11. KAPITEL

Und wieder kam ein magischer Montag, an dem die Erben eine weitere Chance bekommen sollten, ein Vermögen zu gewinnen. Sie saßen alle auf der Terrasse und ergingen sich in Vermutungen über die Hinweise, die sie diesmal wohl bekommen würden.

„Ich hoffe, er macht es heute etwas einfacher", sagte die Witwe. „Einen so verschlagenen Menschen wie ihn gibt es kein zweites Mal."

„Das können Sie laut sagen", meinte der Anwalt. „Andererseits", gab David zu bedenken, „konnten wir bisher noch alle seine Rätsel lösen.".

„Das stimmt", pflichtete der Neffe bei und seufzte: „Wenn auch ein paar davon ganz schön verzwickt waren."

Der Butler näherte sich und kündigte der Witwe an: „Ein gewisser Mr. Popow möchte Sie sprechen."

„Kennt den einer von euch?" fragte die Witwe die anderen.

Alle verneinten kopfschüttelnd.

Der Butler sagte: „Er behauptet, er war ein Freund von Mr. Stone."

„Ja, sicher", erklärte der Neffe, „das sagen sie alle.

Wahrscheinlich ist er nur hinter etwas her."

„Schicken Sie ihn weg", sagte die Witwe.

„Sehr wohI, Madame", sagte der Butler und ging.

„Popow", überlegte der Anwalt, „das klingt russisch."

Der Neffe sah auf die Uhr und stand auf. „Kommt, es ist Zeit für Onkel Samuel."

Sie saßen, jeder auf seinem üblichen Platz, in der Bibliothek und warteten auf den Butler mit dem heutigen Videoband. Die Witwe haßte es, jede Woche das Gesicht ihres toten Mannes sehen und seine Stimme hören zu müssen, wenn auch nur vom Bildschirm. Sie hatte geglaubt, ihn endlich loszusein, als er gestorben war. Aber er hatte leider diesen Weg gefunden, noch aus dem Grab zu ihr zu sprechen.

Der Butler kam. „Haben Sie diesen Russen weggeschickt?" erkundigte sich die Witwe.

„Ja, Madame. Er war allerdings sehr hartnäckig. Er sagte, es sei sehr wichtig."

„Klar, für ihn vielleicht", brummte der Neffe und drängte den Butler: „Na los, machen Sie schon. Ich will hören, was er uns heute sagt."

„Sehr wohl, Sir." Der Butler ging zum Fernseher, schaltete ihn an und legte die neue Kassette in den Videorecorder. Im nächsten Augenblick erschien auch schon Samuel Stone auf dem Bildschirm.

„Da wären wir wieder. Wieder ein Montagvormittag. Ich hoffe sehr, daß euch das Auffinden des letzten Schatzes viel Mühe machte. Und ich hoffe auch sehr, daß ihr es heute gar nicht schafft." Er lachte böse.

„Du alter Geizkragen, du!" schimpfte die Witwe zum Bildschirm hin.

Als hätte er es wirklich gehört, zog Samuel Stone auf dem Bildschirm Stirnfalten, und die Witwe hatte das Gefühl, er werde sie gleich schlagen. Vielleicht war er ja gar nicht wirklich tot?

„Na, nun mach schon weiter mit den Hinweisen", brummte der Neffe ungeduldig. Er hoffte, das neue Rätsel vor den anderen zu lösen und dann das ganze Geld davon allein einzustreichen. Samuel Stone sagte: „Folgt der Goldenen Regel und seid ein gutes Ei. Es hilft zu einem gesunden Frühstück. Aber seid nicht hektisch wie die Rußfangkehrer!" Und weg war das Bild und der Bildschirm wieder dunkel. Die Witwe starrte noch einen Moment darauf und zeterte dann los: „Das ist alles? Das nennst du Hinweise, du elender, alter, böser Mensch? Wie kannst du es nur wagen, so mit mir umzugehen!"

