10. KAPITEL

Es war wieder Montag vormittag, Zeit für Samuel Stone, seinen nächsten Fernsehauftritt zu absolvieren und seinen Erben versteckte Hinweise auf einen weiteren Teil seines gigantischen Vermögens zu geben. Die Witwe, der Neffe, der Anwalt und David saßen auf ihren angestammten Plätzen und warteten darauf, daß es an- ging. Der Butler kam herein und legte das nächste Band in den Videorecorder. „Sind Sie bereit?" fragte er. „Wir sind bereit."

Das Band lief. Das Gesicht Samuel Stones erschien auf dem Bildschirm. „Da sind wir wieder", sagte er. „Alle habt ihr gedacht, wenn ich erst mal tot bin, habt ihr endlich ein für allemal Ruhe vor mir. Wie ihr seht, ganz so einfach ist das nicht. Am liebsten wäre es mir ja gewesen, ich hätte mein ganzes Geld mit ins Grab nehmen können. Keiner von euch verdient auch nur einen Teil davon. Aber ich habe nun einmal keine anderen Hinterbliebenen, denen ich es hinterlassen könnte."

Sein Blick richtete sich auf den Stuhl, auf dem die Witwe zu sitzen hatte. „Wenn du mein Geld findest, verschleuderst du es nur für alberne Kleider und wahrscheinlich eine blöde Jacht." Womit er den Nagel auf den Kopf traf, was die tatsächlichen Absichten seiner Witwe anging.

Dann wandte er sich der Stelle zu, wo der Neffe immer saß. „Und so wie ich dich kenne, würdest du mein schönes Geld auch nur für schnelle Frauen und schnelle Autos hinauswerfen."

Womit er ebenfalls den Nagel auf den Kopf traf, soweit es die tatsächlichen Absichten seines Neffen betraf. Und weiter wanderte sein Blick zum Platz des Anwalts. „Und was Sie betrifft, mein Lieber, haben Sie doch im ganzen Leben noch keinen Dollar ehrlich verdient. Sie versuchen, denke ich mir, soviel zu ergattern, wie es nur geht, um sich davon dann zum Eindruck schinden auf Ihre Klienten ein prächtiges Bürogebäude zu bauen."

Genau das waren ja auch tatsächlich die Pläne des Anwalts. Schließlich richtete Samuel Stone vom Bildschirm herunter auch noch den Blick auf David. „Und du", sagte er, „bist überhaupt der Schlimmste von allen. Die anderen werden zumindest Spaß dabei haben, mein Geld zu verprassen. Aber was machst du mit an dem schönen Geld, das du findest? Du wirfst es den Armen vor. Und die verdienen es überhaupt nicht." „Tun sie schon!" rief David.

„Diskutier gar nicht erst mit mir", sagte Samuel Stone „Ich verabscheue Arme."

„Wann bekommen wir endlich die neuen Hinweise zu hören?" murrte der Neffe.

Aber da sagte Samuel Stone auch bereits: „Ich gebe euch jetzt die neuen Hinweise." Er lachte leise auf. „Dieser ist wunderschön. Und er ist mindestens eine Milliarde Dollar wert."

Ein hörbares Atemholen ging durch den Raum.

„Hat er wirklich Milliarde gesagt?" fragte die Witwe. Und auch der Anwalt sagte, und er sprach direkt zum Bildschirm:

„Sagten Sie tatsächlich: eine Milliarde?"

„Ihr habt es doch gehört", sagte Samuel Stone.

Der Neffe meinte: „Wir sollten vielleicht..."

„Pst!" mahnte ihn der Anwalt zum Schweigen. „Wir wollen doch nichts verpassen."

Samuel Stone sprach schon weiter.

„Findet ihr nicht, daß das, was wir einatmen und trinken, eine neue Attraktion bekommen sollte? Legt sie zusammen, und ihr erlebt eine wundersame Reaktion. Um dieses Rätsel zu lösen, müßt ihr sehr clever sein. Die Welt kann nicht ewig vom Öl leben."

Der Bildschirm wurde wieder dunkel.

Alle saßen da und sahen ratlos von einem zum anderen.

„Was für ein Hinweis ist das nun wieder?" kreischte wie üblich die Witwe sofort.

