6. KAPITEL

Es war wieder Montag vormittag. Alle sahen inzwischen jedem Montag mit Spannung entgegen, fürchteten ihn zugleich aber auch. Gespannt waren sie, weil sie dann jedesmal einen neuen Hinweis über einen weiteren Teil des Vermögens von Samuel Stone erhielten. Und sie fürchteten ihn, weil sie dabei jedesmal Samuel Stone am Fernsehschirm über sich ergehen lassen mußten, wie er sie beschimpfte.

Sie saßen also wieder in der Bibliothek und warteten auf den Butler, daß er kam, die Videokassette einlegte und den Fernseher einschaltete.

„Ich hoffe", sagte die Witwe, „der Hinweis ist diese Woche leichter als letztes Mal."

„Na ja, immerhin haben wir die Briefmarke aufgestöbert", sagte der Neffe.

Der Rechtsanwalt grummelte: „Ja, sicher, aber dann hat uns David gezwungen, sie zurückzugeben."

„Deshalb habt ihr aber jetzt auch alle ein sehr viel besseres Gewissen, das weiß ich", sagte David, „weil ihr das Richtige getan habt."

Tatsächlich hatten sie alle keineswegs ein besseres Gewissen und das Gefühl, das Richtige getan zu haben.

Sie fühlten sich vielmehr alle ärmer als zuvor. Der Butler kam und hatte das neue Videoband bei sich.

„Sind Sie bereit?" fragte er.

„Ja."

„Gut."

Er legte die Videokassette ein und stellte den Fernseher an. Samuel Stones Kopf erschien ein weiteres Mal auf dem Bildschirm.

„Guten Morgen", sagte er. „Ich nehme an, es geht euch allen gut. Heute habe ich ein paar sehr interessante Hinweise für euch."

„Das möchten wir doch hoffen", murmelte der Neffe. „Diesmal schafft ihr es wahrscheinlich nicht. Hier kommt der erste Hinweis. Hat ihn jemand von euch gesehen, Yor heißt er?"

Alle sahen sich an. „Yor? Wer oder was ist Yor?"

Sie schüttelten automatisch den Kopf. Keiner wußte mit dem Wort Yor etwas anzufangen.

„Vielleicht finden wir etwas im Telefonbuch", sagte die Witwe.

„Versucht erst gar nicht, im Telefonbuch nachzusehen", sagte da bereits Samuel Stone vom Bildschirm. „Aber ist das nicht ein hübscher Name, Yor? Versucht doch mal, ihn zu singen. Aber ihr müßt ihn im richtigen Schlüssel singen." Der Rechtsanwalt räusperte sich und sang: „Yor ..:!" Die Witwe versuchte es mit höherer Stimme: „Yor...!" Und auch der Neffe sang: „Yor ... !"

Samuel Stone auf dem Bildschirm schüttelte den Kopf. „Das war ja eine scharfe Rasur. In einem Friseurladenquartett hättet ihr keine Chance damit." Er grinste. „Gut, das war das Ende der Hinweise. Viel Glück!" Der Bildschirm wurde dunkel. „Das Ende der Hinweise?" zeterte die Witwe. „Was denn für Hinweise?" fragte der Neffe. „Sollen wir etwa einen Sänger namens Yor suchen?"

David jedoch saß stumm da und blickte nachdenklich, drein. „Wartet!" sagte er. „Ich glaube, ich weiß, was der Hinweis bedeutet."

Alle drängten sich um ihn. „Gehen wir zurück zum Anfang. Was sagte er da? Hat ihn jemand gesehen, Yor heißt er." „Ja, und was bedeutet es?" wollte die Witwe wissen. „Wenn man die beiden Wörter >gesehen< und >Yor< zusammen spricht, und das schnell, was kommt dann heraus? Sehn-yor.

Senor! Das bedeutet >Mann< auf spanisch."

Alle sahen ihn verwundert an. „So, und jetzt gehen wir noch einen Schritt weiter", sagte David. „Er sagte, das könne man singen. Das könnte eine Oper bedeuten. Und er redete von einem Friseurladen, dazu kann man auch Barbier sagen. Und es gibt eine Oper Der Barbier von Sevilla. Sevilla liegt in Spanien, wo die Männer Senor heißen. Versteht ihr? Und da liegt der Schlüssel zum heutigen Schatz!"

