daß sie den Holundersekt, ein süßes Getränk aus den Blüten des trom, des Holunderbusches, probieren wollte. Della brachte ihr einen Becher voll und ließ sich ebenfalls nieder.

»Dein Unglück betrübt mich sehr, ebenso wie der Verlust meiner Freundin.«

Fidelma verbarg nicht, wie sehr sie diese Äußerung überraschte. »Deiner Freundin?«

»Sarait.«

»Ich wußte nicht, daß du Sarait gekannt hast.«

Della runzelte kurz die Stirn. »Ich dachte, daß du mich deshalb aufsuchst.«

Fidelma schüttelte den Kopf. »Der Grund meines Besuchs kann warten. Erzähl mir mehr von dir und Sarait. Wann seid ihr Freundinnen geworden?«

»Oh, nachdem ihr Mann in der Schlacht umgekommen war ... oder vielmehr umgebracht worden war.«

»So, zu dir sind also auch die Gerüchte über seinen Tod in Cnoc Äine gedrungen. Von wem hast du davon gehört?«

»Von Sarait persönlich.«

»Sie wußte, daß er ermordet wurde?«

»Das hat sie so genau nie formulieren wollen . Ich werde dir sagen, was ich weiß. Sarait war immer freundlich zu mir, auch als ich eine bé-tâide war, eine Prostituierte. Ihre Schwester Gobnat war viel zu hochnäsig und korrekt dazu. Sie hat mich immer übergangen. Das macht sie auch heute noch. Aber Sarait war eine nette und freundliche Seele. Einige Monate, nachdem ihr Mann ermordet worden war, kam sie zu mir. Ihr ging es ganz elend. Sie sah aus, als sei sie geschlagen worden.«

Fidelma lehnte sich erstaunt vor.

»Du meinst, daß man sie körperlich mißhandelt hatte?«

»Ihr Körper trug viele blaue Flecken. Sie kam zu mir, weil sie Rat von jemandem wollte, der schon das Schlimmste und das Schönste erlebt hatte, was ein Mann bieten kann.«

»Hat sie dir gesagt, wer sie so zugerichtet hatte?«

»Leider nicht. Es war jemand, der in sie verliebt war, doch sie fühlte sich von ihm abgestoßen und glaubte, derjenige hätte ihren Mann Callada auf dem Gewissen. Er versuchte, sie mit allen Mitteln zu gewinnen. Eines Tages hat er sie vergewaltigt. Sie hat sich gewehrt, aber er war zu stark.«

Verwundert lehnte sich Fidelma wieder zurück.

»Wenn der Mann ihren Gatten bei Cnoc Äine ermordet hat, dann muß man ihn hier in Cashel kennen.«

»Sie verriet nicht, wer es war«, wiederholte Della. »Aber die Vergewaltigung hat sie sehr mitgenommen.«

»Forcor ist ein scheußliches Verbrechen.«

Vor dem Gesetz gab es zwei Arten von Vergewaltigung. Forcor war die Vergewaltigung unter Zwang und mit köperlicher Gewalt, während sleth alle anderen Situationen einschloß. Zu sleth kam es vor allem bei Trunkenheit. Geschlechtsverkehr mit einer betrunkenen Frau, die sich nicht wehren konnte, wurde genauso streng geahndet wie eine gewaltsame Vergewaltigung.

»Sie wollte mir den Namen des Mannes nicht verraten, aber sie wollte sich jemandem anvertrauen, ohne Vorwürfe und Schuldzuweisungen hören zu müssen. So wurden wir Freundinnen, und von da ist sie häufig zu einem Becher Met und einem Schwatz vorbeigekommen. Doch was kann ich für dich tun, Lady Fidelma? Du besuchst mich nicht gerade oft. Geht es um dein Kind?«