„Er muß total verrückt sein", sagte der Neffe. Sie schrien alle durcheinander und brüllten sich auch gegenseitig an. David versuchte, sie zu beruhigen. „Wir haben doch bisher alle seine Rätsel gelöst, nicht? Versuchen wir es also auch mit diesem."

Doch der Anwalt sprudelte hervor: „Wenn man nicht einmal weiß, wo man überhaupt anfangen soll!"

„Beim Anfang natürlich. Was war das erste, das er sagte?

Findet ihr nicht, daß das, was wir einatmen und trinken, eine neue Attraktion bekommen sollte?"

„Und was soll das heißen?" wollte die Witwe wissen.

„Nun", sagte David, „wir wissen, daß wir atmen. Wir atmen Luft."

„Und das Trinken?" sagte der Neffe. „Ist damit vielleicht Alkohol gemeint?"

David schüttelte den Kopf. „Das wäre zu kompliziert, weil es einfach zu viele Arten Wein und Spirituosen gibt. Nein. Was ist das auf der ganzen Welt verbreitetste Getränk? Wasser!" „Sie meinen, er sprach von Luft und Wasser?" „Ich glaube schon, ja. Und dann sagte er: Legt sie zusammen, und ihr erlebt eine wundersame Reaktion. Um dieses Rätsel zu lösen, müßt ihr sehr clever sein. Die Welt kann nicht ewig vom Öl leben."

„Was denn für eine Reaktion?"

„Das müssen wir eben herausfinden", sagte David.

„Nehmen wir uns mal den letzten Teil vor. Um dieses Rätsel zu lösen, müßt ihr sehr clever sein. Die Welt kann nicht ewig vom Öl leben."

„Verstehe ich nicht", sagte der Anwalt. „Was will er damit sagen?"

David runzelte die Stirn: „He, ich glaube, ich weiß, was er damit sagen will!"

Alle wandten sich ihm zu. „Was?"

David sagte langsam: „Ich denke mir, er hat einen Weg gefunden, wie man aus Luft und Wasser einen Treibstoff machen kann, der das Erdöl ersetzt." „Das ist doch verrückt!" rief die Witwe. „Völlig unmöglich!" sagte der Neffe.

„Ja, ich weiß, es klingt verrückt", räumte David ein. „Aber denken wir noch einmal an seinen Satz: Um dieses Rätsel zu lösen, müßt ihr sehr clever sein. Ich glaube, er meint das Auto. Und wenn wir diese Formel finden, kann das wirklich eine Milliarde wert sein." Er fragte den Anwalt: „Hat Mr. Stone in letzter Zeit irgendein Patent anzumelden versucht?" Der Anwalt verneinte kopfschüttelnd. „Nicht, daß ich wüßte." „Dann schauen wir alt aus", sagte der Neffe. „Den Mann könnte ich umbringen!" zischte die Witwe zornig; „Nicht mehr nötig", erinnerte sie der Anwalt, „er ist schon tot." Dann jedoch hellte sich sein Gesicht auf. „Moment mal! Samuel Stone sagte tatsächlich einmal etwas von einem Professor, den er wegen einer Erfindung anheuern wollte. Allerdings sagte er nichts davon, worum es sich handelte." „Wenn er jemanden anheuerte", bemerkte David, „muß er ihm doch einen Honorarscheck ausgeschrieben haben." Er wandte sich an die Witwe. „Hast du sein Scheckbuch?" „Das verwahrte er in einer Schublade im Schreibtisch seines Arbeitszimmers."

Alle stürmten sogleich in das Arbeitszimmer. Und da lag auch das Scheckbuch in der Schublade. Die Witwe nahm es und sah die Zahlungseinträge durch. „Da ist etwas. Ein Scheck auf fünfzigtausend Dollar für einen Professor Kevin Manning" „Das muß es sein", rief der Neffe. „Dieser Professor Manning kann uns sagen, wo sich die Formel befindet!" Die Witwe suchte bereits im Telefonbuch nach der Nummer des Professors. „Da ist sie, hier! Kevin Manning. Ich werde ihn gleich mal aufsuchen und euch dann mitteilen, was er zu sagen hat."

„O nein, das tust du nicht", sagte der Neffe. „Wir suchen ihn alle gemeinsam auf."

„Vertraut ihr mir etwa nicht?" fragte die Witwe scheinheilig. „Absolut nicht", erklärte der Anwalt.