„Das stimmt!" rief der Anwalt. „Danach müssen wir suchen.

Jemand in Sevilla, der Barbier heißt oder Barbiere vielleicht!

Und eben ein Mann ist, wegen dieses Wortes Senor."

Jetzt, da sie wieder ihre Spur zu haben glaubten, erfaßte sie sogleich die gleiche Geldgier wie jedesmal.

„Aber du könntest dich irren, David", gab die Witwe zu bedenken.

„Genau", sagte auch der Neffe. „Ich glaube nicht, daß es das ist."

„Und ich auch nicht", sagte der Anwalt. David lächelte in sich hinein. Er wußte genau, was als nächstes passieren würde. Alle würden schnellstens nach Sevilla eilen, um dort einen Mann namens Barbier oder Barbiere zu suchen.

David hatte völlig recht. Die Witwe, der Neffe und der Anwalt flogen noch am selben Abend und in verschiedenen Flugzeugen nach Spanien und versuchten einander gegenseitig zuvorzukommen. Auch David nahm ein Flugzeug. Wenn er den Schatz fand, wollte er ihn der Stiftung Samuel Stone zur Hilfe für die Armen vermachen.

Sevilla ist eine schöne spanische Stadt mit alten Bauwerken, Denkmälern und Kirchen, die schon aus dem zehnten Jahrhundert stammen. Es ist eine der schönsten Städte der Welt. Aber daran waren sie alle nicht interessiert, sondern nur an ihrer Schatzsuche.

Die Witwe kam als erste an. Sie schaute ins Telefonbuch. Dort gab es vier Personen mit dem Namen Barbiere. Sie beschloß, ihr Glück einfach der Reihe nach zu versuchen. Sie nahm ein Taxi zu der ersten Adresse, die sie im Telefonbuch gefunden hatte.

Sie erwies sich als Restaurant. Im Fenster hing ein Schild: „Bedienung gesucht." Sie ging hinein. Ein Mann mittleren Alters mit einer Schürze begrüßte sie. „Senor Barbiere?" fragte die Witwe. „Ja?"

Die Witwe wußte, daß sie vorsichtig sein mußte. Sie konnte also nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen und Fragen wegen eines Schatzes stellen.

„Sie sind wohl wegen der Stellung als Bedienung gekommen?" Die Witwe wollte schon sagen: „Selbstverständlich nicht!" Doch dann besann sie sich eines Besseren. Hier zu arbeiten wäre vielleicht die beste Gelegenheit, diesen Senor Barbiere näher kennenzulernen und ihm dann erst Fragen nach dem Schatz Samuel Stones zu stellen. Also sagte sie heuchlerisch: „Ja, deshalb bin ich hier." „Gut. Sie können gleich anfangen."

Die ersten Gäste trafen bereits in dem Restaurant ein, und die Tische füllten sich.

„Draußen in der Küche finden Sie Berufskleidung", sagte Senor Barbiere.

Die Witwe ging an die Arbeit als Bedienung. In ihrem ganzen Leben hatte sie so etwas noch nicht gemacht, und es gefiel ihr gar nicht. Die Gäste waren ungehobelt, und sie selbst brachte alle Bestellungen durcheinander und wurde dafür beschimpft und angeschrien. Noch ehe der Nachmittag vorbei war, hatte sie schreckliches Kopfweh.

Das halte ich nicht aus, dachte sie. Noch ein Tag als Kellnerin, und es bringt mich um.

Sie ging zu Senor Barbiere. „Hören Sie zu", sagte sie; „ich will ehrlich mit Ihnen sein. Ich bin in Wirklichkeit gar keine Kellnerin."

„Das habe ich von meinen Gästen schon zur Genüge gehört", sagte der Senor. „Und wer sind Sie dann?"

„Ich bin die Witwe von Samuel Stone. Er hat Ihnen einen Schlüssel zu einem Teil seines Vermögens anvertraut, und den will ich haben."

„Samuel Stone? Nie gehört."

Sie war beim falschen Senor Barbiere.

Der Anwalt kam am späten Nachmittag in Sevilla an. Er schaute ebenfalls im Telefonbuch nach und beschloß, es beim zweiten Senor Barbiere, der darin stand, zu versuchen. Die Adresse führte ihn zu einem Fitneßzentrum. Der Anwalt ging hinein und wurde von einem großen und kahlköpfigen Mann begrüßt.