„Beruhige dich!" sagte David. „Er hört es doch gar nicht!" „Nur schade, daß ich zu seinen Lebzeiten nicht gemeiner zu ihm gewesen bin!"

„Ach, du warst gemein genug", bemerkte der Neffe. David ging dazwischen. „Schluß jetzt, hört auf. Diese Streitereien führen zu gar nichts. Laßt das doch. Viel wichtiger ist, daß wir den Hinweis enträtseln."

„Was denn für einen Hinweis?" schrie ihn die Witwe an. „Seid ein gutes Ei? Eßt ein gesundes Frühstück? Was soll das bedeuten?"

Der Anwalt meinte: „Offensichtlich geht es um Eier."

Der Neffe rief aufgeregt: „Er hat irgendwas in irgendein Ei verpackt!"

„Das muß es sein!" sagte der Anwalt.

Sie rannten alle in die Küche. Die Witwe öffnete den Kühlschrank. Es waren zwei Kartons Eier darin, ein Dutzend in jedem. Sie zerrte sie heraus und stellte sie auf den Küchentisch. „Wie stellen wir fest, welches Ei?" fragte der Neffe. „Wir probieren sie einfach der Reihe nach aus!" entschied der Anwalt.

Sie sahen zu, wie die Witwe das erste Ei aufschlug. Es klatschte auf dem Tisch auseinander. „Nichts", sagte sie. „Es ist einfach nur ein Ei."

Sie versuchte das nächste. Dasselbe passierte. Eines nach dem anderen schlug sie sämtliche Eier auf. Als sie fertig war, schwamm die Küche in Eiern. Aber nirgends war das kleinste Anzeichen von einem Schatz.

„Also hat er uns wieder einmal an der Nase herumgeführt", sagte die Witwe. „In diesen Eiern ist gar nichts." „Reden wir doch drüben weiter", schlug David vor. Als sie wieder alle in der Bibliothek saßen, erklärte er: „Wir müssen uns diese Hinweise noch einmal genau ansehen. Er sagte: Folgt der Goldenen Regel, und er sagte: Seid nicht hektisch wie die Rußfangkehrer."

„Ja, aber was soll es bedeuten?" fragte der Neffe. „Golden.. ", sinnierte David. „Da, gibt es doch ein Märchen von einem Goldenen Ei?" Er dachte angestrengt nach. „Was für ein Ei kann ein Vermögen wert sein? Die einzigen besonders wertvollen Eier, die ich kenne, sind die FabergeEier " Sein Gesicht hellte sich auf. „Ja, das ist es! Seid nicht hektisch wie die Rußfangkehrer! Das könnte bedeuten: Rußland! Die Faberge-Eier stammen aus Rußland!" „Was ist das, ein Faberge-Ei?" fragte der Neffe. David erklärte es ihm. „Vor vielen Jahren, als in Rußland noch die Zaren regierten, schuf ein Goldschmied namens Faberge wunderschöne Schmuckeier aus Gold und Emaille und Edelsteinen."

„Und die sind soviel wert?" fragte die Witwe.

„Ein einziges dürfte heutzutage an die fünf Millionen Dollar wert sein."

„Und die stammen aus Rußland?" forschte der Neffe. „Ja."

„Großer Gott: der Mann, der hier war! Wie hieß er?" „Popow", sagte der Anwalt.

„Richtig. Popow. Sie haben doch gesagt, das sei ein, russischer Name?"

„Wahrscheinlich war er da, um uns dieses Ei zu bringen", stöhnte die Witwe. „Und ich schicke ihn weg!" „Wir müssen ihn finden!" sagte der Anwalt. „Aber wie?" fragte der Neffe.

Sie suchten in aller Eile den Butler. „Ist Mr. Popow schon weg?"

Die Witwe packte ihn am Arm. „Hat er etwas gesagt, wo er ist?"

„Er wollte zurück in sein Hotel."

„Ja, welches Hotel denn, sagen Sie schon!" rief der Neffe und schüttelte ihn unwillkürlich am Ärmel.