Fidelma wurde ein wenig verlegen. Zwischen ihr und Della bestand eine merkwürdige Beziehung. Es stimmte, Fidelma besuchte Della nicht häufig, auch wenn sie nur zehn Minuten von der Burg entfernt wohnte. Fidelma hatte Della etwa vor drei Jahren vor Gericht vertreten, als sie vergewaltigt worden war, deshalb war sie nicht verwundert darüber, daß Sarait sich an Della gewandt hatte, als sie sich in einer ähnlichen Lage befand. Unvermittelt hatte Fidelma wieder Eadulfs Reaktion vor Augen, als sie ihm die Geschichte von Dellas Vergewaltigung erzählt hatte. Natürlich hatte er sich von den allgemeinen Vorurteilen gegenüber Prostituierten leiten lassen und sehr sarkastisch darauf reagiert, daß eine Hure vergewaltigt worden war. Das hatte Fidelma sehr verärgert, und sie hatte ihm barsch entgegnet: »Kann denn eine Frau, nur weil sie Prostiuierte ist, nicht auch vergewaltigt werden?« Im Gesetz der fünf Königreiche stand geschrieben, daß eine Frau, selbst wenn sie eine bé-tâide war, als Entschädigung für eine Vergewaltigung vom Täter die Hälfte ihres Sühnepreises erhielt. Nachdem Fidelma den Fall gewonnen hatte, hatte Della ihren bisherigen Broterwerb aufgegeben. Das kleine Haus in Cashel hatte sie von ihrem Vater geerbt. Fidelma wußte aber, daß viele Leute in der Stadt sie immer noch geringschätzig behandelten, und so führte Della ein sehr zurückgezogenes Leben. Fidelma schloß kurz die Augen. Sie fühlte sich ein wenig schuldig, weil sie sie nicht häufiger besuchte. Und tat sie es doch, kam sie heimlich in der Dunkelheit.

»Kannst du dich an unsere letzte Begegnung erinnern?« fragte Della auf einmal.

»Ja«, antwortete Fidelma.

Della seufzte. »Du hast freundlicherweise dafür gesorgt, daß ich entschädigt wurde, als die Krieger von Donennach mein Haus zerstört hatten, während ich Bruder Mochta und die Reliquien des heiligen Ailbe versteckt hielt.«

»Aber erinnerst du dich auch daran, was du bei unserem Abschied gesagt hast?«

»Ich sagte, am besten kommt man doch mit sich allein zurecht. Wird die Einsamkeit kurz unterbrochen, sehnt man sich bald nach ihr zurück.«

Fidelma nickte, die Worte waren ihr noch gut im Gedächtnis. »Und ich erwiderte darauf, wir alle sind zur Einsamkeit verurteilt, manchmal schützt uns nur unsere eigene Haut, deshalb gibt es keinen Weg aus der Einsamkeit hinaus ins Leben.«

Della sah sie voller Anteilnahme an.

»Hast du dich seit der Entführung deines Kindes einsam gefühlt?«

Schmerz überkam Fidelma wie ein Stechen in der Magengegend. Sie versuchte ihn zu verbergen, zu vergessen.

»Darf ich dich etwas fragen, Della?«

»Dazu bedarf es keiner Erlaubnis.«

»Dabei muß ich dich leider an eine unerfreuliche Zeit erinnern. Weißt du noch, wie ich dich damals vor Gericht vertrat und du als Entschädigung .«

»Ich entsinne mich genau, wie du mich verteidigt hast, ja«, antwortete Della nur.

»Du erschienst in einem grünen Seidenumhang mit Kapuze vor Gericht. Er war mit einer roten Stickerei verziert und wurde von einer silbernen edelsteinbesetzten Schnalle zusammengehalten. Er war sehr schön.«

Della sah sie nachdenklich an und nickte.

»Besitzt du ihn noch?«

Della zögerte einen Augenblick, dann senkte sie den Kopf. »Ich habe ihn nicht mehr getragen, seit ich mein Leben als bé-tâide aufgegeben habe.«

»Aber du hast ihn noch, oder?«

»Ja.«

»Zeigst du ihn mir bitte?«

Wieder zögerte Della, dann zuckte sie mit den Achseln. Sie stand auf, ging zu einer Holztruhe in der Ek-ke des Raumes und öffnete sie. Die Truhe war voller Kleider, und sie zog eines nach dem anderen heraus und legte es auf den Boden - durchweg kostbare Stücke. Fidelma brauchte nicht zu fragen, wie Della in ihren Besitz gekommen war. Es waren Erinnerungsstücke an ihr vergangenes Leben.

Plötzlich hörte sie, wie Della tief Luft holte.

»Was ist denn?« wollte sie wissen.

