Kapitel 14

Eadulf hatte die Nacht in der Abtei verbracht und war früh zu Uamans Turm aufgebrochen. Mühelos hatte er den Weg gefunden und beschlossen, sein Pferd unter den Bäumen zurückzulassen und sich dem Turm zu Fuß zu nähern. Er hatte es ganz locker angebunden, so wie er es von Fidelma gelernt hatte. Würde das Pferd nach langem Warten unruhig werden, könnte es sich selbst befreien und davonlaufen. Er wußte jedoch, daß sein Pferd sehr geduldig war und sich erst losmachen würde, wenn es hungrig war oder Gefahr drohte.

Eadulf verbarg sich hinter den Bäumen am Ufer der Bucht und blickte über das Wasser zu der kleinen Insel hinüber. Nur das kalte wilde Meer trennte ihn noch von dem Turm. Er wollte nicht glauben, daß sich das graue Wasser jemals so zurückzog, daß es einen Weg zur Insel freigab. Mit seinen runden Mauern ragte der graue Turm dort dunkel und bedrohlich auf. Ein hoher Steinwall umgab ihn. Eadulf versuchte, die Ausmaße der Anlage zu schätzen, und meinte, daß sie einen Durchmesser von ungefähr dreißig Metern hatte. Das Ganze wirkte angsteinflößend und unheildrohend.

Eadulf versuchte sich einzureden, daß er sich das nur einbildete. Der Kräutersammler und seine Frau und auch der Verwalter der Abtei von Colman hatten ein bestimmtes Bild vor ihm entstehen lassen. Hätte ihn der Verwalter nicht so eindringlich gewarnt, was hätte er dann getan? Er wäre bestimmt direkt zu Uamans Sitz geritten und hätte ihm sein Anliegen vorgetragen. Daß er auf unrechte Weise zu dem Baby gekommen war und der Kräutersammler es nicht als sein Eigentum hätte verkaufen dürfen. Je mehr Eadulf darüber nachdachte, desto sicherer war er sich, daß der direkte Weg zu Uaman der einzig richtige war. Er sollte sich nicht länger von den Hirngespinsten anderer beeindrucken lassen. Nachdem er aus der Abtei fortgeritten war, hatte er sich sogar eingebildet, jemand würde ihn verfolgen. Dieses Gefühl wurde er nicht los, immerzu sah er sich um, ob er nicht in Gefahr war.

Er war einen Gebirgspfad entlanggeritten und hatte sich von menschlichen Behausungen ferngehalten. Der Weg war öde und voller bedrohlicher Schatten. An der Stelle, an der Eadulf zum bewaldeten Ufer der Bucht abgebogen war, hatte er weiter oben in den Bergen eine Reihe von Hütten entdeckt und sie für eine Siedlung gehalten. Da diese in der Nähe des Turms lag, waren die Bewohner sicher treue Anhänger jenes Tyrannen oder standen zumindest in seinen Diensten.

Nun würde er in seinem Versteck auf das Einsetzen der Ebbe warten und dann zur Insel hinüberlaufen. Anders ging es wohl nicht. Er würde Uaman einfach den Grund seines Besuchs erklären. Die Vernunft würde siegen. Der Herr der Bergpässe war sicher nicht so böse, wie ihm die Leute nachsagten. Niemand war nur böse. Diese Überlegungen stimmten ihn zuversichtlich.

Er würde Alchu nach Cashel zurückbringen. Vielleicht könnte er dann mit Fidelma in Ruhe über ihr Zusammenleben reden, das im letzten Jahr einigen Belastungen ausgesetzt war. Es mußte eine Lösung geben.

Ungefähr eine Stunde später bemerkte er, daß die Ebbe einsetzte. Er schätzte, daß erst am frühen Abend das Wasser zurückkehren würde. Er stand auf und lief zum Ufer, um den Übergang zur Insel zu suchen. Ein ungeübtes Auge konnte ihn nicht so ohne weiteres erkennen. Die Sanddüne, die vom weichenden Wasser freigegeben wurde, wirkte ausreichend fest. Er sah, wie die Krabben über den Sand dem Wasser hinterherliefen. Hier und da zappelte ein Meerbarsch oder ein Schellfisch in einer Wassermulde. Er sah zu der dunklen Insel hinüber. Der Dünenweg wirkte recht breit, doch wenn es dort wirklich Treibsandstellen gab, war es besser, sich ausschließlich an den höchsten Grat der Düne zu halten.

Eadulf zögerte einen Moment. Dann verließ er das Ufer und rannte zwischen Bäumen und Büschen umher, bis er auf den abgebrochenen Ast einer Eibe stieß. Er nahm sein Messer und schnitzte sich einen passablen Stock von ein Meter achtzig Länge zurecht. Er ging zum Ufer zurück und machte behutsam die ersten Schritte über den Dünenweg. Der feuchte Sand gab ein wenig unter seinen Füßen nach, doch sie sanken nur wenige Zentimeter tief ein. Der Sand schien ihn zu tragen. Eadulf prüfte vor jedem Schritt mit dem Stock, ob der Boden sicher war.

Nach einer Weile hatte er die Verbindung zur Insel überquert. Er blickte zurück auf seine Fußspuren. Wenn er sich bei seiner Rückkehr an sie hielte, würde es leichter sein.

Eine Treppe aus Steinplatten führte hinauf zur grasbewachsenen Kuppe der Insel und weiter auf den bedrohlichen grauen Steinwall zu, der den Turm umgab. Er wirkte groß, so groß, wie manche Abteien, die er kannte. Kein Mensch war zu sehen. Ein großes Eichenholztor mit zwei Flügeln, die mit Eisen verstärkt waren, ragte vor Eadulf auf. Das Tor war zugesperrt. Genau oberhalb davon zog sich eine Reihe von Fenstern die Mauer entlang.

Eadulf blieb stehen und untersuchte das Gemäuer. Es schien keine Glocke zu geben, mit der sich Besucher ankündigen konnten, wie es in Klöstern üblich war. Er ging auf das Tor zu und wollte schon mit seinem Stock dagegenklopfen, da öffnete es sich plötzlich nach innen. Ein Mann stand vor ihm, der von Kopf bis Fuß in ein graues Gewand gehüllt war. Sein Gesicht war völlig von einer Kapuze bedeckt.

»Willkommen, Bruder. Willkommen in Uamans Turm«, verkündete er mit hoher, fast singender Stimme.

Eadulf starrte die unerwartete Erscheinung überrascht an. Das entging der graugekleideten Gestalt nicht, und Eadulf konnte ein leises, hohles Lachen hören.

