Maxwell kam um die Ecke der verfallenen Hütte und erspähte seitlich davon den Dornbusch. An dem Busch war etwas Merkwürdiges. Er sah aus, als hätte sich eine dunkle Wolke rings um seinen Mittelstamm gehüllt, und aus dieser Wolke ragten kleine Zweige und Blätter. Wenn O’Toole die Wahrheit gesagt hatte, dann war die dunkle Wolke im Dornbusch die sterbende Todesfee.
Er ging langsam an der Hütte vorbei und blieb ein paar Schritte vom Busch entfernt stehen. Die schwarze Wolke bewegte sich rastlos wie eine aufsteigende Rauchfahne.
»Sie sind die Todesfee?« fragte Maxwell den Baum.
»Du kommst zu spät, wenn du mit mir sprechen willst«, sagte die Todesfee.
»Ich will nicht mit dir sprechen«, erwiderte Maxwell. »Ich will bei dir wachen.«
»Dann setz dich. Es wird nicht lange dauern.«
Maxwell setzte sich auf den Boden und zog die Knie eng an die Brust. Seine Handflächen ruhten auf dem trockenen, vergilbten Gras. Unter ihm erstreckte sich das herbstliche Tal bis zum fernen Horizont nördlich des Flusses, wo die Berge, anders als hier am Südufer, sanft und terrassenförmig in den Himmel stiegen.
Rasches Flügelschlagen kam näher, und ein Schwarm Amseln flog schräg durch den blauen Dunst über der Schlucht. Sie verschwanden hinter dem Berg, und dann war wieder die Stille da, die keinerlei Gewalt oder Drohung enthielt, eine verträumte Stille, in der sich die Hänge badeten.
»Die anderen sind nicht gekommen«, sagte die Todesfee. »Anfangs dachte ich, sie würden es tun. Einen Augenblick lang glaubte ich, sie würden vergessen und kommen. Es braucht keine Kluft mehr zwischen uns zu bestehen. Wir sind ein Volk wir befinden uns alle auf der gleichen Stufe. Aber die alten Sitten sind noch nicht tot. Die Bräuche dauern fort.«
»Ich sprach mit den Kobolden«, sagte Maxwell. »Sie halten einen Leichenschmaus zu deinen Ehren. O’Toole ist gramgebeugt und trinkt, um seinen Kummer zu lindern.«
»Du gehörst nicht zu meinem Volk«, sagte die Todesfee. »Du bist ein Eindringling. Und doch sagst du, daß du bei mir wachen willst. Weshalb tust du das?«
Maxwell log. Er konnte nicht anders. Er konnte diesem sterbenden Geschöpf nicht sagen, daß er um eine Auskunft gekommen war.
»Ich habe mit deinem Volk zusammengearbeitet, und es ist mir ans Herz gewachsen.«
»Du bist Maxwell«, sagte die Todesfee. »Ich habe von dir gehört.«
»Wie fühlst du dich?« fragte Maxwell. »Kann ich etwas für dich tun? Brauchst du etwas?«
»Nein«, erklärte die Todesfee. »Ich bin jenseits aller Wünsche. Ich spüre fast nichts. Das ist das Schlimme, daß ich nichts spüre. Mein Sterben ist anders als dein Sterben. Es hat mit dem Körper nichts zu tun. Die Energie flieht von mir, bis schließlich nichts mehr übrig bleibt. Wie eine flackernde Kerze, die abbrennt.«
»Es tut mir leid«, sagte Maxwell. »Wenn das Sprechen den Vorgang beschleunigt …«
»Vielleicht, aber das kümmert mich nicht mehr. Und ich spüre kein Bedauern. Ich bin eine der letzten meines Stammes. Wir sind insgesamt noch drei, wenn du mich mitrechnest — und ich zähle schon nicht mehr. Zwei Todesfeen von Tausenden …«
»Aber da sind die Kobolde und die Trolle und die Feen …«
»Du verstehst das nicht«, sagte die Todesfee. »Niemand hat es dir erklärt. Und du hast nie danach gefragt. Jene, die du nennst, sind die Rassen, die nach uns kamen, als der Planet nicht mehr jung war. Wir waren Kolonisten, das mußt du wissen.«
»Ich hatte es mir während der letzten Stunden fast gedacht«, sagte Maxwell.