Fünf Minuten später waren sie alle zusammen auf dem Weg zu Professor Manning.

Das Haus lag in einer heruntergekommenen Gegend und war klein und schäbig. Sie drängelten sich alle zur Haustür und klingelten. Aber niemand öffnete.

Wetten, daß er mit der Formel durchgebrannt ist?" sagte die Witwe. „Er hat uns unsere Milliarde Dollar gestohlen!" Der Neffe spähte durch ein Fenster in das Wohnzimmer. „Gehen wir einfach hinein", sagte er. „Vielleicht finden sich Hinweise."

„Das ist nicht erlaubt!" protestierte David.

„Ach, hören Sie doch auf mit Ihren ewigen Einwänden", sagte der Anwalt. „Er hat völlig recht. Schauen wir nach, ob sich etwas findet. Wir brechen einfach die Tür auf."

Doch das war nicht nötig. Zu ihrer Verwunderung entdeckten sie, daß die Tür überhaupt nicht verschlossen war.

Hintereinander gingen sie hinein in das Haus. Als sie zum Wohnzimmer kamen, blieben sie abrupt stehen wie angewurzelt. Mitten im Raum lag eine Leiche auf dem Boden. Mit einer Kugel im Kopf.

„O mein Gott!" sagte der Neffe. „Der Professor ist ermordet worden!"

Im ganzen Raum war alles drunter und drüber. Lampen, Stühle, Tische, alles war umgeworfen.

„Wer ihn umgebracht hat", sagte David, „suchte nach der Formel."

„Glauben Sie, er hat sie gefunden?" fragte die Witwe. David schüttelte den Kopf. „Weiß nicht. Jedenfalls ist hier gründlich gesucht worden." Er ging zu einem Schreibtisch, auf dem Papiere lagen, und sah sie kurz durch. Dann hielt er abrupt inne. „Seht mal!" sagte er. Er hielt einen Umschlag hoch, der an Samuel Stone adressiert war. „Den haben sie übersehen. Der Professor wollte ihn offensichtlich an Samuel Stone abschicken. Es könnte die Formel darin sein." „Machen Sie auf!" verlangte der Anwalt. Unter den Augen aller öffnete David den Umschlag. Es kamen Zeichnungen einer Maschine zum Vorschein und mathematische Gleichungen, die sie alle nicht verstanden. Aber dafür verstanden sie eines: Sie hielten eine Milliarde Dollar in der Hand.

„Unglaublich", sagte der Neffe. „Das ist eine Formel für Autos, die mit Wasser und Luft angetrieben werden. Wißt ihr, was das bedeutet? Es wird die ganze Welt revolutionieren!" Die Witwe lächelte. „Auf jeden Fall wird es meine Welt revolutionieren! Das ist nicht nur eine Milliarde wert, es ist Hunderte Milliarden wert. Die Welt ist nicht mehr auf Erdöl angewiesen. Mit dieser Formel betreiben wir Fabriken und Gesellschaften und Eisenbahnen und..." Sie war so aufgekratzt, daß sie sich hinsetzen mußte.

David sah auf den toten Professor am Boden. „Wir sollten jetzt die Polizei rufen", sagte er, „und ihr diesen Mord melden." „Augenblick", wandte der Anwalt ein. „Wenn wir die Polizei rufen, kommt sie und stellt uns endlose Fragen, und wir müssen über diese Formel Auskunft geben.

Entfernen wir uns lieber erst von hier. Wir können die Polizei ja dann von zu Hause aus anrufen."

„Ich finde das nicht richtig", sagte David.

„Das ist Ihr Problem", tat ihn der Anwalt ab. „Sie denken doch immer nur daran, was angeblich richtig ist."

Sie kehrten mit der magischen Formel ins Haus zurück, und es herrschte eitel Freude unter ihnen. Sie waren reicher, als sie es sich in ihren wildesten Vorstellungen hätten träumen lassen! David griff zum Telefon und rief bei der Polizei an. „Ich möchte einen Mord melden", sagte er.

Man verband ihn mit Inspektor Bandy, dem Leiter der Mordkommi ssion.

„Sie möchten einen Mord anzeigen?"

„Richtig", sagte David. Und er gab dem Inspektor die Adresse des Hauses von Professor Manning.

