Kapitel 13

Was sich Quell vom Eichenwald nannte, war ein hübsches kleines Tal, das Fidelma schon seit ihrer Kindheit kannte. Hier hatte sie immer mit ihrer besten Freundin Liadin gespielt, die später ihre Seelenfreundin wurde. Fidelma durchfuhr ein quälender Schmerz, als sie wieder daran dachte. Hätte doch Liadin nie versucht, sie in ihren mörderischen Plan gegen ihren Mann und ihr Kind hineinzuziehen. Fidelma konnte ihrer Freundin diesen Verrat nicht verzeihen.

Vor einigen Jahrhunderten war es in den fünf Königreichen üblich, daß ein Übeltäter, der seine Untaten nicht bereute und sich weigerte, zum Wohl des Clans zu arbeiten, um seine Ehre wiederherzustellen und den geforderten Sühnepreis an seine Opfer zu erwirtschaften, von den Brehons in ein Boot mit Nahrung für einen Tag gesetzt wurde; dann überließ man ihn dem Wind und den Wellen.

Die alten Geschichtenerzähler berichteten, daß MacCuill ein solcher Mann war, ein unbelehrbarer Dieb und Mörder, der im Land von Ulaidh sein Unwesen trieb. Die Brehons hatten ihn auf dem Meer ausgesetzt. Doch Wind und Gezeiten spülten ihn an eine Insel, die dem alten Gott der Meere Mannanan Mac Lir heilig war. MacCuill überlebte und sah die Schändlichkeit seines Lebens ein. Er bekehrte sich zum neuen Glauben und wurde schließlich Bischof auf der Insel. Das Volk dort nannte ihn von da an »heilig« und bat ihn um seinen Beistand im Alltag. In Fidelmas Augen bewies diese Geschichte vor allem, daß es selbst für jene, die man für die schlimmsten Verbrecher hielt, Hoffnung auf Besserung und Eingliederung in die Gemeinschaft gab.

Sie schaute sich im Tal um.

Es war ein wirklich idyllisches Fleckchen Erde. Ein dichter Eichenwald erstreckte sich vor ihr, aus dessen Mitte ein schmaler Bach auf eine Lichtung sprudelte. Am Rand dieser Lichtung stand die hölzerne Jagdhütte samt Nebengebäuden. Sie waren vor langer Zeit für die Könige von Muman errichtet worden. In den Wäldern hier gab es Hirsche, Wildschweine und anderes Wild, und im Bach schwammen sowohl Forellen als auch der fürstliche Lachs.

Inzwischen hatten die Könige von Muman für die Hütte einen Jagdaufseher eingestellt, der das Anwesen für den König und seine Freunde zur Jagd bereithielt. Im Winter wurde die Hütte nicht genutzt, doch Fidelma kannte ihren derzeitigen Jagdaufseher Duach, er war auf jeden Fall da. Sie würde seinen Sohn Tulcha mit einer Botschaft nach Cashel schicken. Sie überquerte den Bach und hielt vor der Hütte an.

»Duach! Tulcha!« rief sie.

Die Gebäude wirkten verlassen. Niemand trat heraus.

Wohnte Duach etwa nicht mehr hier? Er hatte die Jagdhütte erst vor ein paar Monaten übernommen. Sie kannte ihn seit ihrer Kindheit; sicher hätte sie es erfahren, wenn er aus den Diensten ihres Bruders getreten wäre. Sie glitt vom Pferd und blickte zu den geschlossenen Fensterläden.

Wieder rief sie nach dem Jagdaufseher.

Diesmal vernahm sie das leise Schnauben eines Pferdes im Stall. Ihre Stute hatte das andere Pferd auch gehört, sie spitzte die Ohren und stampfte mit dem Vorderhuf auf.

Verwundert lief Fidelma zum Stall und öffnete vorsichtig die Tür. Dort standen vier Pferde, von denen ihr drei eigenartigerweise bekannt vorkamen.

»Duach? Tulcha?« rief sie wieder.

Eins der Pferde scheute ein wenig. Es bewegte sich rückwärts und wühlte dabei das Stroh auf. Ein Fuß und ein Bein wurden sichtbar. Ungläubig trat Fidelma näher.