„Das sagte er nicht", antwortete der Butler.

„So viele Hotels gibt es in der Stadt nicht", erklärte der Anwalt. „Wir finden ihn schon."

Kurz danach suchten sie das Telefonbuch nach allen Hotels der Stadt durch und riefen sie der Reihe nach an. Im zehnten Hotel hatten sie Glück.

„Wohnt bei Ihnen ein Mr. Popow?" „Ja, das stimmt. Er ist nur gerade ..."

Aber da hatte der Neffe schon wieder aufgelegt. „Ich habe ihn! Er wohnt im Beverley Hilton!"

Alle rannten getrennt zu ihren Autos und fuhren los, um den anderen zuvorzukommen, in der Hoffnung, dann den Schatz für sich allein behalten zu können. Aber sie blieben alle im dichten Verkehr stecken.

Der Neffe kam schließlich als erster an, stürmte hinein zum Empfang und keuchte: „Ich möchte zu Mr. Popow." „Sind Sie der Herr, der vorhin angerufen hat?" „Ja."

„Ich habe es Ihnen noch zu sagen versucht, aber Sie hatten gleich aufgelegt. Mr. Popow ist schon abgereist." „Was? Sagten Sie abgereist?"

„Wie ich sagte, ja. Sein Gepäck wurde heruntergebracht, und er ist auf dem Weg zum Flughafen."

Die anderen waren gerade noch rechtzeitig ebenfalls angekommen, um diese letzte Antwort zu hören. Und schon waren sie ohne ein Wort wieder weg und rasten zum Flughafen.

Mr. Popow wollte gerade zu seinem Flugzeug gehen, als er über den Lautsprecher ausgerufen wurde. „Mr. Popow, melden Sie sich bitte an einem der weißen Telefone! Mr. Popow, bitte, gehen Sie zu einem der weißen Telefone!" Mr. Popow fragte sich, wer das wohl sein mochte. Er sah auf die Uhr. Er wollte sein Flugzeug nicht versäumen. Aber er ging dann doch zu einem der weißen Telefone und meldete sich. „Hier Popow."

Und eine Frau und drei Männer kamen plötzlich mit offenen Armen auf ihn zu.

„Mr. Popow", rief die Witwe aus, „ich bin hocherfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen!"

Popow legte den Hörer auf und war leicht verdutzt. „Wer sind Sie denn?" "

„Ich bin Mrs. Samuel Stone! Sie waren heute früh bei mir."

„Ja. Aber Ihr Butler hat mich hinausgeworfen."

„Dieser dumme Mensch! Wie konnte er das tun? Wo ich mich so auf Ihren Besuch gefreut habe!"

„Sie haben sich darauf gefreut?"

„Ja, sicher doch!" sagte die Witwe und hakte ihn unter.

„Moment mal", meldete sich der Neffe. „Möchtest du uns nicht vorstellen?"

Die Witwe seufzte. „Na gut. Also, das ist mein Neffe, dies ist unser Anwalt, und der da ist David."

„Sehr erfreut, die Herren", sagte Popow höflich. „Aber wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen. Mein Flugzeug wartet." Die Witwe war ganz erschlagen. „Flugzeug? Sie wollen uns verlassen? Aber nicht doch, wo wir uns gerade erst getroffen haben! Wir haben soviel miteinander zu bereden! Sie müssen bleiben!"

Popow wunderte sich. „Ja, aber ich habe doch mein Hotel schon verlassen und alles."

Jetzt tat der Neffe so, als könne er das gar nicht fassen. „Hotel? Sie haben in einem Hotel gewohnt und nicht bei uns? Aber wieso denn?"

„Ja, richtig!" kam ihm der Anwalt zu Hilfe. „Und heute abend sind Sie unser Gast bei einem guten Essen."

„Sehr freundlich von Ihnen", antwortete Popow. „Aber ich hatte eigentlich das Gefühl, daß Sie mich nicht sehen wollten."