»Sei nicht überrascht, Bruder, aber ich habe dich schon gesehen, als du noch am anderen Ufer warst. Mir ist aufgefallen, daß du mit viel Vorsicht und einigem Geschick den Weg zum Turm hinübergelaufen bist.«

»Ich wußte, daß der Weg viele Tücken hat.«

»Dennoch hast du die Gefahren des Meeres und des Sandes nicht gescheut. Du mußt einen triftigen Grund für deinen Besuch haben.«

»Ich möchte mit Uaman sprechen ... Uaman, der hier der Herr ist.«

Die Gestalt hob eine ungewöhnlich weiße, knöcherne Hand und winkte ihn herein.

»Ich bin Uaman, Herr der Bergpässe des Sliabh Mis«, sagte er mit hoher Stimme. »Willkommen in meiner Festung. Tritt nur ein, dein Besuch möge für dich so angenehm sein wie für mich.«

Eadulf zögerte einen Augenblick, er wollte die Ängste nicht zulassen, die erneut in ihm aufstiegen. Dann trat er zwischen den schweren Eichentüren hindurch, die sofort wieder hinter ihm zufielen, und blickte sich um. Das Tor schien sich wie von selbst zu schließen; in den dicken Mauern mußte sich ein besonderer Schließmechanismus befinden.

Uaman lachte schrill, als er bemerkte, wie nervös sein Gast war.

»Außerhalb dieser Mauern gibt es viele, die mir nicht wohlgesonnen sind, mein Freund. Du trägst die Tonsur Roms und nicht die der fünf Königreiche. Wie heißt du?«

»Ich bin Eadulf von Seaxmund’s Ham.«

Stille trat ein. Eadulf wurde klar, daß sein Name der gebeugten Gestalt etwas sagte. Ein langer, zischender Laut drang zwischen den Falten der Kapuze hervor. Eadulf hatte das Gefühl, daß kalte starre Augen auf ihn gerichtet waren.

»Eadulf!« Die Stimme klang plötzlich weich und geradezu bedrohlich. »Natürlich. Eadulf von Seax-mund’s Ham. Du bist der Ehemann einer Eoghanacht von Cashel.«

»Ich bin mit friedlichen Absichten gekommen«, beeilte sich Eadulf zu erklären. »Ich bin nicht an deinen Streitigkeiten mit Colgu von Cashel interessiert.«

»Wenn du mit friedlichen Absichten gekommen bist, Bruder Eadulf, so wirst du auch friedlich empfangen. Doch scheinst du zu wissen, daß ich zu den Ui Fidgente gehöre. Was willst du von mir?«

»Ich bin nach Westen aufgebrochen, weil ich jemanden suche, und du hast unwissentlich damit zu tun.«

Wieder lachte der Mann. »Unwissentlich damit zu tun?« sagte er, als fände er das besonders amüsant. »Das ist hübsch formuliert. Nun, Bruder Eadulf von Seaxmund’s Ham, komm mit in meine Räume, und wir werden uns darüber unterhalten.«

Eadulf wollte sich der Gestalt nähern, doch da holte die weiße Skeletthand plötzlich eine Glocke aus den Falten des Umhangs hervor und läutete warnend.

»Salach! Salach! Unrein!« fistelte er. Eadulf blieb sofort stehen. »Ein wenig Abstand bitte, sächsischer Bruder.« Jetzt hatte Uaman seine Stimme wieder besser im Griff. »Ich leide an jener Krankheit, die das Fleisch zerfrißt und faulen läßt.«

»Die Lepra?« fragte Eadulf erschrocken. Bis zu diesem Augenblick hatte Eadulf nicht geahnt, wie fortgeschritten Uamans Leiden war.

Die gebeugte Gestalt stieß ein schauderhaftes Lachen aus. Dann humpelte sie voran. Eadulf fiel auf, daß Uaman einen Fuß nachzog, als sei er steif. Er trat durch eine kleine Tür in der Mauer und stieg eine Treppe hinauf, die zu einem Wehrgang auf der Höhe der vielen Fenster führte. Mehrere dunkelgekleidete Krieger standen hier im Schatten der Fenster und hielten offensichtlich Wache. Er blickte in häßliche vernarbte Gesichter, ein Einäugiger war auch darunter.

Der Aussätzige führte ihn selbstsicher den Wehrgang entlang.

»Mach dir nicht die Mühe zu zählen, wie viele Fenster es sind. Es sind siebenundzwanzig, so vermag ich gut die Sterne zu betrachten, die einem viel Wissen und Macht verleihen können.«

Eadulf runzelte die Stirn. Uaman bezog sich auf eine alte heidnische Lehre, doch er wußte nicht genau, was das zu bedeuten hatte.

»Bist du kein Christ?« wollte er wissen.

Der Herr der Bergpässe lachte auf. »Gibt es denn nur einen wahren Glauben, mein Freund? Nur einen einzigen Glauben anzuerkennen heißt, keinen anderen gelten zu lassen.«

»Der Glaube ist die Wahrheit«, erwiderte Eadulf.

»Ach, wenn die Wirklichkeit und die Hoffnung tot sind, wird der Glaube geboren. Wenn du an alle Dinge glaubst, sächsischer Bruder, wirst du nicht enttäuscht werden.«

Uaman blieb vor einer Tür stehen und öffnete sie. Er winkte Eadulf zu sich in einen Gang, der ins Innere führte. Sie kamen in einen gutausgestatteten Raum, dessen Wände mit poliertem rotem Eibenholz getäfelt und mit Wandbehängen in herrlichen Farben geschmückt waren. Der Aussätzige deutete auf eine Sitzbank.

»Nimm Platz, sächsischer Bruder, und erkläre mir den Grund für deinen Besuch. Von welcher Suche hast du gesprochen?«

Uaman setzte sich ihm gegenüber an den offenen Kamin, in dem Holz glühte. Die Kapuze hatte er aufbehalten, und Eadulf konnte seine Gesichtszüge nicht erkennen. Alles, was er sah, war das weiße Fleisch seiner klauenartigen Hand.

»Uaman, ich bin auf der Insel, weil ich mein Kind suche. Ich bin hier wegen Alchu.«

»Wie kommst du darauf, daß ich dir dabei behilflich sein könnte?«

Eadulf beugte sich vor. »Wir hatten das Baby in die Obhut seiner Amme gegeben. Sie ist ermordet worden. Sie oder jemand anderes hat das Kind im Wald sich selbst überlassen, wo ein umherziehender Kräutersammler und dessen Frau es fanden. Die beiden dachten, man hätte Alchu ausgesetzt. Sie nahmen ihn mit und trafen hier in dieser Gegend auf dich. Du hast ihnen das Kind abgekauft. Mir ist klar, daß du nicht wissen konntest, wer es ist. Du wolltest einfach nur helfen. Aber wo befindet sich mein Sohn jetzt? Ich werde dir die Summe zurückzahlen, die du dem Kräutersammler gegeben hast, aber ich muß das Kind zurück nach Cashel bringen.«

Die Schultern des Aussätzigen bewegten sich. Zuerst glaubte Eadulf, er hätte einen Hustenanfall. Doch dann merkte er, daß er lachte.