In der Box des Pferdes war die Leiche eines Mannes versteckt.

Sie beugte sich hinunter, um besser sehen zu können. Entsetzen packte sie. Unwillkürlich fuhr ihre Hand zum Mund. Da lag Duach und starrte sie mit großen Augen an. Jemand hatte ihm die Kehle durchgeschnitten. Dann entdeckte sie eine zweite Leiche. Es war Duachs Sohn Tulcha. Plötzlich wurde ihr klar, warum ihr die drei Pferde so vertraut vorkamen.

Da standen auf einmal drei Männer in der Stalltür und versperrten den Weg.

»Sieh an.« Cuirgi von Ciarraige, der bis vor kurzem Gefangener ihres Bruders gewesen war, feixte. »Sieh an, es macht den Eindruck, als hätten wir nun eine Gefangene. Meine Freunde, ein weiblicher Sproß der Eoghanacht ist uns in die Hände gefallen. Tja, das Schicksal meint es wohl gut mit uns. Jetzt können wir wirklich in Ruhe in unsere Heimat zurückreiten und unsere Rache an Cashel weiterverfolgen.«

Eadulf sah in das erschrockene Gesicht des Verwalters der Abtei von Colman.

»Wo kann ich Uaman den Aussätzigen finden?« fragte er.

»Was hast du denn mit dieser Satansbrut zu schaffen?« flüsterte der Verwalter. »Ich würde dir lieber den Weg zur Hölle zeigen.« Er rang nach Luft. Plötzlich schien er zu erraten, warum Eadulf sich nach Uaman erkundigte. Er riß die Augen auf. »Du glaubst doch wohl nicht etwa, daß der Kräutersammler das Baby Uaman gegeben hat?«

»Doch, so ist es. Und nun muß ich meinen Sohn zurückbekommen. Wo also kann ich diesen Mann finden? Er scheint dir gut bekannt zu sein.«

Der Verwalter wurde kreidebleich.

»Bruder Eadulf, er ist den meisten Leuten in dieser Gegend bekannt. Schon zu Zeiten von Prinz Eoganan war Uaman Herr der Bergpässe des Sliabh Mis. Damals war er noch nicht leprakrank, sondern Kriegersproß von Eoganan, der, wie du vielleicht weißt, ein brutaler Tyrann war und die Eoghanacht in Cashel stürzen wollte. Eoganan fiel bei Cnoc Äine .«

»Ich weiß.« Eadulf nickte voller Ungeduld. »Was ist nun mit Uaman?«

»Er war der jüngste Sohn und Berater von Eoganan und noch schlimmer als der Despot selbst. Er hat dafür gesorgt, daß das Leben in den Abteien und Klöstern des Königreiches unerträglich wurde. Er schickte Krieger gegen uns aus und forderte Tribut. Aber Gott bestraft Zügellosigkeit.«

Eadulf zog die Augenbrauen hoch.

»Ach, du meinst wohl damit seinen Aussatz?«

»Genau. Noch vor der Schlacht bei Cnoc Äine hat er sich diese Krankheit zugezogen. Irgendwie hat er seine Macht erhalten können, und bis zur Niederlage der Ui Fidgente war er auch wirklich hier der Herr der Bergpässe. Doch nach der Niederlage seines vom Unglück verfolgten Vaters zog sich der Tyrann mit einer kleinen Schar Anhänger in diesen Winkel des Königreiches zurück. Zum Glück sind es nicht so viele wie früher. Er hat jetzt kaum mehr als sechs Krieger, die ihn beschützen - arme, verirrte Seelen. Sie folgen ihm, weil ihre Seelen und ihr Fleisch genauso in Auflösung begriffen sind wie seines.«

»Kommt es hier noch zu Überfällen?«

»Inzwischen sind wir stärker als er. Doch mit seinen wenigen Kriegern kontrolliert er nach wie vor die Straßen der großen Halbinsel nördlich von uns, wo das Land der Corco Duibhne liegt. Die Halbinsel erstreckt sich fast fünfzig Kilometer in die wilde, offene See hinaus. Sie ist gebirgig und öde, und die Wege dort sind so schmal, daß Uaman sie leicht absperren und von den Reisenden Wegzoll verlangen kann.«