„Aber Sie wissen ja gar nicht, wie froh wir sind, Sie bei uns zu haben!" sagte der Anwalt. „Ich lasse gleich mal Ihr Gepäck holen."

Zehn Minuten danach fuhren sie hintereinander her zum Haus zurück.

Das Abendessen war eine aufwendige Angelegenheit. Sie drängten Popow pausenlos zum Essen und Trinken, bis er fast platzte und halb betrunken war.

„Sie und mein Mann müssen sehr eng zueinander gestanden haben", vermutete die Witwe.

„Ja. Ich war sehr betrübt, von seinem Tod zu erfahren. Sobald ich es hörte, kam ich hierher. Ich hatte etwas zu überbringen, an dem ihm sehr gelegen war."

„Und ich glaube, ich weiß, was das ist", sagte die Witwe schelmisch. „Haben Sie es bei sich?" „Ja. In meinem Koffer."

„Holen Sie es doch herunter", schlug der Anwalt vor. „Möchten Sie es wirklich jetzt gleich sehen?" „Unbedingt!" sagte David.

Sie sahen Popow nach, wie er die Treppe hinauf nach oben ging.

„Na", sagte der Neffe, „das war nun wirklich eines der einfachsten Rätsel bisher. Ist uns direkt ins Haus gelaufen." „Ich kann es gar nicht mehr erwarten, bis ich das Ei sehe", sagte die Witwe.

Popow kam wieder. Er trug einen großen, in braunes Packpapier eingewickelten viereckigen Gegenstand.

„Merkwürdige Form für ein Ei", bemerkte David.

„Das ist es", sagte Popow. „Er war ganz verrückt danach."

Er riß das Verpackungspapier auf, und sie sahen sich einem Gemälde von einem Haus gegenüber.

„Was ist das denn?" fragte die Witwe.

„Eines meiner Bilder", sagte Popow. „Ich bin ein sehr guter Maler, müssen Sie wissen. Samuel Stone hat dieses Bild hier in Moskau gesehen und war ganz hingerissen davon. Sicher werden Sie es zu seinen Ehren und zum Gedenken an ihn kaufen wollen."

Es war ein grausam schlechtes Bild. „Und wo ist das Ei?" fragte der Anwalt. Popow war ratlos. „Was denn für ein Ei?" „Das Faberge-Ei!"

„Ach so! Ja, da meinen Sie meinen Bruder Iwan. Der hat es!" „Ihr Bruder hat das Ei?"

„Richtig. Samuel hat es ihm abgekauft." „Und wo ist Ihr Bruder?"

„Na, in Moskau. Aber was ist mit meinem Bild hier? Ich mache Ihnen auch einen sehr annehmbaren Preis."

„Raus hier!" schrie die Witwe. „Sie Betrüger! Sie Gauner!

Bevor wir Sie verhaften lassen!"

Popow war sehr irritiert.

„Wieso? Ich habe doch nichts verbrochen."

„Verschwinden Sie, bevor wir die Polizei holen!"

Die sind verrückt, dachte Popow.

Fünf Minuten danach war er fort.

„Na, da können wir das Ei ja wohl vergessen", meinte der Neffe.

„Stimmt", sagte die Witwe.

„Absolut", erklärte auch der Anwalt. „Es ist in Rußland. Hat gar keinen Zweck, wenn es irgendeiner dort aufspüren wollte." David hörte ihnen zu und wußte, woher der Wind wehte. Jeder war praktisch schon auf dem Weg nach Rußland!

Am nächsten Tag saßen sie alle in einem russischen Flugzeug nach Moskau. Sie waren einzeln zum Flughafen gekommen und hatten sich erst im Flugzeug getroffen. Jedem war es leicht peinlich, erwischt worden zu sein.

„Nun ja", sagte die Witwe zu David, „ich hatte eben noch einmal über alles nachgedacht und es mir dann anders überlegt."