„Sie möchten sich ein wenig ausarbeiten?" Der Rechtsanwalt hatte natürlich keine Absicht, sich auszuarbeiten, wollte den Senor Barbiere jedoch auch nicht mißtrauisch machen. Wenn ich ihm sage, ja, ich will mich ein wenig ausarbeiten, dachte er, dann kommt man sich ein wenig näher, und dann kann ich ihn auch nach Samuel Stone ausfragen. Also sagte er: „Ja, ich möchte mich gerne ein wenig ausarbeiten."

„Gut. Ziehen Sie sich aus. Dort hinten in dem Spind finden Sie Turnkleidung."

„Gut."

Der Anwalt zog sich um und ging dann in die große Turnhalle. Sie war voller Sportgeräte. Senor Barbiere suchte zwei große Hanteln aus und reichte sie ihm.

„Hier. Probieren Sie mal, ob Sie sie hochstemmen können." Aber sie waren derart schwer, daß sie den Anwalt fast zu Boden rissen.

„Aha", sagte Senor Barbiere und musterte ihn, „besonders in Form sind Sie also nicht. Das macht nichts. Wir kriegen Sie im Handumdrehen hin."

Den Rest des Nachmittags hatte der Anwalt Gelegenheit, sich auszuarbeiten mit Gewichtheben, Tretmühlenlaufen und Liegestützen, bis er total erschöpft war und ihm alle Muskeln weh taten, so daß er kaum noch stehen und gehen konnte. Endlich war es aus.

„Sehr gut", sagte Senor Barbiere, „also dann bis morgen früh um neun, da machen wir weiter."

Dem Anwalt war klar, daß er diese Tortur keine Minute mehr aushalten würde.

„Passen Sie auf", sagte er deshalb, „eigentlich bin ich gar nicht gekommen, um mich auszuarbeiten."

Senor Barbiere sah ihn verwundert an. „Ach nein? Ja, aber warum denn sonst ?"

„Ich wollte eigentlich mit Ihnen nur über Ihren alten Freund Samuel Stone reden." „Meinen alten Freund wer?" „Samuel Stone."

„Ich kenne keinen Samuel Stone."

Der Anwalt war am Boden zerstört. - Er war zum falschen Senor Barbiere gekommen!

Der Neffe kam als dritter in Sevilla an. Er suchte sich den dritten Senor Barbiere im Telefonbuch aus, und das führte ihn zu einer estanzia, einem Landgut, wo Stierkämpfer ausgebildet wurden.

Er betrat das Haupthaus und wurde von einem finster aussehenden Spanier begrüßt.

Buenos Dias", sagte der Mann. „Kann ich Ihnen helfen?" „Ja", sagte der Neffe. „Ich suche Senor Barbiere." „Ja. Wenn Sie mir folgen möchten."

Er führte den Neffen in ein großes Büro. Dort saß ein gutaussehender Mann am Schreibtisch.

„Senor Barbiere, der Herr hier möchte Sie sprechen."

Senor Barbiere stand auf und reichte dem Neffen die Hand.

„Guten Tag. Ich nehme an, Sie möchten auch Stierkämpferunterricht nehmen?"

Stierkämpferunterricht, der ist gut! dachte der Neffe. Das war so ziemlich das letzte auf der Welt, das ihn interessierte. Aber er wollte natürlich das Vertrauen dieses Senor Barbiere gewinnen, damit er ihn dann über das Vermögen Samuel Stones befragen konnte.

Und damit ich sein Vertrauen gewinne, dachte er, muß ich ihn näher kennenlernen, damit auch er mir vertraut. Und am Ende kann es nichts schaden, ein paar Stierkämpferstunden zu nehmen.

Also sagte er: „Ja, deshalb bin ich hier."

„Gut. Ich bin sicher, es wird Ihnen gefallen. Viele meiner Schüler haben später Preise gewonnen."

„Freut mich zu hören. Wann fangen wir an?"

„Wir können gleich anfangen. Kommen Sie, ich führe Sie hinaus zur Stierarena."