»Der Stammesfürst der Corco Duibhne wird ihm doch sicher den Kampf angesagt haben? Wenn er nur noch sechs Männer hat, könnte man ihn mit Leichtigkeit überwältigen.«

»Das ist nicht so einfach, mein Freund. Uaman hält sich in einer uneinnehmbaren Festung auf. In einer steinernen Burg, deren Mauern sich kreisförmig um einen Turm erheben und sich um die gesamte kleine Insel ziehen, daß selbst große Armeen sie nicht einnehmen können.«

»Erzähl mir mehr von diesem Ort.«

»Von Uamans Turm?«

»Wo befindet er sich?«

»Nicht weit von hier, sächsischer Bruder. Du nimmst von unserer Abtei aus den Weg nach Norden, reitest um die große vor dir liegende Bucht herum und passierst dabei zu deiner Rechten die Gebirgskette. Der gerade und schmale Weg führt dich dann weiter nach Westen. Bei Flut ist die Insel vom Festland abgeschnitten, aber bei Ebbe bildet sie fast eine Halbinsel, denn die Sanddünen erstrecken sich bis zu dem Grashügel, auf dem sich Uamans Turm erhebt.« Der Verwalter griff Eadulf unerwartet am Ärmel und zog ihn mit sich fort. »Komm mit zu unserem Aussichtsturm, sächsischer Bruder. Dann kannst du vielleicht in der Ferne den Turm sehen.«

»Ist er so nah?« fragte Eadulf überrascht und ein wenig erleichtert.

»Möglicherweise kann man ihn auf der anderen Seite der Bucht erkennen«, erwiderte der Verwalter, »doch der Ritt um die ganze Bucht herum dauert ziemlich lange.«

Tatsächlich konnte Eadulf von der Spitze des Abteiturms jenseits des grauen Wassers der Bucht einen schwarzen Turm in der Ferne ausmachen. Er hob sich kaum von der dunklen Gebirgswand dahinter ab. Von hier sah es so aus, als befände sich der Turm auf dem Festland an der Nordseite der Bucht.

»So uneinnehmbar sieht der doch gar nicht aus«, stellte er fest.

»Täusch dich da mal nicht, sächsischer Bruder«, erwiderte der Verwalter. »Der Streifen Sand, der die Insel mit dem Festland verbindet, ist scheinbar fest und sicher, wenn Ebbe ist, doch dort gibt es beo-gainneamh, auf die man höllisch aufpassen muß. Darin kann eine ganze Armee verschwinden.«

Eadulf verstand nicht gleich und fragte nach. »Meinst du Schilfgras?«

Der Verwalter schüttelte den Kopf. »Gainneamh«, wiederholte er.

»Ah, Sand meinst du«, berichtigte sich Eadulf. »Aber beo-gainneamh? Bedeutet das lebendiger Sand?«

Der Verwalter nickte. Eadulf begriff erst nach ein paar Augenblicken, daß es sich um Treibsand handeln mußte. Er erschauerte.

»Auch wenn Ebbe ist, ist es gefährlich, sich dem Turm zu nähern. Es ist eine naturgeschaffene Festung.

Und wenn dann die Flut einsetzt, kommt sie so rasch, daß der schmale Sandstreifen, der Insel und Festland verbindet, sofort von Wasser bedeckt wird. Der Stammesfürst der Corco Duibhne hat einmal versucht, den Turm anzugreifen, dabei hat er ein Dutzend Männer verloren.«

»Nun, ich möchte Uaman ja auch nicht angreifen, ich möchte ihn nur treffen und zur Rückgabe meines Kindes bewegen.«

Der Verwalter zog die Augenbrauen hoch.