Nachdem er aufgelegt hatte, sagte er: „Jetzt fühle ich mich schon besser. Jetzt können sie anfangen, nach dem Mörder zu suchen."

Der Anwalt aber sagte: „Setzt euch mal alle hin. Wir müssen besprechen, wie es weitergehen soll." Er hielt den Umschlag mit der Formel. hoch. „Dies hier ist wahrhaft erderschütternd. Revolutionär eben. Und Mr. Stone hatte recht, es ist Milliarden wert. Alle Welt wird es uns abzujagen .versuchen. Die Ölgesellschaften speziell werden verrückt spielen. Und mit ihnen die arabischen Länder. Denn damit nehmen wir ihnen über Nacht ihre Existenz und das ganze Geschäft. Das erste, was wir deshalb tun müssen: Wir müssen die Formel patentieren lassen. Ich gehe gleich mal zum Patentamt und -" „0 nein, das tun Sie nicht", sagte der Neffe. „Wir gehen alle mit. Wir werden einander gegenseitig nicht mehr aus den Augen lassen."

David sah auf die Uhr. „Das Patentamt ist nicht mehr auf, aber wir können gleich morgen früh hingehen und die Formel anmelden."

„Nie hätte ich gedacht, daß ich noch einmal so reich werde", sagte die Witwe hingerissen. „Ich könnte ihn glatt küssen, den alten Samuel Stone!"

„Er ist doch tot", erinnerte sie der Anwalt.

Das Telefon klingelte. Es war für David. Inspektor Bandy war am Apparat.

„Waren Sie das, der einen Mord in der Elm Street 214 gemeldet hat?" „Ja, das stimmt."

„Und Sie sagten, Sie hätten die Leiche im Wohnzimmer dort entdeckt?"

„Ja."

„Was für ein schlechter Scherz soll das sein?"

„Wieso?" fragte David. „Ich verstehe nicht."

„Wir sind direkt in diesem Haus hier. Weit und breit ist keine Leiche."

Als David auflegte; sah er die anderen reihum an und sagte: „Da geht etwas Merkwürdiges vor." „Wovon reden Sie?"

„Das war die Polizei. Die Leiche ist verschwunden."

„Was soll das heißen?" fragte die Witwe.

„Das will ich euch sagen", erklärte David langsam. „Während wir dort waren, befand sich noch jemand anderer in dem Haus, und zwar vermutlich der Mörder des Professors. Und er hat gesehen, wie wir mit der Formel fortgingen."

„Du meinst, er folgte uns?" fragte der Neffe.

„Das vermute ich stark", sagte David.

Die Witwe starrte ihn an. „Willst du damit sagen, wir sind vielleicht in Lebensgefahr?"

David nickte. „Genau das will ich damit sagen."

Wie sich herausstellte, hatte David recht. Mitten in der Nacht hörten sie einen Einbrecher, der sich Zutritt ins Haus zu verschaffen suchte. Alle machten das Licht an, und da floh der Einbrecher. Aber sie hatten das sichere Gefühl, daß er wiederkommen werde. Sie versammelten sich im Wohnraum, um zu besprechen, was zu tun sei.

„Sie können nicht sicher sein, daß wir die Formel haben", sagte David. „Ich würde es deshalb für einen Fehler halten, wenn wir sofort zum Patentamt gingen. Wenn sie uns auf dem Weg dorthin sehen, bringen sie uns vermutlich um. Wir sollten uns lieber zuerst einmal ganz normal verhalten und solange, bis uns niemand mehr verdächtigt und mißtrauisch ist, die Formel einfach nur verwahren."

„Richtig", sagte die Witwe. „Da gehe ich morgen einfach nur zu einem Friseur und zum Einkaufen."

„Und ich in meinen Klub und trinke dort etwas", meinte der Neffe.

„Ich gehe einfach ins Büro wie normal", sagte der Anwalt. „Sie haben völlig recht; David. Wir dürfen nichts tun, was uns auffällig und verdächtig macht."

Am nächsten Morgen ging die Witwe zum Friseur und anschließend zum Einkaufen in ein großes Kaufhaus. Sie trat in einen Aufzug, in dem sonst niemand war, aber kurz bevor die Tür zuging, schlüpfte noch schnell ein großer Mann zu ihr mit hinein. Er war schon dabei, ein Messer aus der Tasche zu ziehen und es aufzuklappen, als noch mehrere Leute in den Aufzug drängten und die Witwe damit fürs erste in Sicherheit war.