»Für dich, Eadulf von Seaxmund’s Ham, ist das Kind tot«, sagte Uaman schließlich. »Für dich und dein Weib von den Eoghanacht ist es tot.«

Eadulf wollte aufspringen, doch da spürte er in seinem Nacken spitzes, kaltes Metall. Einer von Uamans Wachleuten mußte unbemerkt eingetreten sein und ihm sein Schwert oder Messer an den Hals gesetzt haben.

»Was hat das zu bedeuten?« fragte er. Ihm war klar, daß diese Frage überflüssig war. Alle seine bösen Vorahnungen hatten sich bestätigt. Tief in seinem Inneren wußte er, daß es reichlich tollkühn gewesen war, auf die Insel zu kommen.

»Das bedeutet, daß sich das Schicksal mir gnädig erwiesen hat, Eadulf von Seaxmund’s Ham. In den letzten beiden Jahren haben du und dein Weib in den fünf Königreichen ziemlich an Ansehen gewonnen. Welch unglückseliger Tag, als du damals von jenem Schiff aus Gallien geholt wurdest und als unser Gefangener in den Minen von Beara schuften mußtest, ehe wir Colgu angriffen.«

Eadulf schalt sich selbst einen Narren. Also auch darüber wußte Uaman Bescheid.

»Sind wir uns schon einmal begegnet?« fragte er.

»Du kanntest Torcan von den Ui Fidgente.«

»Er hat versucht, mich umzubringen, aber er wurde von Fürst Adnar erschlagen, der zu Cashel hielt.«

»Torcan war mein Bruder«, erwiderte Uaman kalt.

Das hatte Eadulf nicht gewußt. »Torcan war also ein Sohn Eoganans?«

»So ist es«, sagte Uaman. »Einer von Eoganans Söhnen wurde von Colgu in der Schlacht bei Cnoc Äine getötet.«

»Um bei der Wahrheit zu bleiben, es war Eoganan, dein Vater, der seinen Clan zum Kampf gegen Colgu aufwiegelte und den dann das gerechte Schicksal solcher Aufwiegler ereilte. Wer das Schwert gegen einen Prinzen erhebt, der kann auch gleich die Scheide wegwerfen.«

»Ist das ein sächsischer Grundsatz?« höhnte Uaman.

»Woher wußtest du, daß das Baby, das der Kräutersammler und seine Frau mit sich führten, das Kind von Fidelma und mir war? Ich selbst erfuhr es erst, als ich die beiden bei der Abtei von Colman antraf.«

»In diesem Land verbreiten sich Neuigkeiten schnell. Die Ui Fidgente haben immer noch treue Anhänger. Kräfte, die offenbar rascher reagieren als die große ddlaigh, deine Frau. Ein dem Hof von Cashel Nahestehender teilte einem meiner Boten mit, daß das Kind verschwunden sei und es sich möglicherweise bei dem Kräutersammler und seiner Frau aufhielt.«

Eadulf war überrascht. »Ein Verräter? In Cashel?«

»Nein, mein sächsischer Freund, kein Verräter, sondern ein Patriot der Ui Fidgente«, sagte Uaman zufrieden.

»Wo also ist mein Sohn?« fragte Eadulf unwirsch.

»Du meinst den Sohn der Eoghanacht, die unseren Plan zur Machtübernahme vereitelt haben? Nun, aus ihm wird nie ein Prinz der Eoghanacht werden.«

Eadulf wollte wieder aufspringen, aber das scharfe Metall, das nun gegen seine Gurgel drückte, hielt ihn zurück.

»Du Schwein! Du hast ihn ermordet!« rief er hilflos.

Wieder lachte Uaman schrill.

»Aber nein, mein armer Freund. Er wurde nicht ermordet. Viel schlimmer!«

Eadulf sah ihn verwirrt an, und der Aussätzige fuhr fort zu lachen.

»Er wird leben, das ist gewiß. Aber er wird nie seinen Vater und seine Mutter kennenlernen oder den Stammbaum, in dessen Erbfolge er steht. Er wird, wenn er überhaupt so lange am Leben bleibt, ein einfacher Schäfer werden, der seine Schafe in dem Gebirge hütet, in dem die Tochter von Daire Donn umgeht. Und dein Sohn wird einen Namen tragen, der meine Rache an deinem Volk symbolisiert. Das ist sein Schicksal. Er wird gerade von Bauersleuten gefüttert, die seine Herkunft nicht kennen und glauben, er sei ein Geschenk von mir, das die Leere in ihrem sinnlosen und kinderlosen Leben füllt.«

»Du verfaulender Lump ...«, fuhr ihn Eadulf wütend an, diesmal aber bohrte sich die Klinge in seinen Hals, und Blut rann daran herab.

Uaman schien das sehr zu erheitern.

»Ja, ich bin ein iobaid, einer der verfault und verwest, weil diese böse Krankheit mich heimgesucht hat.

Das war nicht immer so. Ich war einst die rechte Hand meines Vaters, sein Berater, und mein Bruder Torcan war sein Tanist. Bei Cnoc Äine wurde hart gefochten. Nach dem Tod meines Vaters floh ich vom Schlachtfeld. Kurz darauf zeigten sich die ersten Anzeichen der Lepra an meinem Körper. Mir wurde klar, daß mich die Alten für mein Versagen verflucht hatten und daß nur kalte Rache diesen Fluch von mir nehmen könnte.«

Eadulf holte rasch Luft. »Das ist doch Unsinn!«

»Cashel wird leiden. Ich werde es leiden lassen. Das Leiden hat schon begonnen.«

»Also steckst du hinter der Ermordung der Amme?«

»Das war purer Zufall. Ich hörte davon, daß sie tot und Fidelmas Kind verschwunden war. Rein zufällig teilte mir ein treuer Anhänger mit, daß der Kräutersammler und seine Frau das Kind im Wald gefunden hatten. Er ließ mir eine Botschaft zukommen. Ich konnte mein Glück kaum fassen. Ich konnte auch nicht glauben, daß sie so geldgierig waren. Sie fragten mich nicht einmal, wer ich sei, als ich ihnen Geld für das Baby anbot. Ach, der Mensch ist schwach. Das ist mein Glaube, mein sächsischer Freund. Ich glaube an die Schwäche der Menschen.«

Eadulf blickte ihn düster an.

»Willst du mir damit sagen, daß du nichts mit der Ermordung der Amme zu tun hast? Daß du das nicht von Anfang an alles geplant hattest?«

Wieder bewegten sich die Schultern des Aussätzigen und verrieten, daß er lachte.