„Genau wie ich", heuchelte der Neffe. „Ich meine, versuchen kann man es doch."

„Eben", sagte der Anwalt, „ganz meine Meinung. Wir haben ja nichts zu verlieren dabei."

Als sie landeten und durch die Einreisekontrolle waren, fuhren sie zu einem Hotel und begannen, im Telefonbuch nach Iwan Popow zu suchen.

Es gab mehrere.

Der erste, den sie aufsuchten, war ein Metzger. „Wir haben heute kein Fleisch", sagte er sofort.

„Wir wollen gar kein Fleisch", flüsterte der Neffe. „Wir wollen das Ei."

„Eier haben wir auch keine", sagte der Metzger. Danach fuhren sie zu einem Obstmarkt. Als sie hineingingen, sagte der Obsthändler sogleich: „Obst ist aus. Kommt morgen wieder."

„Wir wollen gar kein Obst", flüsterte diesmal die Witwe. „Wir wollen das Ei."

„Da müßt ihr zu einem Eierladen gehen. Aber die haben auch keine Eier."

Ihre nächste Station war ein Schuhgeschäft. „Keine Schuhe", sagte der Ladenbesitzer. „Schuhe sind aus."

Hier sagte David nun: „Wir sind eigentlich nicht wegen Schuhen hier. Sondern wir sind auf der Suche nach dem Ei."

„Sind Sie nicht gescheit? Seit wann kauft man Eier im Schuhgeschäft?"

Der Neffe konstatierte: „Sieht so aus, als wären wir mit unserem Latein am Ende. Das alles ist ein Schuß ins Blaue." „Eine Adresse ist immerhin noch übrig", sagte David. „Richtig", bestätigte der Anwalt.

Es war eine Buchhandlung, ein kleiner Laden in einer winzigen Seitenstraße. Draußen stand der Besitzername: Iwan Popow. Sie gingen hinein. Drinnen saß ein Hüne von Mann hinter der Ladentheke.

„Mr. Popow?" fragte David.

„Ja." Er musterte sie kurz. „Ihr seid wohl Amerikaner?" „Richtig", sagte die Witwe. „Und ich war mit Samuel Stone verheiratet."

Popows Miene hellte sich sofort auf. „Ah, da seid ihr wohl wegen des Faberge-Eies gekommen!" „Haben Sie es?" fragte der Anwalt.

„Gewiß doch. Ich bewahre es für meinen Freund Samuel auf. Er hat es bereits bezahlt. Ich sollte es behalten, bis er wiederkommt. Und keinem außer ihm persönlich geben. Wo ist er denn?"

„Tot ...", sagte die Witwe.

Aber da unterbrach David sie bereits hastig: „Todmüde, meint sie! Er erholt sich."

Die anderen sahen ihn verdutzt an.

„Dann sagen Sie ihm doch einen schönen Gruß", meinte Iwan Popow, „und daß ich ihn erwarte. Nur ihm persönlich händige ich es aus."

Die Witwe machte noch einen schwachen Versuch. „Das hat er gesagt?"

„Ja. Er befürchtete, man würde es ihm zu stehlen versuchen. Er sagte wörtlich: Bewahren Sie mir das Ei gut auf, bis ich komme und es mir hole."

Der Neffe sagte langsam: „Also, Sie würden es niemandem anderen geben?"

„Kommt nicht in Frage", sagte Iwan Popow. „Sagen Sie Samuel, er soll bald kommen. Ich kann es kaum erwarten, ihn wiederzusehen."

„Ja, gut, das sagen wir ihm", erklärte die Witwe schwach. Dann standen sie niedergeschlagen wieder draußen vor dem Laden und beratschlagten.

„Das wäre es dann wohl", sagte der Anwalt. „Jetzt können wir genausogut wieder heimfliegen."

David dachte nach. „Nicht unbedingt", sagte er dann. Er hatte sogleich wieder die allgemeine Aufmerksamkeit. „Was meinen Sie damit?"