»Von Uaman verlangt man nichts. Man geht ihm aus dem Weg. Du sagst, daß du ihn um die Rückgabe deines Kindes bitten willst? In diesem Fall sollte Colgu besser eine starke Armee ausrüsten - nur so wird Ua-man etwas zurückgeben, was ihm nicht gehört.«

»Danke, daß du mich warnen willst, Bruder. Aber vielleicht weiß er gar nicht, wessen Kind er da festhält? Manchmal kann ein einzelner, der die Sprache der Vernunft spricht, mehr erreichen als eine ganze Armee.«

»Ich werde für dich beten, sächsischer Bruder, so wie ich für die anderen Glaubensbrüder vor dir gebetet habe.«

»Die anderen Glaubensbrüder? Wen meinst du damit?« fragte Eadulf erstaunt.

»Vor ungefähr einer Woche kehrte ein Bruder aus Ulaidh mit einem fremden Mönch aus einem fernen Land bei uns ein. Ich glaube, er war Grieche. Sie erkundigten sich wie du nach Uaman. Ich erklärte ihnen, wo sie ihn finden könnten. Dann brachen sie auf.

Sie versprachen, in ein paar Tagen zurück zu sein. Bisher sind sie noch nicht wieder aufgetaucht.«

Eadulf rieb sich die Schläfe. »Ich habe unterwegs von diesen beiden Mönchen gehört. Was mag sie wohl zu Uaman führen?«

Der Verwalter zuckte die Achseln. »Der Fremde sprach unsere Sprache nicht gut, aber sein Begleiter erzählte mir, daß er ein bedeutender Arzt aus dem Osten sei, der unsere Gegend kennenlernen will und auf das Heilen von Lepra spezialisiert sei. Ihm selbst sei eine Belohnung versprochen worden, wenn er diesen Arzt zu Uaman brächte, damit er dessen Leiden lindere.«

»Vielleicht haben sie auf dem Rückweg eine andere Route eingeschlagen?«

Der Verwalter lächelte traurig. »Sie versprachen, auf dem selben Weg zurückzukommen, denn der Fremde wollte uns berichten, wie man in seinem Land den christlichen Glauben lebt. Ich mache mir große Sorgen um sie, wirklich.«

Eadulf dachte einen Augenblick nach und lächelte dann düster.

»Nun, wie es aussieht, muß ich bei diesem Herrn der Bergpässe, diesem Uaman, wohl vorsichtig sein. Ich danke dir für die Ratschläge, Bruder. Wie ein guter Freund von mir sagen würde - praemonitus, prae-munitus.«

»Gewarnt sein heißt, gewappnet sein«, übersetzte der Verwalter feierlich. »So sei es, sächsischer Bruder. Sei gewappnet und sei vor allem vorsichtig.«

Fidelma starrte die drei bewaffneten Krieger der Ui Fidgente an. Sie versuchte sich nicht anmerken zu lassen, wie bestürzt sie über den Mord an dem Jagdaufseher und dessen Sohn war. Sie wollte gebieterisch auftreten.

»Was tut ihr hier?« fragte sie streng. »Ihr solltet doch in eure Heimat zurückkehren, damit eure Freunde meinen Sohn freilassen.«

Cuirgi stieß ein höhnisches Gelächter aus. »Du glaubst doch nicht wirklich, daß wir auf diesen Trick reinfallen?«

»Trick?« fragte Fidelma verwirrt.

»Erpresserschreiben und dergleichen. Eine List, mehr nicht, um uns aus dem Schutz deines Bruders zu locken, damit seine Anhänger uns an der Straße auflauern und niedermetzeln können. Damit wäre ein Problem mehr für deinen Bruder gelöst, nicht wahr?«

Fidelma konnte nicht glauben, was er da sagte.

»Aber ... aber es ist kein Trick. Mein Sohn wurde wirklich ...«

Cuirgi fiel ihr ins Wort.

»Warum bist du uns dann gefolgt? Wir haben absichtlich einen anderen Weg gewählt, um nicht in einen Hinterhalt zu geraten. Wir dachten, das wäre hier ein sicheres Versteck, bis die Lage wieder günstiger ist ... Aber du mußt uns dicht gefolgt sein. Wer ist noch bei dir?«

Fidelma schüttelte bestürzt den Kopf.