»In der Zeit, die dir noch bleibt, kannst du über all diese Dinge nachgrübeln, Bruder Eadulf von Seax-mund’s Ham«, sprach er. »Und das ist leider Gottes nicht sehr lange. Du hast bis zum Einsetzen der Flut Zeit, dann findet dein Leben auf Erden ein Ende.«

Die weiße Klaue entließ ihn mit einem Wink. Eadulf wurde von derben Händen gepackt und von der Sitzbank gezogen. Sich zu wehren war sinnlos, gegen zwei Männer konnte er nichts ausrichten. Man schleifte ihn durch dunkle graue Gänge. In seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Er wollte begreifen, was er da eben gehört hatte. Dann stieß man ihn in den Wehrgang der Festung. Auf einmal befand er sich in einem geraden Flur, der zu einem viereckigen Gebäude neben dem Turm führte. Er wurde eine Wendeltreppe hinuntergezerrt, bis er an einer Steinplatte stand, neben der ein Loch gähnte, aus dem eine Leiter hervorschaute. Einer der Krieger wollte ihm einen Stoß versetzen.

»Runter mit dir, Sachse«, sagte er und zeigte mit dem Schwert auf die dunkle Öffnung.

Es roch nach Salzwasser und Moder. Eadulf war an den Geruch der Höhlen an der felsigen Küste erinnert.

»Du könntest mich ebensogut hier oben umbringen«, sagte er trotzig. »Ich kann da unten nichts erkennen; wenn du mich also in eine unterirdische Höhle voller Wasser befördern willst, muß ich dir mitteilen, daß ich lieber durch das Schwert als durch Ertrinken sterbe.«

Der Krieger lachte laut auf.

»Hat dir Uaman nicht gesagt, daß du bis zur Flut Zeit hast? Er möchte, daß du ein wenig über dein Schicksal nachsinnst. Wir brauchen dich jetzt noch nicht umzubringen, mein Freund.«

Sein Gefährte grinste.

»Weißt du, wir werden dir diese Öllampe hier geben. Das Licht sollte bis zur Flut reichen. Keine Sorge. Siehst du nicht, wie hilfsbereit wir sind?« Er schob Eadulf eine flackernde Öllampe zu.

»Jetzt steig hinunter, sonst überlegen wir es uns noch einmal«, fuhr ihn der Krieger an und zog sein Schwert.

Eadulf zögerte nur kurz. Zumindest hatte er Licht und vermochte sich frei zu bewegen. Solange er das konnte, bestand Hoffnung. Er wollte nicht sofort durch das Schwert sterben.

Er kletterte die Leiter hinunter und sah, daß er in einen ungefähr vier Meter tiefen Raum mit sandigem Boden stieg. Der Raum maß etwa zwei mal zwei Meter in der Breite. Es war kalt und roch stark nach Meer. Die Mauern bestanden nicht aus natürlichem Felsen, sondern aus großen behauenen Steinblöcken.

Er nahm den Fuß von der untersten Leitersprosse, hob die Lampe und blickte sich um.

Rasch wurde die Leiter hochgezogen.

Über ihm ertönte Gelächter.

»Bis zur Flut, Sachse«, rief einer der Männer ihm zu. »Angenehme Träume!«

Nun wurde die Steinplatte wieder über die Öffnung geschoben, und er war allein.

Fidelma hielt diesen Tag später für den längsten und schlimmsten ihres Lebens. Sie lag auf dem Bett im oberen Raum der Jagdhütte und war gefesselt. Ab und zu sah einer der Ui Fidgente nach ihr und überprüfte, ob die Fesseln noch straff waren. Crond kam zweimal herein und gab ihr zu essen und zu trinken. Dabei löste er ihr die Fesseln von den Händen, stellte sich aber vor sie hin, damit sie nicht entwischen konnte. Am peinlichsten für sie war es, wenn sie ihre Notdurft verrichten mußte. Crond hängte in einer Ecke des Raumes ein Laken vor einen Eimer und blieb die ganze Zeit über davor stehen. Meist aber war sie allein und ihren Gedanken überlassen.

Sie hatte noch einmal erfolglos versucht, Zuflucht in der Meditation zu finden. Aber Meditation bedeutete Flucht aus der Wirklichkeit, und das half ihr wohl nicht weiter. Ihr war klargeworden, daß sie der Realität ins Auge schauen mußte. Jetzt, wo sie allein war und nichts tun konnte, setzte sie sich mit einem Problem auseinander, das sie bisher immer wieder verdrängt hatte. Sie fing an, über ihre Beziehung zu Eadulf und ihrem Kind nachzudenken - ihrem gemeinsamen Kind. Plötzlich rollten ihr Tränen über die Wangen. Warum nur? Sie hatte sich doch sonst immer beherrschen können. Vielleicht war sie immer zu beherrscht gewesen?

Nachdem ihre Jugendliebe zu Cian gescheitert war, hatte sie zu der Idee Zuflucht genommen, daß man es ja mit der Vernunft steuern könne, daß eine Beziehung zu einem Mann nicht zu eng wurde. Hatte sie sich die ganze Zeit über selbst betrogen? Was wollte sie eigentlich? Sie hatte Unabhängigkeit gewollt, sich nur auf sich selbst verlassen wollen. Sie hatte eine gute ddlaigh sein wollen. Sie hatte ein außergewöhnliches Talent, Verbrechen aufzuklären. Ohne das gäbe es für sie kein erfülltes und zufriedenes Leben. Sie bedauerte es inzwischen, daß ihr Cousin, Abt Laisran von Dur-row, sie dazu überredet hatte, Nonne zu werden. Es stimmte natürlich, daß die meisten Vertreter gelehrter Berufe in Klöstern lebten, das war einfach so üblich. Aber ihre Zeit in Kildare war nicht glücklich verlaufen, denn Institutionen bedeuten auch immer eine Einschränkung der persönlichen Freiheit. Und persönliche Freiheit stellte Fidelma über alles.

Das war es! Freiheit. Das war der Kern der ganzen Schwierigkeiten zwischen ihr und Eadulf. Sie wollte sich keine Beschränkungen auferlegen lassen, wollte keine Bindungen eingehen. Auf einmal hörte sie die weisen Worte ihres Mentors Brehon Morann, der sie gefragt hatte: »Wodurch fühlst du dich denn so gebunden, Fidelma?« Und wirklich, vor welchen Bindungen hatte sie Angst? Sie hatte Kildare verlassen, und ihre Fähigkeiten und ihre Qualifikationen als Anwältin hatten sie zu einer gefragten Autorität werden lassen. Sie war die Tochter von Failbe Flann, König von Muman, und nun war ihr Bruder König. Auf Sicherheit kam es ihr nicht an. Wieder einmal stellte sie sich die Frage, wodurch sie sich gebunden fühlte.

Sie dachte an Eadulf und Alchu.