»Ich weiß nicht. Ich glaube, jemand hat in meiner Truhe gewühlt. Eins meiner Kleider ist zerrissen, es ist an der Naht ganz kaputt. So habe ich es damals nicht in die Truhe gelegt, als ich die Sachen weggeräumt habe.«

»Und wann war das?«

»Kurz nach der Gerichtsverhandlung. Ich wollte diese Kleider aus meinem alten Leben nicht mehr sehen.«

»Such nach dem grünen Seidenumhang.«

Fidelmas Stimme klang auf einmal recht schroff. Della blickte sie fragend an, doch dann beugte sie sich wieder über die Truhe. Als sie alles durchstöbert hatte, ließ sie sich mit verwunderter Miene auf dem Fußboden nieder.

»Er ist nicht da.«

Fidelma seufzte. »Ich hatte schon vermutet, daß er nicht dabei sein würde.«

Della runzelte die Stirn und schaute sie an.

»Was willst du damit sagen? Ich glaube, du schuldest mir eine Erklärung.«

»Della, wo warst du an dem Abend, an dem Sarait umgebracht wurde?«

Dellas Lippen bebten ein wenig.

»Wird mir etwas vorgeworfen?«

»Bitte, Della.« Unter anderen Umständen hätte sie sie eiskalt verhört, doch sie kannte Della. »Ich werde es dir erklären, wenn du mir ein paar Fragen beantwortest.«

»Soweit ich mich erinnere, war ich hier. Ich bin gewöhnlich immer hier.«

»Kannst du das beweisen?«

Della schüttelte den Kopf. »Ich war allein.«

Fidelma hatte das eigenartige Gefühl, ihre Freundin sagte nicht die Wahrheit. Sie beschloß aber, nicht weiter in sie zu dringen.

»Wann hast du den grünen Umhang zum letztenmal gesehen?«

»Wie ich schon sagte, ich habe ihn in die Truhe gelegt, als ich nicht mehr das Leben einer bé-tâide führen wollte, das war vor drei Jahren. Seitdem habe ich nicht mehr hineingeschaut.«

»Warum hast du ihn überhaupt weggelegt? Du hättest ihn doch verkaufen können. Er war sehr kostbar.«

Della zuckte mit der Schulter. »Wir tun im Leben vieles, was nicht logisch ist. Du hast die Kleider gesehen, die ich aufbewahrt habe. Sie erinnern mich an vergangene Zeiten ... An das, was ich gewesen bin.«

»Und es ist niemand in dein Haus eingebrochen? Vielleicht ist der Umhang gestohlen worden?«

Della schüttelte den Kopf. »Es gibt keinen Grund, hier einzubrechen. Ich halte die Tür nie verschlossen. Jeder kann kommen und gehen, wie er will.«

»Und du sperrst nie zu, auch wenn du fortgehst?« »Nein, nie. Nur nachts, da schiebe ich den Riegel vor.«

»Also hätte jeder hereinkommen und deinen Umhang stehlen können?«

»Vermutlich. Doch nun mußt du mir sagen, was das Ganze soll.«

Fidelma preßte kurz die Lippen aufeinander.

»An dem Abend, als Sarait starb und mein Baby entführt wurde, hat man sie mit einer falschen Nachricht aus der Burg gelockt. Ein Zwerg richtete ihr aus, daß sie Gobnat dringend aufsuchen solle.«

»Gobnat? Die hat doch kaum Kontakt zu ihrer Schwester gehabt.«

»Kennst du sie so gut?«

»Jeder in der Stadt kennt sie. Gobnat gehört zu diesen rechtschaffenen Frauen, die immer noch so tun, als gäbe es mich nicht. Sie soll hohe moralische Maßstäbe haben und eine Säule des neuen Glaubens sein.«

Fidelma streckte sich vor dem Feuer aus.