»Ich bin ganz zufällig hier. Ich bin euch keineswegs gefolgt«, widersprach sie heftig. »Und das Schreiben ist echt. Wenn ihr nicht ins Land der Ui Fidgente zurückkehrt, werden eure Verbündeten meinen Sohn umbringen.«

»Hältst du uns für Narren? Wenn es wirklich um so einen Austausch ginge, hätte man uns irgendwie benachrichtigt. Es wäre ganz leicht gewesen, eine Botschaft zu uns ins Gefängnis zu schmuggeln. Das hier ist irgendein Trick, um uns fortzulocken und umzubringen.«

»Aber, ich sage euch ganz ehrlich ...« Sie schwieg auf einmal. Steckte etwa jemand anderes hinter dem Ganzen? Conri hatte gesagt, er schwöre im Namen der Ui Fidgente, daß dort von einer Kindesentführung nichts bekannt sei.

Cuirgi warf seinen Gefährten einen triumphierenden Blick zu.

»Dachte ich’s mir doch. Ihr Schweigen sagt alles. Crond, überprüfe die Umgebung genau und stelle fest, ob diese Eoghanacht hier von jemandem begleitet wurde. Cuan, du mußt mir helfen, sie festzubinden. Mit ihr als Gefangener können wir sicher in unser Land zurückkehren.«

»Aber ...«, protestierte Fidelma.

Cuirgi holte plötzlich aus und schlug ihr auf die Wange. Es war ein harter, schmerzender Schlag.

»Schweig endlich! Kein Wort mehr!«

Fidelma taumelte zurück, und ehe sie begriff, was geschah, hatte ihr Cuan fachmännisch mit einem Strick die Hände zusammengebunden. Er zog sie aus dem Stall zum Haupthaus.

»Leg sie oben auf den Stufen ab und kümmere dich drum, daß sie ordentlich gefesselt ist«, rief Cuirgi.

»Und was, wenn sie nicht allein hier ist?« fragte Cuan, als er sie durch den Hauptraum der Hütte schleifte.

»Dann können sie wählen, ob sie sich zurückziehen und uns unbehelligt weiterreiten lassen oder mit einer Leiche vorliebnehmen wollen.« Cuirgi lachte trocken. »Ich glaube, selbst Colgu würde die richtige Entscheidung treffen.«

»Hört mich an. Ihr macht einen Fehler ...«, rief Fidelma noch einmal, doch da verschloß ihr eine grobe Hand den Mund. Cuirgi sah mit einem zufriedenen Lächeln zu.

»Kneble sie, damit sie nicht um Hilfe schreien kann.«

Nun wurde sie die Treppe zum oberen Stockwerk hochgezerrt und in einen der Schlafräume gestoßen. Welche Ironie des Schicksals, dachte sie, daß sie sich in genau dem Raum wiederfand, in dem sie schon als Kind geschlafen und in dem sie sich immer so sicher und beschützt gefühlt hatte. Nun war sie hier gefangen und hilflos.

Cuan war ziemlich erfahren darin, sein Opfer so zu fesseln, daß es völlig wehrlos war. Er band ihr jetzt die Hände auf dem Rücken zusammen und schlang ihr einen Strick um die Knöchel. Dann riß er ein Stück Leinen vom Kopfkissen ab und knebelte sie.

»Na, ist das angenehm?« höhnte er. Dann stieß er sie auf das Holzbett. Sie blickte ihn kalt an.

Was war, wenn Cuirgi und Conri unrecht hatten? Was war, wenn ein ganz anderer aus ihrem Volk die Fürsten freibekommen wollte und keiner davon Kenntnis hatte? Würde ihr Sohn geopfert werden, nur weil niemand Bescheid wußte und die Parteien einander mißtrauten?

Fidelma wartete, bis Cuan nach unten ging, dann prüfte sie die Fesseln. Sie saßen sehr fest. Weder an den Füßen noch an den Handgelenken hatte sie Spielraum. Enttäuscht ließ sie sich auf dem Bett nach hinten sinken und schloß die Augen. Ihr Verstand arbeitete angestrengt an einem Fluchtplan.

Etwas später hörte sie von unten jemanden rufen.

»Crond kommt zurück!«

Sie vernahm, wie draußen ein Pferd anhielt und erkannte Cuirgis Stimme.