Der Neffe war auf dem Weg zu seinem Klub und kam an einem Haus vorbei, von dem plötzlich jemand einen großen Stein auf ihn herabwarf. Weil er sich im selben Augenblick gebückt hatte, um ein vor ihm am Boden liegendes Geldstück aufzuheben, traf ihn der Stein nicht.

Der Anwalt überquerte eben die Straße, als ein Auto mit großer Geschwindigkeit auf ihn zukam. Er entging dem Überfahrenwerden nur knapp, weil er gerade noch rechtzeitig zurücksprang.

David geriet in keine solche Gefahr, weil er das Haus gar nicht erst verließ. Aber auch er wurde das Gefühl nicht los, daß sie alle miteinander in großer Gefahr schwebten. Die Leute, die die Formel an sich bringen wollten, hatten bereits einen Mord begangen, und für David war klar, daß sie darum .vor nichts zurückschreckten. Die reichen und mächtigen Ölgesellschaften standen vor dem sicheren Ruin, wenn die neue Formel erst einmal heraus war. Sämtliche Tankstellen der Welt mußten dann ja zusperren.

Das Abendessen an diesem Tag verlief sehr schweigsam. „Ich habe Angst", sagte die Witwe.

Sie hatten alle Angst, wollten es aber nicht eingestehen. Sie gingen früh zu Bett, konnten aber nicht einschlafen. Sie hörten Geräusche in der Nacht, schrieben sie aber ihrer Einbildung zu. Als sie am Morgen zum Frühstück hinunterkamen, sahen sie als erstes nach, ob der Safe, in den sie die Formel verschlossen hatten, noch unversehrt war. Aber alles war in Ordnung. Trotzdem beunruhigte David etwas. Wenn ich nur wüßte, was, dachte er. Er sah sich im Raum um und spürte, daß irgend etwas nicht stimmte. Dann plötzlich wußte er es. Verschiedene Dinge waren nicht an ihrem üblichen Platz. Eine Stehlampe war verschoben, ein Tisch verrückt worden. Es war also jemand im Haus gewesen! Die Geräusche, die er nachts gehört hatte, waren keine Einbildung! Aber warum kam jemand ins Haus und nahm doch nichts mit? Auch dafür wußte er mit einem Schlag die Antwort. Er ging zu der Stehlampe und nahm den Lampenschirm ab - und tatsächlich da sah er die „Wanze", das Abhörmikrophon. Und unter dem Tisch, der nicht mehr an seinem Platz war, fand er eine zweite. Die anderen sahen neugierig zu, was er da machte. „Was machst du da, David?" wollte der Neffe wissen. David richtete sich auf. „Ach, nichts", sagte er. Er legte den Finger auf den Mund und winkte sie in den Garten. „Was ist los?" fragte der Anwalt.

„Sie haben das Haus verwanzt", sagte David. „Sie hören alles mit, was gesagt wird. Würde mich nicht wundern, wenn auch versteckte Kameras installiert worden wären."

„Sie meinen, man beobachtet uns heimlich?" flüsterte der Neffe.

„Schon möglich", sagte David.

„O mein Gott", stöhnte die Witwe. „Sie bringen uns alle um!" „Ich hätte wissen müssen, daß dies eine Nummer zu groß für uns ist", sagte David. „Was wir hier in der Hand haben, bedeutet schließlich einen gewaltigen Einschnitt in das Gefüge der gesamten Weltwirtschaft. Lieber bringen sie uns um, als daß sie das zulassen."

„Wir könnten die Polizei einschalten", regte der Anwalt an. „Ach was, die sind viel mächtiger als die ganze Polizei. Haben Sie eine Vorstellung, wie groß diese Sache ist? Nein, wir müssen uns schon etwas anderes ausdenken." „Jedenfalls liefern wir ihnen die Formel auf keinen Fall aus!" erklärte die Witwe. Sie hatte doch keine Absicht, das ganze Geld wegzugeben, mit dem sie sich ihre schönen Kleider und eine Jacht und prächtige Häuser in Südfrankreich kaufen konnte!