»Du hättest es früher wissen müssen. Du warst auf dem älteren Planeten.«
Maxwell keuchte. »Woher wußtest du das?«
»Wie atmet man?« fragte die Todesfee. »Wie sieht man? Für mich ist der Gedankenaustausch mit jenem alten Planeten so natürlich wie das Atmen und das Sehen.«
Das war es also, dachte Maxwell. Die Todesfee war die Informationsquelle des Rollenfüßlers gewesen, und Churchill mußte Mister Marmaduke den Tip gegeben haben, daß sie Bescheid wußte.
»Und die anderen — die Trolle, die …«
»Nein«, sagte die Todesfee. »Wir waren die einzigen, denen der Weg offenstand. Das war unsere Aufgabe, unser einziger Zweck. Wir waren die Bindeglieder zum alten Planeten, die Kommunikatoren. Als der ältere Planet Kolonien anlegte, war es notwendig, daß eine Art Gedankenaustausch erhalten blieb. Wir alle waren Spezialisten, auch wenn unsere besonderen Fähigkeiten jetzt keinen Sinn mehr haben, weil die meisten unserer Rasse tot sind. Diejenigen, die später kamen, waren nur Siedler, die das Land besetzen sollten.«
»Du meinst die Trolle und Kobolde?«
»Die Trolle und Kobolde und all die anderen. Sie hatten ihre Fähigkeiten, aber sie waren keine Spezialisten. Wir waren die Denker, sie die Arbeiter. Es bestand eine Kluft zwischen uns. Deshalb kommen sie nicht, um Wache zu halten. Die alte Kluft ist immer noch da.«
»Du strengst dich zu sehr an«, sagte Maxwell. »Du solltest deine Kräfte schonen.«
»Es macht nichts. Die Energie verläßt mich, und wenn sie erloschen ist, ist auch mein Leben erloschen. Dieses Sterben hat nichts mit Materie oder einem Körper zu tun, denn ich hatte nie einen richtigen Körper. Ich bestand aus Energie. Nein, es macht nichts. Denn der alte Planet stirbt auch. Du hast meinen Planeten gesehen und weißt es.«
»Ja, ich weiß es«, sagte Maxwell.
»Es wäre ohne die Menschen ganz anders gekommen. Als wir hier ankamen, gab es kaum Säugetiere, geschweige denn Primaten. Wir hätten ihn verhindern können, den Aufstieg der Primaten. Wir hätten die Entwicklung im Keim ersticken können. Es wurde auch in Erwägung gezogen, denn der Planet hatte sich als vielversprechend erwiesen, und wir sträubten uns dagegen, ihn wieder aufzugeben. Aber da war das alte Gesetz. Intelligenz ist so selten, daß man sich ihrer Entwicklung nicht in den Weg stellen darf. Sie ist etwas Kostbares — auch wenn wir nur zögernd Platz machten, mußten wir anerkennen, daß sie etwas Kostbares ist.«
»Aber ihr seid geblieben«, sagte Maxwell. »Ihr habt zwar Platz gemacht, aber ihr seid auf der Erde geblieben.«
»Es war zu spät«, erklärte ihm die Todesfee. »Wir wußten nicht, wohin wir gehen sollten. Der ältere Planet war schon damals im Absterben. Es hatte keinen Sinn, ihn aufzusuchen. Und die Erde war unsere Heimat geworden.«
»Ihr müßt uns Menschen hassen.«
»Früher einmal, ja. Ich nehme an, daß es immer noch Haß gibt. Aber er brennt mit der Zeit nicht mehr so heftig. Allerdings verschwindet er auch nicht ganz. Und ich muß gestehen, daß wir trotz unseres Hasses irgendwie stolz auf euch waren. Weshalb sonst hätte dir der alte Planet sein Wissen angeboten?«
»Aber du hast es auch dem Rollenfüßler angeboten.«
»Dem Rollenfüßler? Oh, ich weiß, was du meinst. Aber wir haben es ihm nicht direkt angeboten. Der Rollenfüßler hatte von dem alten Planeten gehört, vielleicht durch irgendwelche Gerüchte. Und er hatte gehört, daß der Planet etwas Kostbares besaß, das verkauft werden sollte. Er kam zu mir und stellte nur eine Frage. Er wollte den Preis des Verkaufsgegenstandes wissen.«
»Und du hast ihm gesagt, daß ihr das Ding haben wollt?«
»Natürlich. Denn zu dieser Zeit hatte man mir noch nichts von dir gesagt. Erst später erfuhr ich, daß ich den Preis zur passenden Zeit dir mitteilen sollte.«
»Und natürlich wolltest du das tun?« fragte Maxwell.