„Ich habe da eine Idee", sagte David. „Wir treffen uns im Hotel wieder."

Und sie sahen ihm nach, wie er davonging, und fragten sich, was er wohl vorhatte.

Wären sie ihm gefolgt, hätten sie festgestellt, daß er in einen Laden für Theaterschminke und -masken ging. Er kaufte dort ein halbes Dutzend Artikel und kehrte anschließend ins Hotel zurück.

Die Witwe war dort bereits beim Packen zum Heimflug, als es an ihrer Tür klopfte. „Augenblick!" rief sie. .. Dann ging sie zur Tür und öffnete sie. Draußen stand der leibhaftige Samuel Stone und lächelte sie an. Sie kreischte auf. „Du .. du kannst doch nicht hier sein, du bist tot!" „Pst!" flüsterte David. Er trat rasch in ihr Zimmer und machte die Tür hinter sich zu. Die Witwe sah ihn mit offenem Mund an. Er war runtergerissen das Ebenbild ihres verstorbenen Ehemanns. Derselbe Schnurrbart, derselbe Kinnbart, dieselben Koteletten.

„Du siehst genau wie Samuel Stone aus", stammelte sie schließlich.

„Und wir beide gehen jetzt das Faberge-Ei holen", erklärte ihr David.

„Ja, glaubst du denn, du kannst Popow täuschen?" fragte die Witwe.

Eine halbe Stunde darauf betrat David erneut den Buchladen des Iwan Popow. Der stand auf und bekam vor Überraschung den Mund nicht mehr zu. „Samuel!" rief er schließlich. Und er umarmte ihn heftig.

David verstellte seine Stimme tiefer, so daß sie einigermaßen wie Samuel Stone klang. „Schön, dich wiederzusehen, mein lieber Iwan! Hast du das Ei noch?"

„Selbstverständlich, Samuel. Ich habe es die ganze Zeit für dich aufbewahrt, lieber Freund."

David sah zu, wie Popow zu einem kleinen Panzerschrank in der Ecke ging, ihn öffnete und ein wunderschönes Faberge-Ei herausholte, das über und über mit Edelsteinen besät war. „Hier ist es", sagte Popow. „Nimm es, es ist deines." David hielt das Ei bewundernd in der Hand. „Wirklich schön", sagte er. „Ich danke dir. Aber ich muß gleich wieder gehen, ich muß mein Flugzeug noch kriegen." „Komm bald wieder", sagte Popow. Die anderen warteten schon draußen.

„Hast du es?" fragte die Witwe begierig. David hielt es hoch. „Wunderschön!" rief die Witwe und hielt es selbst in der Hand. „Ich nehme es in Verwahrung."

David zögerte ein wenig, sagte aber dann: „Na gut, meinetwegen!"

Der Anwalt sah auf die Uhr. „Das nächste Flugzeug geht in einer Stunde. Wenn wir es noch kriegen wollen, müssen wir uns beeilen."

Als sie am Flughafen waren, sagte der Neffe: „Zeigt das Ei nur nicht her. Sie wollen hier solche Sachen nicht aus dem Land lassen."

„Keine Sorge", sagte die Witwe, „das mache ich schon. lch habe es in meinem Koffer verstaut."

Sie waren in solcher Eile zum Flughafen gefahren, daß David seine Samuel-Stone-Maske nicht mehr abschminken konnte. Als sie bei der Zollkontrolle waren, sah der Beamte den Paß der Witwe durch und stempelte ihn. Dann nahm er den Paß des Neffen und stempelte ihn ebenfalls. Dann sah er den Paß des Anwalts an und stempelte ihn. Dann sah er den Paß Davids an und dann David und wieder den Paß und erklärte: „Das ist nicht Ihr Paß."

„Aber selbstverständlich ist er das", sagte David. „Aber das ist nicht Ihr Foto. Das ist ein gestohlener Paß." Da wurde David plötzlich klar, was los war. Er lachte los. „Nein, nein, das bin ich schon. Hier meine Freunde bestätigen das und bürgen für mich."