»Das klingt ja, als könntest du sie nicht besonders leiden, oder?«

»Mich ärgert nur ihr Dünkel. Aber so benehmen sich ja viele Leute.«

Fidelma blickte Della neugierig an. »Was meinst du damit?«

»Ich meine ihr übersteigertes Selbstwertgefühl. Sie tut, als sei sie viel besser als andere Frauen hier. Seit ihr Mann Capa die Leibgarde deines Bruders befehligt, trägt sie die Nase noch höher.«

»Mein Mentor Brehon Morann hat immer gesagt, daß der Stolz nur eine Maske ist, hinter der man die eigenen Fehler verbergen will.«

Della mußte lächeln. »Wenn jemand einen Grund hat, stolz zu sein, dann du, Fidelma. Du bist so klug und gebildet, und deine Taten sind in den fünf Königreichen von Éireann in aller Munde.«

Fidelma wies das von sich. »Als ich bei Brehon Mo-rann Recht studierte, da habe ich mich als erstes von meiner Eitelkeit verabschieden müssen. Sich deutlich zu machen, daß man nichts wußte und nie mehr als einen Bruchteil von allem wissen würde, auch wenn man sein ganzes Leben der Kontemplation und dem Studium widmen würde, war aller Studien Anfang. Sonst wäre es mir nicht einmal möglich gewesen, das zu lernen, was ich schon längst zu wissen glaubte.«

Della versuchte, Fidelma wieder auf das eigentliche Thema ihres Gesprächs zurückzubringen.

»Du hast da eben einen Zwerg erwähnt, der zur Burg kam. Suchst du nach ihm?«

Fidelma lächelte ein wenig. »Ich habe ihn bereits gefunden. Was er mir erzählte, glaube ich ihm. Ich glaube es, weil sein armer Bruder sterben mußte.«

»Und was hat er erzählt?«

»Daß er an jenem Abend nach Cashel kam und von einer Frau - einer Frau, die einen grünen Seidenumhang mit roter Stickerei trug - gebeten wurde, Sarait eine Nachricht zu überbringen.«

Aufmerksam beobachtete sie Dellas Gesicht. Sie war überrascht, als sie einen Anflug von Erleichterung darin entdeckte.

»Dann wird der Zwerg diejenige wiedererkennen können, die den Umhang trug.«

»Leider nicht«, erwiderte Fidelma. »Du mußt wissen, daß das Licht, daß auf die Kleider der Frau fiel, nicht ihr Gesicht preisgab. Der Zwerg konnte nur feststellen, daß die Frau nicht mehr jung war. Sie gab ihm für seinen Botendienst Geld.«

Della wirkte nun wieder angespannt und sah blaß aus.

»Jetzt begreife ich, warum du mir diese Fragen stellst«, sagte sie. »Du denkst, daß ich es war. Aber auch andere Frauen könnten solch einen grünen Umhang mit roter Stickerei besitzen.«

Fidelma zeigte auf die Kleidertruhe.

»Die Tatsache, daß du deinen Umhang nicht mehr findest, scheint die Vermutung zu bestätigen, daß es sich um ihn handelt.«

»Das bedeutet aber nicht, daß ich ihn getragen habe.«

»Das stimmt. Kannst du dich erinnern, was genau du an jenem Abend alles getan hast?«

Della zögerte.

»Fidelma, du hast mir geholfen, als alle anderen sich von mir abgewandt haben. Du hast mich verteidigt, als andere mich verurteilten. Ich schwöre dir bei unserer Freundschaft, daß ich nicht diejenige bin, die du suchst. Ich weiß nichts weiter, als daß ich einmal einen grünen Seidenumhang besessen habe und er nun verschwunden ist.«

Fidelma sah sie eine Weile eindringlich an.

»Als deine Freundin sage ich dir, Della, daß ich dir glaube. Aber in dieser Sache muß ich als dâlaigh sprechen. Ich muß herausfinden, wann dir der Umhang gestohlen wurde, und ich benötige irgendeinen Beweis dafür, daß du an dem Abend, an dem Sarait ermordet wurde, hier im Haus warst.«

Della hob hilflos die Arme hoch.

»Vom Recht verstehe ich nichts, Lady Fidelma. Du mußt tun, was du tun mußt. Ich werde deine Fragen, so gut es geht, beantworten. Doch ich kann dir in dieser Sache gewiß nichts Nützliches erzählen.«

»Du kannst mir also nicht genau sagen, ob du an diesem Abend hier im Haus warst. Kannst du mir jemand nennen, der für dich bürgen würde?« fragte Fidelma eindringlich.

»Es gibt dazu nichts mehr zu sagen«, erwiderte Della entschlossen.

Fidelma seufzte tief.