Sie gingen durch das Haus und hinten in den hellen Sonnenschein hinaus. Die Stierarena war riesengroß. Senor Barbiere führte den Neffen zu einem kleineren Haus. „Dort drinnen können Sie sich umziehen", sagte er, „und sich einen Stierkämpferanzug aussuchen."

Als der Neffe sich umgezogen hatte, kam er sich ziemlich albern vor. Er hatte schon Fotos von Stierkämpfern im Kino und im Fernsehen gesehen, aber nie daran gedacht, selbst einmal wie einer gekleidet zu sein.

Senor Barbiere musterte ihn und nickte beifällig.

„Sie sehen ganz gut aus", sagte er. „Also, dann wollen wir mal einen Stierkampf machen."

Der Neffe hatte erwartet, daß er es am Anfang höchstens mit einigen Stierkälbchen zu tun haben würde, mit harmlosen Tieren, denen er den Kopf tätscheln konnte. Statt dessen sah er sich gleich einem enormen Monstrum gegenüber, das ihn mit Leichtigkeit töten konnte. Panik überkam Ihn. So hatte er sich das nicht vorgestellt.

Der Bulle scharrte schnaubend in seinem Gatter und wartete nur darauf, in die große Arena zu stürmen. „Fertig?" fragte Senor Barbiere. „Ja ... Nein!"

Aber da wurde ihm schon das rote Tuch in die Hand gedrückt. „Keine Sorge. Beim erstenmal hat jeder Angst!" Senor Barbiere nickte jemandem zu, und der öffnete das Gatter. Der Bulle kam hereingestürmt.

„Einfach mit dem Tuch wedeln und dann beiseite treten!" „Kann ich nicht", sagte der Neffe. -' Da kam der Stier bereits auf ihn zugerast. „Hilfe!"

Senor Barbiere war an seiner Seite. Er griff sich das rote Tuch und zog es zur Seite. Der Bulle trampelte vorüber. „Sehen Sie, wie leicht es ist? Jetzt versuchen Sie es alleine." „Nein!" rief der Neffe.

Aber da kam der Stier bereits wieder angerannt. Der Neffe gab Fersengeld und flüchtete aus der Arena, so schnell er nur konnte.

Senor Barbiere kam ihm nach. „So geht es nicht!" schimpfte er. „Sie sind eine Schande für meine ganze Schule! Wer hat Ihnen nur eingeredet, Sie könnten. Stierkämpfer werden?" „Niemand", sagte der Neffe. „Eigentlich bin ich nur gekommen, um mich nach dem Vermögen meines Onkels zu erkundigen."

„Onkel? Was für ein Onkel?"

„Samuel Stone. Sie verwahren einen Schatz von ihm." „Ich? In meinem ganzen Leben habe ich noch nichts von einem Samuel Stone gehört."

Der Neffe war verblüfft. „Er hat Ihnen nie etwas von seinem Schatz erzählt?"

„Ich sagte doch gerade, ich kenne den Mann überhaupt nicht!" Der Neffe war geknickt. Er war beim falschen Senor Barbiere!

David kam als letzter in Sevilla an. Auch er schaute als erstes ins Telefonbuch und beschloß, mit dem letzten darin aufgeführten Senor Barbiere, dem vierten, zu beginnen.

Als er dort ankam, stellte er fest, daß es sich um einen Begleiter-Dienst handelte. Er ging hinein und befand sich vor einem sehr kleinen, fetten Mann.

„Ich möchte zu Senor Barbiere", sagte David.

Der Mann lächelte. „Der bin ich. Zu Ihren Diensten."

„Gut", sagte David. „Sie könnten mir eine große Hilfe sein."

„Dazu bin ich da", sagte Senor Barbiere. „Und Sie werden zufrieden sein. Was für ein Mädchen hätten Sie gerne als Begleiterin? Groß, klein, blond, dunkelhaarig?"

„Wovon reden Sie denn?" sagte David.

„Sie können mir schon glauben. Ich weiß, wovon ich rede.

Mein Begleiter-Service ist der beste ganz Spaniens. Unsere Mädchen stellen Sie zufrieden."

„Ich brauche kein Mädchen", sagte David.

Senor Barbiere nickte. „Ach so, verstehe. In diesem Falle haben wir auch junge Männer, die Sie sehr zufriedenstelIen werden."

„Moment", sagte David. „Sie verstehen mich völlig falsch. Ich suche weder Mädchen noch junge Männer, sondern hätte nur gerne eine Auskunft."