„Absolut nicht!" pflichtete ihr der Neffe bei. Er gab doch nicht das ganze Geld auf, mit dem er sich schnelle Autos und schöne Frauen kaufen konnte!

„Völlig richtig!" sagte auch der Anwalt. Er gab doch nicht seinen Traum von dem großartigen Gebäude auf, mit dem er seine Mandanten beeindrucken konnte! David war der einzige, der sich nicht so sicher war. Auch er hätte zwar gerne das viele Geld gehabt, mit dem er dann den Armen und Obdachlosen hätte helfen können. Aber er fürchtete doch mehr das Risiko für ihrer aller Leib und Leben. Die Leute, mit denen sie es da zu tun hatten, waren zu mächtig, als daß sie ihnen hätten Einhalt gebieten können. Und sie waren auch ganz offensichtlich mit Nachdruck darauf aus, sich der Formel zu bemächtigen.

„Was machen wir jetzt?" fragte der Neffe. „Wenn das ganze Haus verwanzt ist, können sie doch jedes Wort mithören, das wir reden!"

Doch genau das gab David nun eine Idee ein. „Eben!" rief er. „Das ist es!"

„Das ist was?" fragte die Witwe.

„Ist doch ganz einfach", erläuterte David. „Nachdem sie alles mithören können, was wir sagen, sagen wir auch nur Sachen, die sie hören wollen."

„Was wollen wir sie denn hören lassen ?" fragte der Anwalt. „Daß wir die Formel gar nicht mehr haben!" „Aber wir haben sie doch!" sagte der Neffe. „Wir vernichten sie."

Alle starrten ihn ungläubig an. „Bist du verrückt?" „Natürlich nicht wirklich", erklärte David. „Wir tun nur so, als vernichteten wir sie. Dann lassen sie uns wieder in Ruhe." Alle sahen ihn bewundernd an.

„Großartige Idee!" sagte der Anwalt. „Aber wie machen wir es?"

„Ich bereite einen zweiten Umschlag vor", sagte David, „mit leeren Blättern darin. Dann gehen wir ins Haus und führen ein Gespräch, in dem wir so tun, als würden wir beschließen, die Formel lieber zu vernichten. Wir machen Feuer im Kamin und verbrennen diesen zweiten Umschlag darin. Dann denken sie, das Problem ist gelöst, und kümmern sich nicht mehr weiter um uns. Nach ein paar Tagen gehen wir zum Patentamt und melden die Formel an. Sobald das aber geschehen ist, ist es für sie zu spät, noch etwas zu unternehmen. Es hat dann keinen Sinn mehr, uns weiter zu verfolgen"

Die Witwe war so begeistert, daß sie David sogar umarmte und erklärte: „David, du bist ein Genie!"

„Und wann wollen wir es machen?" erkundigte sich der Neffe. „Gleich morgen früh als erstes", sagte David. „Aber jetzt sollten wir wieder hineingehen, damit sie hören können, was wir reden." „Richtig."

Und sie gingen wieder ins Haus hinein und begannen zu reden, aber alles war nur dafür gedacht, daß es die versteckten Abhörmikrophone auffingen.

David begann. „Wißt ihr", sagte er laut und deutlich, damit es auch wirklich mitgehört werden konnte, „ich habe über diese Sache mit der Formel nachgedacht. Sie ist viel zu gefährlich, als daß wir sie behalten sollten."

„Daran habe ich auch schon gedacht", sagte nun der Anwalt.

„Aber was können wir in der Sache tun?"

Der Neffe meldete sich. „Am besten verbrennen wir Sie."

Die Witwe bekräftigte dies. „Das ist eine gute Idee, finde ich."

„Gut, wir sind uns einig", stellte David laut fest. „Dann verbrennen wir die Formel gleich morgen früh."

„Richtig!" riefen sie alle im Chor.

„Jetzt ist mir bedeutend wohler", sagte David. „Danach brauchen wir uns keine Sorgen mehr zu machen."

Und sie blinzelten sich gegenseitig zu, weil sie die heimlichen Mithörer irregeführt hatten.

David gähnte sogar noch laut. „Na, dann will ich mal zu Bett gehen."

„Ich auch", sagte die Witwe. „Jetzt, wo klar ist, daß wir diese dumme Formel verbrennen, kann ich hoffentlich wieder ruhig schlafen."