»Nun gut. Ich glaube dir, Della, aber ich will mein Kind finden. Das siehst du doch ein.«

Della beugte sich spontan vor und berührte Fidel-mas Arm.

»Sieh mal, ich bin auch Mutter. An deiner Stelle würde ich mich ebenso verhalten. Ich war nicht glücklich in meinem Leben. Als ich jung war, wollte ich unbedingt eine Familie gründen. Das ist mir versagt geblieben. Mein Pech war, daß ich mich immer in die falschen Männer verliebt habe. Ich schenkte ihnen all meine Zuneigung und mein Vertrauen, und sie nahmen mir alles und ließen nur schreckliche Erinnerungen zurück. So wurde ich zu einer bé-tâide; ich wollte mich an den Männern rächen.«

»Ich verstehe nicht, warum Prostitution eine Art Rache an den Männern sein sollte.«

Della lachte auf, aber eher verbittert.

»Prostitution macht Männer unterwürfig; sie suchen die Gunst der Frauen und müssen dafür bezahlen. Das ist die Rache für alle Frauen, denen sie sich aufgedrängt haben, als deren Herren sie sich aufspielen, nur weil sie ihre Ehemänner sind.«

»Die Frauen müssen sich doch nicht mit dem Verhalten der Männer abfinden«, erinnerte Fidelma sie. »Vor dem Gesetz haben sie das Recht, sich von ihnen zu trennen und sich scheiden zu lassen.«

»Das Gesetz ist logisch. Manchmal ist das Gesetz aber nur so gut wie der Mensch selbst. Was im Schlafzimmer zwischen Mann und Frau geschieht, liegt häufig außerhalb des Einflußbereichs des Gesetzes.«

»Eine Frau braucht keine Angst zu haben. Wenn ein Mann seiner Partnerin droht oder physische Gewalt anwendet, so ist das Grund genug für eine sofortige Scheidung. Wenn ein Mann außerdem Lügen über seine Frau verbreitet oder sie demütigt ...«

Della unterbrach sie.

»Du verstehst das nicht. Ich weiß, daß du eine perfekte Ehe führst, und ich wünsche dir alles Gute. Doch Männer und Frauen sind nicht immer logisch in dem, was sie denken und tun. Manchmal erträgt eine Frau auf Grund ihrer Gefühle für ihren Partner Dinge, die der Vernunft nach vom Gesetz rasch geahndet werden könnten. Die Vernunft kann nicht alles heilen.«

Fidelma fühlte sich plötzlich sehr erschöpft. Tränen traten ihr in die Augen, sie konnte nichts dagegen tun.

Della blickte sie überrascht an.

»Lady Fidelma, was fehlt dir?« fragte sie. Sie legte eine Hand auf ihren Arm.

Fidelma brachte kein Wort heraus.

»Oh, verzeih mir, Lady Fidelma, ich habe eben nur an mich gedacht.« Della war offenbar wirklich betroffen. »Ich vergaß, daß es hier um dein Kind geht, das entführt wurde. Wie konnte ich so gedankenlos sein?«

Fidelma versuchte, die Fassung wiederzugewinnen. Dann seufzte sie.

»Ach, Della, es ist nicht nur Alchus Entführung, die macht, daß ich mich fühle, als stünde ich an einem tiefen Abgrund.«

Della starrte sie nachdenklich an.

»Ist es wegen des sächsischen Bruders? Deinem Ehemann? Ist er der Grund für deinen Kummer?«

»Es ist weit mehr, als daß ich ihn nur mit meiner Eitelkeit verstimmt habe, Della«, erwiderte Fidelma mit gebrochener Stimme.

Ihre Freundin sah sie prüfend an.

»Erzähl mir, was geschehen ist«, meinte sie.