Senor Barbiere musterte ihn mißtrauisch. „Auskunft? Was für eine Art Auskunft?"

„Über Samuel Stone. Sie besitzen den Schlüssel zu einem Teil seines Vermögens."

„Wie, sagten Sie, war der Name?"

„Samuel Stone."

Senor Barbiere hob ratlos die Schultern hoch. „Nie von ihm gehört."

„Sind Sie sicher?" „Selbstverständlich."

Auch David war also auf der falschen Spur.

Sie trafen einander wieder auf dem Flughafen für den Rückflug nach Hause. Sie waren niedergeschlagen und gaben David die Schuld an allem.

„Du und deine Schlußfolgerungen!" fauchte die Witwe. „Alle sind wir den ganzen Weg nach Spanien umsonst gekommen! Mir fallen fast die Füße ab, so weh tun sie mir von dieser blöden Arbeit als Bedienung."

Der Anwalt sagte: „Und ich kann mich kaum noch rühren vor Muskelkater überall."

„Mich", sagte der Neffe, „hätte fast ein Stier umgebracht." „Es tut mir leid", sagte David. „Wir müssen uns wohl dieses Videoband noch einmal genau anhören." Sie waren alle wieder in der Bibliothek versammelt und sagten zum Butler: „Wenn Sie uns das letzte Videoband noch einmal vorspielen würden."

„Ich weiß nicht", wandte der Butler ein, „ob ich das tun kann. Mr. Stones Anweisungen an mich vor seinem Tod waren ausdrücklich, daß ich Ihnen nur jeden Montag jeweils ein Band vorspielen dürfe. Von einer wiederholten Abspielung sagte er nichts."

„Schon gut", sagte die Witwe. „Ich übernehme die volle Verantwortung."

„Na gut. Dann will ich die Videokassette mal holen." Sie warteten; daß er wiederkam.

Inzwischen fragte der Neffe: „Wozu eigentlich wollen wir es uns noch einmal anhören? Wir kennen es doch und wissen, was er sagt. Und was hat es uns eingebracht? Diese fruchtlose Jagd in Spanien."

„Wir könnten etwas überhört haben", meinte David. Der Butler kam zurück. Sie sahen zu, wie er das Videoband einlegte. „Also gut", sagte David dann. „Passen wir genau auf." Samuel Stone erschien auf dem Bildschirm. „Hat ihn jemand von euch gesehen, Yor ... Ist das nicht ein hübscher Name? Versucht doch mal, ihn zu singen. Aber ihr müßt ihn im richtigen Schlüssel singen. .. scharfe Rasur... Friseurladenquartett..."

Dann war das Band wieder zu Ende, und der Bildschirm wurde dunkel.

„So, und wozu war das nun gut?" raunzte die Witwe. „Wir sind genauso klug wie zuvor."

„Nein, eben nicht!" sagte David, der die ganze Zeit mit konzentriertem Gesicht dagesessen hatte. „Ich hab' s! Wir sind einer falschen Spur gefolgt!"

„Na, das wissen wir schon", sagte der Anwalt.

David erhob sich aufgeregt. „Er hat uns in die falsche Richtung gelenkt. Er wollte, daß wir denken sollen, aha, Oper, Barbier von Sevilla, und nach Spanien reisen. Aber der tatsächliche Hinweis ist dieser Ausdruck scharfe Rasur, versteht ihr? Wo bekommt man eine scharfe Rasur? Bei seinem Friseur, Barbier!

Wir müssen Samuel Stones Friseur suchen!" „Großartig!" rief der Rechtsanwalt und fragte die Witwe: „Wer war der Friseur Ihres Mannes?"

„Das weiß ich nicht", sagte die Witwe kopfschüttelnd.

„Na, aber irgend jemand muß es doch wissen!" Sie riefen den Butler herein.

„Wissen Sie, wo sich Mr. Stone die Haare schneiden ließ?" „Nein. Dorthin fuhr er immer allein. Und den Namen seines Barbiers hat er niemals erwähnt." Alle sahen sie sich frustriert an.

„Nun ja", meinte der Neffe, „darüber sollten wir uns vielleicht keine grauen Haare wachsen lassen. Das herauszufinden, dürfte wohl nicht allzuschwer sein. Ich will mal im Telefonbuch nachsehen."