»Was gibt’s Neues?«

»Von niemandem eine Spur«, erwiderte derjenige, bei dem es sich um Crond handeln mußte. »Ich bin den Berg da drüben hoch, von dort kann man alle Bewegungen in diesem Tal überschauen. Nichts. Man könnte mir dafür einen Eid abnehmen, daß sie allein gekommen ist.«

»Dir wird noch was ganz anderes abgenommen werden, wenn das nicht wahr ist«, rief Cuirgi höhnisch.

»Dann sollte ich lieber keinen Fehler machen«, ent-gegnete der andere vollkommen uneingeschüchtert. »Im Moment sind wir sicher. Vielleicht hat die Frau ja die Wahrheit gesagt.«

»Dann hatte sie ja ziemliches Pech, wenn es so sein sollte«, ließ sich nun der Dritte vernehmen. Das war Cuan, der sie gefesselt hatte.

»Gut.« Cuirgis bestimmender Ton verriet, daß er hier befahl. »Wenn wir davon ausgehen, daß dieses Weibsbild rein zufällig hier ist, haben wir Glück. Wir müssen nur eine Weile warten, ehe wir weiter Richtung Heimat reiten.«

»Doch was ist, wenn gewisse Anhänger von uns wirklich das Kind dieser Frau entführt haben?« Crond stellte die Frage, die Fidelma bewegte.

Cuirgi lachte. »Du glaubst dieses Märchen? Davon hätten wir längst erfahren.«

»Ich gestehe, daß eine Menge für deine Sicht der Dinge spricht, doch ... Doch was ist, wenn es wirklich stimmt?«

»Was soll schon sein? Dann gäbe es einen Eogha-nacht weniger in Muman, und wir wären immer noch frei.«

»Wenn das wahr wäre, Cuirgi, und das Kind stirbt, dann sind uns morgen alle Krieger Cashels auf den Fersen und jeder einzelne wird danach lechzen, daß unser Blut an seinem Schwert klebt«, erklärte Crond.

»Macht dir das etwa Angst?« fragte Cuirgi zynisch. »Wir haben schon vorher gegen die Eoghanacht gekämpft.«

»Ich bin ein Ui Fidgente und von dem gleichen stolzen Stammbaum wie du, Cuirgi!« warf ihm Crond wütend an den Kopf. »Ich bin darauf eingestellt, mein Blut unserer Sache zu opfern. Aber ich bin nicht darauf aus, es sinnlos zu vergeuden und gejagt und umgebracht zu werden aus Rache für ein totes Kind. Würde es dir gefallen, so in Erinnerung zu bleiben?«

»Er hat recht, Cuirgi«, äußerte Cuan. »Während wir hier warten, wird vielleicht das ganze Land gegen uns mobilisiert, und unsere Heimkehr wird unmöglich.«

Der ältere Fürst brach in Gelächter aus.

»Ihr vergeßt, daß wir Colgus Schwester bei uns haben, die uns eine sichere Heimkehr garantiert. Und überhaupt, ich habe es euch doch schon erklärt . Falls es ein solches Komplott gibt, hätten unsere Freunde uns irgendwie informiert. Dieser alte Gefängniswärter hat doch immer Bestechungsgeld angenommen und Botschaften rein- und rausgeschmuggelt. Wir hätten davon schon erfahren. Das hier ist eine Falle der Eoghanacht. Da bin ich mir ganz sicher.«

Als Fidelma sie so hörte, stöhnte sie innerlich. Sie mußte zugeben, daß Cuirgi da ein gutes Argument vorgebracht hatte. Wenn jemand diese Entführung auf so lange Sicht sorgfältig geplant hatte, hätte er sicher die Beteiligten in Kenntnis gesetzt. Doch wenn es gar nicht darum ging, die drei Ui Fidgente freizubekommen, was sollte das Ganze? Wer steckte dann dahinter?

Die drei Männer zogen sich in den unteren Raum zurück, Fidelma konnte ihrer Unterhaltung nicht mehr folgen. Sie merkte, daß es dunkel wurde. Es war schon spät.