Sie wünschten alle einander gute Nacht und begaben sich auf ihre Zimmer.

Alle außer David. Er huschte leise zu dem Schreibtisch und entnahm ihm einen Umschlag, der genauso aussah wie der mit der echten Formel darin. Er legte einige leere Blätter hinein und verschloß ihn. Morgen früh würden sie dann diesen falschen Umschlag verbrennen, den richtigen aber behalten. Als er mit diesen Vorbereitungen fertig war, ging auch er schlafen. Er träumte in dieser Nacht wild von einer ganzen Armee, die ihn mit Maschinengewehren angriff.

Am nächsten Morgen kamen sie alle nach unten zum Frühstück. David nickte zu der Stehlampe hin, um sie alle daran zu erinnern, daß der Raum verwanzt war.

„Ich fühle mich wirklich sehr erleichtert", sagte die Witwe, „daß wir diese Formel verbrennen."

„Ich auch", sagte der Neffe.

„Wir bringen es am besten gleich nach dem Frühstück hinter uns", erklärte David. „Ich wollte sowieso, wir hätten nie etwas von dieser Formel gehört." Aber natürlich meinte er das nicht wirklich. Vielmehr war er fasziniert von der Idee, eine. solche Riesenmenge Geld zu bekommen, die er an die Armen und Obdachlosen verteilen konnte.

Gemeinsam gingen sie nun nach ihrem Frühstück zu dem Safe, und David holte den echten Umschlag heraus. „Wir verbrennen ihn am besten im Kaminfeuer in der Bibliothek", sagte er laut. „Kommt!"

Sie zogen alle miteinander in die Bibliothek. David legte den Umschlag direkt neben den falschen, den er vorbereitet hatte. „Machen wir ein Feuer", verkündete er.

„Ich mache das", meldete sich der Neffe. Er holte Streichhölzer und entzündete das Holz im offenen Kamin. „So, das Feuer brennt jetzt schön", stellte David laut und deutlich fest, damit es die ungebetenen Mithörer auch wirklich gut verstanden.

In diesem Moment kam der Butler herein. „Entschuldigung, Sir", sagte er zu David, „aber da ist jemand, der Sie sprechen möchte."

„Wer?" fragte David. „Soviel ich verstanden habe, heißt er Bandy." Alle sahen sich erschrocken an und folgten David nach draußen. Der Butler sah hinter ihnen her und fragte sich, was der Polizeiinspektor wollen mochte. Er war schon dabei, wieder wegzugehen, als er die beiden direkt nebeneinander liegenden Umschläge auf dem Kaminsims entdeckte. Sie sahen völlig gleich aus. Nanu? dachte er und nahm sie, um sie genauer anzusehen. Sie schienen völlig gleich zu sein. Er legte sie achselzuckend wieder hin, doch vertauscht. Jetzt war die echte Formel links und der Umschlag mit den leeren Blättern rechts.

Nebenan sprachen die Erben mit Inspektor Bandy. „Wir haben die Leiche des Professors gefunden", sagte er. „Sie lag im Kofferraum des Autos. Wenn Sie bitte mitkommen möchten, um ihn zu identifizieren."

„Selbstverständlich", sagte David. „Geht es ein wenig später? Wir haben im Augenblick etwas sehr Wichtiges zu erledigen!" „Jederzeit, heute nachmittag." „Vielen Dank."

Sie warteten, bis der Inspektor wieder gegangen war, und kehrten dann hastig in die Bibliothek zurück, wo das Feuer im Kamin inzwischen prasselte.

„Gut!" erklärte David wieder laut und deutlich. „Also dann los. Wir verbrennen die Formel." Und er griff nach dem Umschlag, den er für den richtigen, also für den falschen hielt, und warf ihn in das Kaminfeuer.

Sie sahen zu, wie er verbrannte, und lächelten einander zu. „Da geht sie hin, die Formel!" rief die Witwe übertrieben laut. „Na und? Ist schließlich nur Geld!"

„Richtig." David lächelte. Er griff nach dem anderen Umschlag und machte ihn auf. Alle beobachteten ihn gespannt, als er die leeren Blätter herauszog.

Er wurde leichenblaß. „Um Gottes willen!" stammelte er. „Jetzt habe ich tatsächlich die echte Formel verbrannt!" Die Witwe fiel in Ohnmacht.

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