Lebte sie nur allein für sich? Ihr Lieblingsphilosoph war Publilius Sy rus. Man hatte ihn als Sklaven aus Antiocheia nach Rom gebracht und ihm schließlich die Freiheit geschenkt. Er hatte viele moralische Lehrsätze hinterlassen, die Fidelma auswendig konnte, denn in Brehon Moranns Rechtsschule hatte man häufig auf ihn Bezug genommen. Seine Maxime iudex damnatur ubi nocens absolvitur - wird der Schuldige freigelassen, so ist der Richter zu verurteilen - war fast zu einem Leitsatz geworden. Fidelma hatte diesen Gedanken abgelehnt und als junge Studentin gemeint, daß es besser wäre, einen Schuldigen freizulassen, als einen Unschuldigen zu verurteilen. Sie war der Ansicht, daß der Druck, den man durch diesen Leitsatz auf Richter ausübte, jene dazu ermutigen würde, einen Menschen zu verurteilen, nur aus Angst, selbst verurteilt zu werden.

Sie war eine glühende Anhängerin des irischen Rechtssystems, das den Grundsatz cach brithemoin a bdegul anerkannte: Jeder Richter darf sich einmal irren. Doch ein Richter mußte ein Pfand von fünf Unzen Silber hinterlegen und eine Strafe zahlen, wenn er einen Fall ungelöst ließ. Gegen alle Urteile war Einspruch möglich, und ein Richter mußte eine Entschädigung zahlen, wenn sich sein Urteilsspruch als falsch erwies.

Worüber hatte sie da eben nachgedacht? Über Publilius Syrus? Sie hatte sich doch fragen wollen, ob sie nur allein für sich lebte. Publilius Syrus hatte gesagt, daß jene, die nur allein für sich lebten, für andere tot seien. Ihr lief ein Schauer über den Rücken.

Warum stieß sie Eadulf und Alchu nur von sich fort? Sie stöhnte innerlich. Eadulf hatte ihr nicht jene Fesseln angelegt, durch die sie sich so eingeengt fühlte. Sie hatte es selbst getan. Sie hatte ihre Idealvorstellung vom Leben im Kopf und auch das Gegenteil davon. Der Widerspruch war nicht außerhalb von ihr zu suchen, er war in ihr.

Eadulf! Auf einmal begriff sie, daß er immer sehr viel Geduld mit ihr gehabt hatte. Immer wieder hatte er ihre Schwächen akzeptiert und ihre Fähigkeiten anerkannt. Warum hatte sie sich nach ihrem Aufbruch aus Rom so sehr nach ihm gesehnt? Was hatte sie so überstürzt von der iberischen Küste zurück in die fünf Königreiche reisen lassen, als sie damals hörte, Eadulf sei des Mordes angeklagt? Sie war nicht verliebt in ihn, sondern da war etwas unendlich Wahrhaftigeres zwischen ihnen - sie liebte ihn und war auf seine Gesellschaft, seine Klugheit und seine Unterstützung angewiesen. Sie hatte sich nach einer Seelenfreundin gesehnt, nun merkte sie plötzlich, daß sie gar keine brauchte. Was war sie nur für ein Närrin gewesen.

Doch wo steckte Eadulf jetzt? Und der kleine Alchu?

Wieder stöhnte sie. Sie weinte, bis sie erschöpft einschlief.

Eadulf hielt die Öllampe hoch und sah sich in seinem Gefängnis um.

Der Sand unter seinen Füßen war naß. Da lagen ein paar Meeresalgen und zerbrochene Muschelschalen.

In einer Ecke bewegte sich etwas. Eine Krabbe hatte sich dorthin zurückgezogen. Grauen und Entsetzen packten Eadulf, als er sich weiter umsah. Die Mauern waren dunkel und feucht, Moos zog sich über die Steine. Eadulf konnte erkennen, wie hoch der Wasserstand bei Flut war, er ging fast bis unter die Decke. Er sah sich die Mauern genauer an. Drei kleine Öffnungen befanden sich darin, aber sie waren winzig - vielleicht paßte ein Kopf hinein, hindurchzwängen konnte man sich jedoch nicht. Als er in diese Löcher spähte, hörte er ein Ächzen. Er lauschte einen Moment. Es war das Ächzen der See, die sich irgendwo hinter den Öffnungen befinden mußte. Wieder spähte er in die kleinen Öffnungen und entdeckte am Ende einen Lichtschein.

Er mußte schlucken.

Das also hatte Uaman gemeint! Die Flut! Und bei Flut würde das Meerwasser durch diese Öffnungen in sein Verließ fließen. Er würde ertrinken, denn es gab keinen Weg hinaus.

Auf einmal vernahm er ein anderes Geräusch, ein dumpfes Klopfen. Es schien von oben zu kommen. Mauerstückchen fielen herab. Eine weitere Foltermethode? Da schlug ein schwerer Steinblock auf dem Sand auf.

Eadulf sah ein schwaches Licht über sich, das nicht von einer Lampe stammte, einen weißlichen Schimmer eher. Etwas bewegte sich durch die Öffnung. Es waren der Kopf und die Schulter eines Mannes.

»Kairongnothi!« rief der Mann triumphierend.

Eadulf regte sich nicht und blickte empor. Der Kopf und die Schultern schoben sich weiter durch die Öffnung.

»Dos moi pou sto kai ten gen kineso!« ließ die Männerstimme nun zufrieden verlauten.

Das war ein Ausspruch von Archimedes. Gib mir einen Ort zum Stehen, und ich werde die Erde bewegen! Der Mann sprach Griechisch.

»Bleib dort!« rief Eadulf. »Komm nicht weiter, sonst stürzt du herab!«

Da fiel ihm auf, daß er in seiner Muttersprache geredet hatte. Er versuchte, sich auf das wenige Griechisch zu besinnen, das er aus den heiligen Schriften kannte und wiederholte das Gesagte. Doch inzwischen hatte der Mann über ihm schon die Gefahr erkannt, denn Eadulf hielt seine Lampe hoch und zeigte ihm, daß seine Zelle ganze vier Meter tief war. Der Mann oben stieß eine Reihe von Worten aus, die seine Enttäuschung verrieten. Dann war Stille.

»Sprichst du Griechisch?« fragte er endlich.

»Nur ein paar Worte. Sprichst du die Sprache von Éireannach?«

»Nein.«

Dann herrschte wieder Schweigen. Der Mann oben an der Decke betrachtete Eadulf im spärlichen Licht der Öllampe.

»Wie ich sehe, trägst du die Tonsur Roms. Wie sieht es denn mit Latein aus?« fragte er auf Latein.

»Das beherrsche ich gut«, erwiderte Eadulf erleichtert.

»Bist du auch ein Gefangener?« erkundigte sich der Mann nun, wobei er das Wörtchen auch betonte.