Sie fragte sich, was ihr Bruder wohl tat, wo weder sie in die Burg zurückkehrte, noch eine Nachricht von ihr eintraf. Würde er erraten, daß sie sich in der Jagdhütte aufhielt? Sie versuchte, sich bequemer hinzulegen. Der Knebel würgte sie.

Erschöpft mußte sie eingenickt sein, denn das nächste, was sie bemerkte, war, daß im Raum eine Öllampe brannte. Jemand nahm ihr den Knebel ab. Sie hustete und rang nach Luft. Kräftige Hände griffen ihr unter die Arme und richteten sie auf, so daß ihr Rücken gegen das hölzerne Kopfteil des Bettes lehnte.

Crond saß am Bettrand und sah sie mit einem düsteren Lächeln an.

»Wie spät ist es?« brachte Fidelma hervor, nachdem sie sich geräuspert hatte.

Crond lachte belustigt.

»Noch nicht sehr spät, Lady. Es ist noch vor Mitternacht. Ich dachte, daß du vielleicht etwas essen willst. Wir wollen nicht, daß du hungrig und schwach bist. Vor uns liegt ein langer Ritt ins Land der Ui Fid-gente.«

»Wann brecht ihr auf?« fragte Fidelma.

Crond zuckte mit den Achseln. »Wenn Cuirgi meint, daß es für uns sicher ist. Vielleicht morgen, vielleicht auch später.«

Fidelma sah auf die Schale mit Suppe und auf den Becher, die auf dem kleinen Tisch standen.

»Wenn ich gefesselt bleibe, mußt du mir beim Essen und Trinken helfen. Oder binde mir die Hände los, damit ich selbst zugreifen kann.«

Wieder lachte Crond.

»Oh, ich werde dich füttern, Lady. Ich habe sonst nichts zu tun, und wir wollen doch nicht, daß du auf dumme Gedanken kommst, nicht wahr?«

»Der Strick schneidet mir ins Fleisch«, beschwerte sie sich.

»Das bezweifle ich nicht«, versicherte ihr Crond. »Cuan hat ein bemerkenswertes Talent, Leute zu fesseln.« Er griff nach dem Becher und setzte ihn an ihre Lippen. »Wahrscheinlich willst du zuerst einen Schluck trinken.«

Sie schluckte den Met hinunter. Er war ein wenig sauer, aber ihre Kehle war nach den vielen Stunden mit dem Leinenknebel im Mund so trocken und gereizt, daß sie gierig davon trank.

Als er den Becher abstellte, leckte sie sich die Lippen und betrachtete den Ui Fidgente prüfend. Sie fragte sich, wie sie ihn dazu bringen könnte, ihr zu helfen.

»Ich glaube, daß du klüger als deine Gefährten bist, Crond«, fing sie an.

Überrascht zog der Krieger die Augenbrauen hoch.

»Das glaube ich auch, Lady. Wie kommst du darauf?«

»Ich habe gehört, wie du vorhin mit Cuirgi gesprochen hast. Wirklich, mein Bruder hat kein Komplott ausgeheckt, um euch aus Cashel fortzulocken und dann umzubringen. Die Amme meines Sohnes ist getötet worden, dabei wurde mein Kind entführt. Wir haben ein Erpresserschreiben erhalten, das eure Freilassung verlangt und im Gegenzug dafür die Rückgabe meines Sohnes verspricht, sobald ihr über der Grenze seid.«

Cronds Gesicht blieb ohne Regung. »Warum sollte ich dir das glauben?«

»Weil ich annehme, du weißt, daß ich die Wahrheit sage. Wer immer mein Kind festhält, wird es ermorden, wenn ihr nicht sofort heimkehrt. Sie werden denken, mein Bruder hält euch nach wie vor fest. Ich will nicht, daß mein Sohn stirbt.«

Crond zog die Schultern hoch. Er neigte sich zur Seite und nahm die Schale und einen Löffel. Er hielt ihr einen Löffel Suppe hin.

»Cuirgi hatte schon recht, Lady, wenn das alles stimmen würde, hätte man uns informiert. Ich gestehe, daß uns oft Nachrichten ins Gefängnis geschmuggelt wurden. Das war ganz einfach. Der alte Wärter ist bestechlich.«

»Dafür wird er Rede und Antwort stehen müssen«, stellte Fidelma verärgert fest. Für einen Moment hatte sie vergessen, daß sie nur eine Geisel war.