Er wandte sich an die Witwe. „Sag ihm, wer ich bin."

Und die Witwe sagte: „Diesen Mann habe ich noch nie gesehen."

David war perplex. „Was redest du da, sag mal?" Und er wandte sich an den Neffen und den Anwalt. „Sagt dem Beamten, wer ich bin!"

Der Neffe sagte: „Ich kenne diesen Mann nicht." Der Anwalt sagte: „Nie gesehen." „Sie sind verhaftet", sagte der Beamte zu David. „Das könnt ihr mir doch nicht antun!" rief David.

Der Beamte trillerte auf seiner Pfeife; woraufhin sofort zwei Polizisten gerannt kamen. „Festhalten den Mann, bis der Chefinspektor kommt", sagte der Beamte und winkte die anderen drei weiter. „Sie können zu Ihrem Flugzeug gehen." „Danke sehr", flötete die Witwe. Sie und der Neffe und der Anwalt bestiegen ihr Flugzeug und waren sehr zufrieden. „Jetzt brauchen wir nicht mehr mit David zu teilen", sagte die Witwe, „und alles ist für uns drei." „Gut gemacht", lobte sie der Anwalt.

David wurde inzwischen in einen Raum eingesperrt. „Der Chefinspektor kommt gleich", beschied ihn einer der Polizisten.

Der Zollbeamte eilte inzwischen sehr zufrieden, einen Verbrecher geschnappt zu haben, in das Büro des Chefinspektors. Vielleicht werde ich dafür befördert, dachte er. Er zeigte dem Chefinspektor den Paß. „Sehen Sie her", sagte er, „dieser Mann versucht mit einem falschen Paß aus Rußland zu fliehen. Wahrscheinlich ist er ein gesuchter Schwerverbrecher!"

„Aha", sagte der Chefinspektor und stand auf. „Gute Arbeit." „Der Mann sieht völlig anders aus als auf diesem Paßfoto", sagte der Beamte. „Wie der glauben konnte, mir würde das nicht auffallen...!"

Sie begaben sich zu dem Raum, in den man David vorerst eingesperrt hatte. David saß auf einem Stuhl mit dem Rücken zu ihnen, als sie eintraten. Als er die Tür aufgehen hörte, drehte er sich um.

Der Zollbeamte stutzte und traute seinen Augen nicht. Davids gesamte Maske mit allen künstlichen Bärten und Haaren war weg.

„Wo ist denn der Mann?" „Welcher Mann?" fragte David.

Der Chefinspektor musterte Ihn eindringlich. „Ist das der Verbrecher", fragte er seinen Beamten, „den Sie. gefangen haben?"

„Nein... ich meine ja ... ich..."

Der Chefinspektor verglich den Paß mit David. „Sie sagten doch, er sieht überhaupt nicht aus wie auf dem Paßfoto? Aber er sieht doch genauso aus! Sind Sie nicht ganz klar im Kopf?" „Anscheinend", stammelte der Beamte.

Der Chefinspektor sagte zu David: „Rußland entschuldigt sich bei Ihnen."

„Danke", sagte David. „Ich hätte gerne mein Flugzeug noch erwischt."

„Kein Problem. Wir sorgen dafür, daß es auf Sie wartet." Zehn Minuten später sahen die Witwe, der Neffe und der Anwalt ungläubig, wie David noch zu ihnen ins Flugzeug stieg. Na schön, dachte die Witwe, dann kriegen wir ihn eben nächstes Mal.

Als sie wieder in Amerika waren, brachten sie das Faberge-Ei zu einem Kunsthändler und bekamen sechs Millionen Dollar dafür. Die Witwe stürzte sich mit ihrem Anteil sofort in einen Kaufrausch für Kleider und Pelze, der Neffe kaufte sich einen teuren Sportwagen und der Anwalt ein Bürogebäude. David aber spendete seinen Anteil für wohltätige Zwecke.

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