»Du bist also ein Gefangener? Ja, ich bin auch ein Gefangener von Uaman, und wahrscheinlich verbleibt mir nicht mehr viel Zeit auf dieser Welt. Man hat mich hier ins Verließ gesteckt, damit ich ertrinke.«

»Wie das denn?« fragte der Mann.

»Man hat mir erklärt, bis zur Flut hätte ich Zeit. Bei Flut muß ich damit rechnen, daß das Wasser bis unter die Decke steigt. Die Wände sind ganz feucht und mit dicken Schichten von Moos und Meeralgen bewachsen.«

Der Mann murmelte etwas auf Griechisch und sagte dann: »Ich dachte, wenn ich in meiner Zelle ein paar Steinplatten entferne, würde ich an einen Ort gelangen, von dem aus ich fliehen kann.«

»Du versuchst also, aus deiner Zelle herauszukommen?«

»Ja.«

»Und wo ist deine Zelle?«

»Hinter mir. Der Boden liegt etwa auf dem Niveau der Decke von deinem Verließ.«

»Woher kommt dann aber das Licht?«

»Ach, ich habe ein kleines vergittertes Fenster, das aufs Meer blickt.«

»Bist du sicher, daß du dich über dem Meeresspiegel befindest?«

»Ich habe die Gezeiten beobachtet«, antwortete der Fremde. »Bei Flut bin ich knapp über dem Meeresspiegel. Die Mauern und der Boden meiner Zelle halten das Wasser ab.«

In Eadulf keimte ein Funken Hoffnung.

»Wenn es mir irgendwie gelänge, zu dir hinaufzuklettern, wäre ich fürs erste gerettet.«

Er schaute hoch und versuchte mit Hilfe seiner Lampe die Entfernung abzuschätzen. Wenn sich die Öffnung wirklich vier Meter über dem Boden befand, war sie so unerreichbar, als lägen eine Million Meter dazwischen. Die Mauern waren einfach zu naß und zu glitschig, als daß man sie hätte hinaufklettern können.

»Vielleicht könnte ich mit dem steigendem Wasserpegel in meiner Zelle höher gelangen«, fiel ihm ein.

»Das ist sehr gefährlich, mein Freund«, warnte ihn die Stimme über ihm. »Warte.«

Eadulf wollte dem anderen gerade erwidern, daß er dann eben unten bleiben würde, aber der war schon fort.

Endlose Zeit verging. Er hörte eigenartige Geräusche, als würde etwas zerrissen. Dann tauchte der Kopf wieder in dem Loch auf.

»Aufgepaßt!«

Von oben wurde etwas heruntergelassen. Es war ein langes Seil, das aus vielen kleinen Leinenstücken zusammengeknotet war. Es endete kurz über seinem Kopf.

»Kommst du da heran, mein Freund?«

»Wenn ich meine Lampe abstelle und hochspringe.«

»Dann versuche es. Ich hoffe, das Seil wird halten. Ich habe das andere Ende an meine Pritsche gebunden.«

Eadulf stellte die Lampe ab. Beim zweiten Versuch konnten seine Hände das Seil packen. Er schwang in Richtung Mauer, stieß gegen die Steine, und es dauerte einen Augenblick, bis er sich langsam hochziehen konnte. Sein Leidensgenosse spornte ihn an, und bald war er oben an der Öffnung angelangt. Sie war nicht sehr groß, aber er konnte Kopf und Schultern hindurchschieben.

Unterdessen war sein Gefährte in einen kleinen Gang zurückgekrochen, der ungefähr einen Meter schräg nach oben führte, wie Eadulf jetzt erkennen konnte. Mit größten Anstrengungen hievte sich Eadulf über den Rand der Öffnung hinauf in den ansteigenden Tunnel. Kurz darauf hatte er den Tunnel hinter sich gelassen und lag auf dem Boden der Zelle seines neues Freundes. Erschöpft holte er Luft.

Dann sah er sich um. Sein Retter zog gerade das selbstgemachte Seil hoch. An der Wand stand eine Pritsche, sonst war die Zelle leer. Auf einer Seite befand sich eine dicke Holztür, auf der anderen ein kleines vergittertes Fenster, das auf die Seeseite blickte.

Eadulf drehte sich zu seinem Gefährten um und lächelte.

»Zumindest wurde mir Aufschub vom Tod in einem Wassergrab gewährt.«

Der andere Mann war älter als er. Er war groß und ziemlich muskulös, hatte schwarzes Haar, das an der Stirn schon lichter wurde, und einen üppigen Bart. Seine Haut war blaß und schimmerte olivgrün. Augenbrauen und Augen waren beinah genauso dunkel wie sein Haar. Eine Tonsur konnte Eadulf nicht er-kennen. Der Mann erwiderte Eadulfs Lächeln und zuckte mit der Schulter.

»Nur ein Aufschub, mein Freund. Es sei denn, uns gelingt es, eine Fluchtmöglichkeit zu finden.«

Eadulf betrachtete das Loch, durch das er in die Zelle gekommen war. Der Mann hatte eine große Steinplatte unter der Pritsche zur Seite geschoben, was niemand so schnell von der Tür aus entdecken konnte.

»Mir fiel auf, daß der Stein locker war, und so habe ich ihn fortgestemmt. Dann bemerkte ich, daß sich dahinter ein Tunnel befand. Nun, kein richtiger Tunnel. Du hast ja gesehen, daß er kaum länger als ein Meter ist. Er wird wohl einst als Luftschacht gedient haben. Natürlich hatte ich gehofft, daß er in einen anderen Raum führt oder sich mir eine Möglichkeit zur Flucht eröffnen würde. Nicht im Traum wäre mir eingefallen, daß ich nur zu einer anderen Zelle gelange, die noch schlimmer ist als meine. Wärst du nicht dagewesen, wäre ich vielleicht hinuntergestürzt, hätte mir das Bein oder noch mehr gebrochen und wäre jämmerlich ertrunken.«

Eadulf nickte. »Ich danke dir jedenfalls für das, was du getan hast, wenn auch dieser Dank vielleicht nicht viel Wert ist. Und danach sieht es aus. Haben unsere Feinde erst einmal entdeckt, daß ich nicht ertrunken bin, werden sie sicher hier auftauchen. Dennoch vielen Dank für den Aufschub.« Er streckte die Hand aus. Der dunkle Mann schlug ein. Sein Händedruck war warm und fest. »Mein Name ist Eadulf von Seax-mund’s Ham.«

Der andere zog ein wenig die Augenbrauen hoch. »Ein Sachse? Aus dem Land des Südvolks?«

Eadulf nickte.

»Dann bist du wahrlich recht weit von deiner Heimat entfernt, mein Freund.« Sein Gefährte lächelte.

»Du bist es noch mehr«, stellte Eadulf fest.

Der Mann lachte laut auf.