Crond lächelte bewundernd.

»Du hast Charakter, Lady, das kann ich dir bescheinigen.«

»Das Leben meines Sohnes steht auf dem Spiel.«

»Unser Leben steht auch auf dem Spiel«, entgegnete er kurz. »Wir werden es nicht einfach so vergeuden.«

Jemand näherte sich der Tür. Es war Cuirgi. Er lehnte sich gegen den Türpfosten und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Du scheinst dich ja mit der Gefangenen gut zu verstehen, Crond«, bemerkte er kühl.

Crond schaute grinsend auf.

»Ist es denn verboten zu sprechen, während ich unsere Gefangene füttere?«

»Es kommt ganz darauf an, worüber ihr euch unterhaltet«, erwiderte Cuirgi. »Es ist nur allzugut bekannt, daß diese Frau eine Zunge aus Gold hat. Sie ist eine ddlaigh, und wir wissen doch, daß eine gute Richterin aus schwarz weiß machen kann und umgekehrt. Halte bloß deine Zunge im Zaum, Crond.«

Crond lächelte zynisch. »Nach zwei Jahren im Gefängnis der Eoghanacht können mich die Worte dieser Frau nicht hinters Licht führen. Doch je schneller wir in unsere Heimat zurückkehren, desto besser, meine ich.«

Cuirgi nickte nachdenklich und nahm dabei Fidelma ins Visier.

»Fütter sie zu Ende und komm dann runter. Wir müssen unsere Route besprechen. Cuan kennt die Gegend nördlich von hier gut und hat eine Idee.«

»Wann brechen wir also auf? Morgen?«

Cuirgi schüttelte den Kopf. »Wenn wir noch einen Tag warten, werden sie glauben, wir seien schon zu Hause .« Da erstarb seine Stimme mit Blick auf Fidelma. »Wir werden uns unten darüber unterhalten.«

Er blieb noch einen Augenblick stehen und verschwand dann. Fidelma hörte, wie er die Treppe hinunterlief. Crond gab ihr wieder von der Suppe. Er zwinkerte ihr zu und flüsterte leise: »So, Lady, es sieht aus, als ob du noch ein wenig so ausharren mußt.«

»Meine Hände und Füße sind ganz taub, Crond«, sagte sie. »Kannst du die Fesseln nicht ein wenig lok-kern? Unter den gegebenen Umständen werde ich weder laufen noch reiten können, wenn es darauf ankommt. Du mußt doch einsehen, daß ich so ohnehin nicht fliehen kann, oder?«

Crond zögerte, dann wurde ihm klar, daß sie recht hatte. Er stellte die Schale ab und beugte sich über ihre Knöchel, um den Strick ein wenig zu lockern. So schnitt er nicht ins Fleisch ein und war dennoch fest. Sie spürte, wie ihr Blut unter kleinen schmerzhaften Nadelstichen wieder in die Glieder schoß. Crond drehte sich um und tat das gleiche an den Handgelenken. Sie seufzte, als ihre eingeschnürten Arme zu kribbeln anfingen. Er setzte sie wieder gegen die Kopfstütze und gab ihr den Rest Suppe. Dann durfte sie noch einmal trinken. Schließlich stand er auf.

Einen Moment lang sah er auf den gelösten Knebel, sie bemerkte seinen Blick.

»Wen sollte ich hier schon um Hilfe anrufen?« fragte sie sarkastisch.

Er zögerte und lächelte dann aber.

»Die Nacht wird lang, Lady. Schlaf gut.«

Schließlich war er fort. Sie lag eine ganze Zeit einfach so da und lauschte auf das Stimmengewirr in den unteren Räumen. Dann begann sie, an den Fesseln zu zerren. Obwohl Crond sie etwas gelockert hatte, saßen sie immer noch fest. Sosehr sie sich auch bemühte, sie würde ihre Hände nicht freibekommen. Es dauerte eine Weile, bis sie aufgab und wieder einschlief. Als nächstes bemerkte sie den grauen Lichtschein der Morgendämmerung.

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