»Ja«, sagte die Todesfee. »Ich wollte es tun. Und jetzt habe ich es getan, und die Sache ist abgeschlossen.«
»Du kannst mir noch eines sagen. Was ist das Ding?«
»Das«, sagte die Todesfee, »kann ich nicht.«
»Du kannst nicht, oder du willst nicht?«
»Ich will nicht«, sagte die Todesfee.
Verraten, dachte Maxwell. Die menschliche Rasse war verraten von diesem sterbenden Wesen, das ihm den Preis nie mitgeteilt hätte, mochte es jetzt sagen, was es wollte. Von diesem Ding, das durch Jahrtausende hinweg seinen kalten Haß gegen die Menschheit genährt hatte. Und jetzt, da niemand es mehr erreichen konnte, erzählte es noch spöttisch, wie sehr es die Menschen verraten hatte. Die Menschen sollten es erfahren.
»Und du hast dem Rollenfüßler auch über mich Bescheid gesagt«, rief er. »Deshalb wartete Churchill ganz zufällig an der Erdstation auf mich. Er sagte, er sei von einer Reise zurückgekehrt, aber das stimmt nicht. Er war gar nicht fort.«
Er stand ärgerlich auf. »Und was war mit dem Maxwell, der sterben mußte?«
Er wandte sich dem Busch zu, und der Busch war leer. Die dunkle Wolke, die seinen Stamm umzittert hatte, war verschwunden.
Verschwunden, dachte Maxwell. Nicht tot, sondern verschwunden. Die Substanz eines elementaren Geschöpfes war zurückgekehrt zu den Elementen. Die unvorstellbaren Fesseln, die sie zu einer Art Lebewesen zusammengehalten hatten, waren endlich so geschwächt, daß die letzte Energie wie eine Handvoll Staub in der Luft verwehte.
Als die Todesfee lebte, war man nur schwer mit ihr ausgekommen. Und jetzt, da sie tot war, fühlte er sich nicht leichter. Eine Zeitlang hatte er Mitleid verspürt, wie jeder Mensch, der ein Geschöpf sterben sah. Aber er wußte, daß das Mitleid verschwendet war, denn die Todesfee mußte mit einem heimlichen Gelächter gestorben sein.
Es gab nur noch eine Hoffnung. Er mußte das Zeit-College dazu überreden, den Verkauf des Dings so lange hinauszuzögern, bis er Verbindung mit Arnold aufgenommen und ihm seine Geschichte irgendwie klargemacht hatte. Eine Geschichte, die jetzt noch phantastischer als zuvor klang.
Er wandte sich um und ging in die Schlucht hinunter. Bevor er den Wald erreichte, blieb er noch einmal stehen und sah zurück zum Hang. Der Busch hob sich geduckt vom Himmel ab, die Wurzeln fest im Boden verankert.
Als Maxwell an der Feenlichtung vorbeikam, war eine Gruppe von Trollen mürrisch dabei, den Boden zu glätten und an den verunstalteten Stellen neue Grassamen zu säen. Von dem Stein war nichts zu sehen.