»Verzeih mir, mein Freund. Ich heiße Basil Nesto-rios.«

»Woher kommst du?«

»Aus Jundishapur, unweit von Bagdad, ich bin Heiler und Arzt.«

»Dieses Land kenne ich nicht«, sagte Eadulf.

»Ah, es ist eine Stadt, mein Freund, im Königreich Persien. Das Hospital und die Hochschule von Jundis-hapur sind führend auf dem Gebiet der Medizin und der Wissenschaften. Weißt du denn nicht, daß man in aller Welt an die Höfe der großen Könige Ärzte aus Jundishapur ruft? Dort studieren Gelehrte aller Völker.«

Eadulf lächelte ein wenig über den Stolz in der Stimme des anderen.

»Persien liegt sehr weit weg von hier, Basil Nesto-rios.«

»Das bezweifle ich nicht, denn ich habe ja den ganzen Weg selbst zurückgelegt. Es war eine lange Reise, die nun auf diese Weise zu Ende gehen soll ...« Er zeigte voller Verachtung auf die Mauern. Dann sah er Eadulf an. »Was machst du hier, und warum wurdest du von dem Bösen eingekerkert?«

»Von dem Bösen?« fragte Eadulf.

»Von dem Leprakranken mit dem unausprechli-chen Namen.«

»Uaman?«

»Genau der.«

Eadulf erzählte ihm in Kürze seine Geschichte. Der Arzt aus Jundishapur nickte traurig. »Er ist in der Tat eine Verkörperung des Bösen.«

Eadulf vergaß für einen Moment seine ausweglose Situation.

»Bist du nicht mit einem Bruder aus Ard Macha unterwegs gewesen und vor kurzem durch Cashel gekommen? Mit Bruder Tanaide? In der Abtei von Imleach hat man, wie ich mich jetzt erinnere, eure Namen erwähnt.«

»Das stimmt«, erklärte ihm Basil Nestorios. »Ich bin in dieses Land gekommen, um die Kulturen und Religionen am westlichen Rand der Welt zu studieren. Durch Fürsprache eines Bischofs in Gallien wurde ich mit dem Bischof in Fearna bekannt, das ist die Hauptstadt vom Königreich Laigin.«

Fearna hatte Eadulf noch in lebhafter Erinnerung. Dort hatte er beinahe sein Leben verloren. Er seufzte, als er daran dachte, wie ihn Fidelma gerettet hatte.

»Was geschah dann?« sagte er.

»Jener Bischof gab mir Bruder Tanaide als Führer und Dolmetscher zur Seite. Als man herausfand, daß ich Arzt bin, baten mich der Bischof und der König von Laigin, doch eine Weile zu bleiben und meine Kunst auszuüben. Ich schätze, daß der Böse irgendwie von meinen Heilkünsten gehört hat ...«

»Uaman?«

»Der Name ist für meine Zunge sehr schwierig. UUU-ermon? Wird er so ausgesprochen?«

Eadulf lächelte ermunternd. »Schon ganz gut«, versicherte er ihm. »Und du meinst, daß Uaman in Laigin von dir gehört hat?«

»Ja, mein Freund. Er hat mich wissen lassen, daß er eine große Geldsumme zahlen würde, wenn ich ihn von seinem Leiden erlösen könnte. In Jundishapur wissen wir sehr viel über die Krankheit, die zu Hautwunden, Entstellungen und Verlust der Gefühlsempfindungen in den Extremitäten führt. Wir behandeln Lepra auf verschiedene Weise, und ich habe eine Kiste mit unseren Medikamenten mitgebracht.«

Trotz ihrer beider betrüblicher Lage lauschte ihm Eadulf mit großem Interesse. »Ich habe auch ein wenig die Heilkunst studiert, aber ich bin bei weitem kein Arzt. Hier behandelt man diese Krankheit, indem man die Blätter der großen Klette im Mörser zerstößt und in Wein tut und das dem Kranken verabreicht.«

Basil Nestorios lächelte. »In meiner Heimat gibt es ein Kraut namens gotu kala ... Das kann man sowohl äußerlich als auch innerlich anwenden. Es ist ein altes Mittel zur Heilung von Lepra und anderen Wunden. Ich habe etwas davon bei mir.«

»Du bist hier also auf Uamans Bitte zusammen mit Bruder Tanaide eingetroffen?«

Basil Nestorios senkte den Kopf. »Verflucht sei der Tag, als ich das Gebirge überquerte und hierherkam.«

»Wo ist Bruder Tanaide denn jetzt? In einer anderen Zelle?«

Basil Nestorios schüttelte den Kopf.

»Der Böse hat ihn töten lassen.« In seiner Stimme schwangen Wut und Trauer mit.

Eadulf lief ein Schauer über den Rücken.

»Einer seiner Krieger hat einfach sein Schwert in ihn gerammt und ihn oben vom Turm ins Meer geworfen. Er war schon tot, als er ins Wasser eintauchte«, fuhr Basil Nestorios fort.

»Aber warum nur? Warum, wo du ihn doch heilen solltest? Warum ließ er deinen Begleiter ermorden und dich einsperren? Das begreife ich nicht.«

»Du mußt Folgendes wissen. Der Zerfall seiner Haut spiegelt den Zerfall seiner Seele wider. Er ist durch und durch böse. Er verfügt über keinerlei Wesenszüge, die ihm Erlösung bringen könnten.«

»Also hat er dich nur am Leben gelassen, damit du ihn kurierst? Behandelst du ihn denn?«

»Ich verlängere mein Leben, das ist alles. Zweimal am Tag werde ich aus der Zelle geholt, um ihm die Medizin zuzubereiten und sie ihm dann zu verabreichen. Soweit ich das beurteilen kann, ist seine Krankheit nicht mehr heilbar, sowohl was seinen Körper betrifft als auch seine schwarze Seele, die ihn ständig auf Rache sinnen läßt an jedem, der sich ihm in den Weg stellt.«

Eadulf rieb sich nachdenklich das Kinn. »Zweimal am Tag? Wann ist das?«

»Dir fällt gerade etwas ein, mein Freund. Was ist es?«

»Ist dir nie in den Sinn gekommen, deine Fähigkeiten für deine Flucht zu nutzen?«

»Ich bin mir nicht sicher, was du meinst.«

»Ganz einfach. Was heilen kann, kann auch töten.«

Basil Nestorios schreckte zurück. »In meiner Kultur, mein Freund, darf ein Arzt niemandem etwas zuleide tun. Vor vielen Jahrhunderten lebte auf der Insel Kos ein Arzt namens Hippokrates, der als Vater der Heilkunst gilt. Er ließ seine Schüler einen Eid leisten, niemals ihr Wissen gegen den Menschen einzusetzen. Wir leisten diesen Eid in Jundishapur bis heute.«

»Also würdest du lieber unter ihm leiden und ihm gestatten, viele andere unschuldige Menschen zugrunde zu richten, anstatt es zu verhindern?«

Basil Nestorios hob hilflos die Hände.