Zuerst zögerte Fidelma, doch dann fing sie an, Del-la die Situation zu schildern, in der sie und Eadulf sich befanden. Die Worte sprudelten nur so aus ihrem Mund. Während sie sprach, wurde ihr bewußt, daß es schon lange her war, daß sie sich mit einer Frau un-terhalten hatte, der sie trauen konnte. Seit ihre Freundin Liadin, die wie eine Schwester für sie gewesen war, Schande über sich gebracht hatte, hatte Fidelma keine anam chara, keine Seelenfreundin, mehr gehabt. Liadin und sie waren zusammen aufgewachsen. Als sie das Alter der Wahl erreichten und vor dem Gesetz als Frauen galten, waren sie Seelenfreundinnen geworden. Sie hatten sich geschworen, einander geistlichen Beistand zu leisten, so wie es unter Christen in Irland Brauch war. Liadin hatte einen fremden Stammesfürsten geheiratet, Scoriath von Fir Morc, den man aus seinem Land vertrieben hatte und der unter den Ui Drona in Laigin Zuflucht gefunden hatte. Liadin aber hatte bald einen Liebhaber und war offenbar an dem Mord an ihrem Mann und ihrem Sohn nicht schuldlos. Auch ihren Eid gegenüber Fidelma hatte sie gebrochen. Fidelma hatte nie wieder jemanden als Seelenfreundin akzeptiert.

Nun quollen all ihre Ängste, Hoffnungen und Sorgen aus ihr heraus, als sei ein Staudamm gebrochen.

Als Fidelma schwieg, fand Della noch eine ganze Weile keine Worte.

»Das einzige, was ich gelernt habe, Lady Fidelma, ist, nie jemandem einen Rat zu geben, wenn es um die Beziehung zwischen Mann und Frau geht«, sagte sie schließlich. »Deinen Worten entnehme ich, daß der Sachse es so wollte. Er muß die größere Verantwortung tragen. Gibt es nicht das alte Sprichwort in unserem Volk, daß ein Mann, der eine Frau aus einem engen Tal heiratet, das ganze Bergtal heiratet? War deinem Mann nicht klar, daß er mit dir auch deine Herkunft heiraten würde und damit akzeptieren muß, daß du eine Eoghanacht bist?«

»Vielleicht hat er vorher nicht geahnt, was damit alles verbunden ist.«

»Dafür kann er aber nicht dir die Schuld geben, Lady Fidelma.«

»Er ist hier nicht glücklich, Della, und in seinem Land könnte ich nicht glücklich sein.«

»Es gibt immer einen Kompromiß.«

»Doch wie soll der aussehen?«

»Das mußt du mit deinem Mann herausfinden.«

»Das ist nicht so einfach.«

»Vielleicht, weil du mit dem Verstand nach einer Lösung suchst. Manchmal klären sich emotionale Dinge am schnellsten, wenn man sich von seinen Gefühlen leiten läßt. Wenn du siehst, was du zur Wahl hast, ist immer noch Zeit genug, dich zu entscheiden.«

Fidelma schüttelte den Kopf. »Wo einen das Herz hinführt, muß auch der Verstand hingehen.«

»Du magst das Problem mit dem Verstand betrachten, Lady Fidelma, aber die Wahrheit erschließt sich dir nur durch deine Gefühle. Das Gefühl hat die Menschen gelehrt, die Vernunft zu gebrauchen.«

Auf einmal erhob sich Fidelma und lächelte. »Du bist eine kluge Frau, Della.«

Della stand auch auf. »Die Klugheit hat mich nicht gerade reich gemacht.«

»Klugheit übersteigt allen Reichtum, Della.«

»Das mag schon sein, doch bisher bin ich eine ehemalige bé-tâide, die man verdächtigt, mit Saraits Mord zu tun haben.«

Fidelma blickte Della in die Augen.

»Mein Instinkt sagt mir, daß du nichts damit zu tun hast. Er sagt mir aber noch etwas anderes - nämlich, daß du mir etwas verheimlichst.«

Della errötete. »Ich kann dir versichern, daß ich weder etwas mit der Ermordung von Sarait noch mit dem Verschwinden deines Babys zu tun habe.«

Fidelma senkte einen Augenblick den Kopf.

»Ich glaube dir so lange, bis das Gegenteil bewiesen ist«, sagte sie leise, ehe sie sich zur Tür umwandte. Dann blieb sie stehen und fügte hinzu: »Versprich mir, Della, daß du niemandem verrätst, daß der Umhang fehlt und ich dich danach gefragt habe.«

Della lächelte gequält.

»Das tue ich gern. Ich wußte ja bis jetzt nicht einmal, daß er fehlt. Die Sache mit dem Umhang soll unser Geheimnis bleiben.«

Fidelma lächelte.

»Versprochen«, verkündete sie leise, ehe sie verschwand.

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