»Was bleibt mir anders übrig? Dieser Eid gilt immer und überall.«

»Wann wirst du zur nächsten Behandlung geholt?« fragte Eadulf noch einmal.

Der Arzt blickte aus dem Fenster, um festzustellen, wie spät es war. Der Himmel wurde schon dunkel, zu dieser Jahreszeit hieß das, daß es Nachmittag war.

»Bald wird die Flut einsetzen. Der Wächter kann jederzeit hier auftauchen. Ich habe mehrere Tage lang überprüft, ob sie die Zeiten einhalten.«

»Wenn du Uaman nicht vergiften willst, kannst du ihm doch zumindest einen Trank verabreichen, der ihn bewußtlos macht, oder?«

»Das könnte ich tun. Aber es dauert eine Weile, bis der Trank Wirkung zeigt. Bis dahin hat man mich längst wieder hier eingesperrt. Was dann?«

»Ich werde hinter der Tür stehen, wenn der Krieger dich zurückschafft. Bring ihn dazu, die Zelle zu betreten ... Ich weiß ... Ich werde den Stein sichtbar vor der Pritsche liegen lassen, und falls er ihn noch immer nicht sieht, mußt du ihn darauf aufmerksam machen. Dann kann ich ihn von hinten anfallen.«

»Möglicherweise ist der Trank auch bis dahin wirkungslos geblieben«, erklärte Basil Nestorios. Zögernd sagte er schließlich: »Ich könnte die Dosis erhöhen. Wenn ich darüber nachdenke, ist es besser, sobald wie möglich von hier zu verschwinden.« Er seufzte verärgert. »Doch wenn die Wache kommt und mich zur Behandlung abholt, werden sie dich entdecken.«

Eadulf schüttelte den Kopf und zeigte zum Tunnel.

»Ich werde dort hineinkriechen und die Steinplatte nur locker darüberschieben, so daß ich mich mit den Händen am Rand der Öffnung festhalten kann. Meine Beine werden dann in meine Zelle hinabbaumeln. Deine Pritsche steht über der Platte und der Wächter wird mit ein wenig Glück nicht erkennen, daß sie nicht richtig liegt.«

Basil Nestorios machte ein nachdenkliches Gesicht.

»Das könnte klappen. Doch selbst wenn wir mit dem einen Krieger fertig werden, so heißt das noch nicht, daß wir den anderen fünf entkommen können.«

»Alles zu seiner Zeit«, erwiderte Eadulf. »Wie willst du Uaman bewußtlos machen? Hast du etwas gafann?«

Der Arzt schaute verwirrt drein, denn Eadulf war nur der Begriff eingefallen, den man in den fünf Königreichen benutzte.

»Henbane«, sagte Eadulf nun, während er versuchte, sich an das lateinische Wort zu erinnern. »Mandragora«, meinte er schließlich, denn er wußte, daß die Pflanze mit der Alraune verwandt war. »Das würde ich verwenden. Ein verdünnter Aufguß bewirkt den Verlust der Stimme und führt zu Lähmungserscheinungen.«

Basil Nestorios lächelte zustimmend.

»Mein Freund, du weißt ja gut Bescheid. Wenn wir keine Alternative hätten, wäre das eine gute Wahl. Doch ich habe unter meinen Heilmitteln den Extrakt einer Pflanze, die in einigen Teilen meines Landes wächst und papaver genannt wird. Sie wirkt viel schneller und stärker. Es ist eine weiße Mohnart, und wir verwenden sie in Jundishapur als Narkotikum und auch gegen Schmerzen, und manchmal, um uns zu berauschen. Aber in hohen Dosen kann sie gefährlich sein.«

»Weißer Mohn?« fragte Eadulf nach. Der war ihm unbekannt.

»Wir schneiden in die Samenkapsel ein, die gleich nach der Blüte zu reifen beginnt. Aus diesen Einschnitten tritt ein dickflüssiger Saft aus, den wir abnehmen und trocknen. Daraus gewinnen wir unseren Heiltrank, der den Verstand des Bösen trüben und ihn einschläfern wird. Dazu bin ich bereit, aber mehr als das werde ich ihm nicht antun.«

Eadulf zuckte mit den Achseln. »Nun, das ist besser als gar nichts. Bist du sicher, daß sich nicht mehr als sechs Krieger in der Festung befinden?«

»Ja, das bin ich. Ich habe nur sechs gesehen.«

Eadulf blickte sich um. »Wo befindet sich deine Kiste mit der Medizin?«

»Der Böse bewacht sie. Er vertraut mir nicht. Die Kiste steht in dem Raum, in dem ich ihn behandle.«

Eadulf schaute aus dem Fenster nach dem Himmel und dem Stand der Gezeiten.

»Wir sollten uns bereithalten, Basil Nestorios«, meinte er.

Der Arzt nickte. »Wollen wir hoffen, daß wir nicht von den Göttern geliebt werden«, murmelte er vor sich hin.

Eadulf sah ihn neugierig an.

Der Arzt schenkte ihm ein Lächeln. »In meinem Land gibt es das Sprichwort - hon hoi theoi philousi npothneskei neos - jene, die von den Götter geliebt werden, sterben jung.«

Eadulf kroch unter die Pritsche.

»Vielleicht hält man uns für nicht mehr ganz so jung«, erwiderte er, ehe er sich in das Loch zwängte.

Der Arzt wartete ein wenig und schob die Steinplatte darüber. Dann ließ er sich auf der Pritsche nieder.

»Ist alles in Ordnung mit dir, mein Freund?« flüsterte er.

»Meine Arme fangen an zu schmerzen«, antwortete Eadulf. »Ein Jammer, daß der Tunnel in einem solchen Winkel verläuft. Wäre er waagerecht, brauchte ich die Arme nicht so zu belasten.«

»Hoffen wir, daß der Wächter bald kommt.«

»Sch ... Ich glaube .«

Eadulf konnte vernehmen, wie die Riegel zurückgeschoben wurden. Als sich die Tür nach innen öffnete, hörte er Metall aufeinanderstoßen. Eine Stimme rief: »Komm mit!« Basil Nestorios stand auf und ging zur Tür. Kurz darauf wurde die Tür wieder zugeschlagen, und die Riegel wurden vorgelegt.

Eadulf wartete einen Augenblick, ehe er sich aus dem Loch schob. Er stieß die Steinplatte zur Seite, die glücklicherweise nicht sehr schwer war, und kroch unter der Pritsche hervor. Als erstes wollte er probieren, ob die Tür aufging. Wie erwartet, war sie von außen versperrt. Sonst wäre er hinausgeschlüpft und hätte den Krieger davor hinterrücks angefallen.

Doch so konnte er nur abwarten.

Загрузка...