„Da kommen wir mit", sagte die Witwe sogleich, weil sie natürlich nicht wollte, daß der Neffe irgendeinen Vorsprung gewann. Und so sahen sie alle zu, wie der Neffe das Telefonbuch an der Seite aufschlug, wo alle Friseurläden aufgeführt waren. Aber es waren volle drei Seiten, Hunderte von Namen.

„O Gott", sagte der Anwalt, „da finden wir den Richtigen nie." „Wir teilen sie uns auf", schlug David vor, „in vier Teile. Und jeder sucht seine Liste durch." „Gute Idee!"

Und jeder ging in ein separates Zimmer, wo Telefone standen.

„Moment noch, David!" rief die Witwe. „Wir brauchen noch eine Abmachung. Wer den Friseurladen findet, teilt den Schatz mit allen anderen, ja? Einverstanden?"

„Absolut", sagte der Neffe.

„Selbstverständlich", sagte der Anwalt.

„Ist mir recht", erklärte David.

„Und mir auch", fügte die Witwe hinzu.

Aber außer David logen sie wieder einmal alle. Denn jeder wollte den Schatz in Wirklichkeit nur für sich allein.

Sie begannen zu telefonieren, jeder in einem eigenen Raum. „Acme Friseursalon."

„Entschuldigung, war Samuel Stone Kunde bei Ihnen?" „Nein."

„Friseursalon Metropolitan."

„Verzeihung, aber hatten Sie vielleicht einen Kunden namens Samuel Stone?" „Bedaure, nein." „Salon Diamond."

„War ein gewisser Samuel Stone Ihr Kunde?"

Und so zu, die ganzen Adressen durch. Sie fragten in sämtlichen Friseursalons der Stadt nach. Aber ständig. war die Antwort die gleiche: Nein!

Bis dann ...

Der Neffe war bei seinem dreißigsten Telefonat und schon ganz mutlos.

„Friseursalon West Side"

„Sie hatten wohl auch nie einen Kunden namens Samuel Stone, wie?"

„Aber selbstverständlich doch! Der arme Mr. Stone! Wir kannten ihn alle gut."

Dem Neffen hüpfte vor Freude das Herz im Leibe. Er hatte ihn gefunden! „Vielen Dank auch!" sagte er. Er notierte sich die Adresse und steckte den Zettel in die Tasche. Er hatte keinerlei Absicht, die gute Nachricht mit den anderen zu teilen. Statt dessen schlich er sich heimlich zur Hintertür hinaus und zu seinem Auto.

Die Witwe sah, während sie unablässig telefonierte, zufällig zum Fenster hinaus und erblickte den Neffen, wie er gerade in sein Auto stieg. Holla! dachte sie und wußte sofort, was das zu bedeuten hatte. Der Neffe hatte den richtigen Barbier gefunden!

Sie eilte hinaus zu ihrem eigenen Auto, um ihn zu verfolgen. Auch sie hatte keine Absicht, den Schatz mit den anderen zu teilen.

Auch der Anwalt sah, während er telefonierte, wie die Witwe zu ihrem Auto rannte, und wußte ebenfalls sofort, was da vor sich ging. Und er verfolgte die Witwe.

Und schließlich sah auch David, wie sich der Anwalt heimlich davonmachte, und dachte: Aha, also sie haben herausgebracht, was es für ein Friseurladen ist. Und er verfolgte seinerseits den Anwalt.

Nacheinander kamen sie so vor dem Friseurladen an und eilten hinein.

„Wer ist der Chef hier?" fragte der Neffe gebieterisch.

Ein älterer, grauhaariger Mann sagte: „Das bin ich." „Haben Sie Samuel Stone bedient?"

Der Friseur lächelte. „Vierzig Jahre lang war ich sein Barbier." Er blickte auf, als die anderen drei nacheinander ebenfalls hereingestürmt kamen. „Ich habe sie alle schon erwartet", sagte er dann. „Mr. Stone gab mir einen Schlüssel, den ich für ihn aufbewahren sollte. Den sollte ich Ihnen aushändigen, wenn Sie kämen."

Er zog eine Schublade auf und entnahm ihr einen Schlüssel für ein Bankschließfach. Ein Schild hing daran: FIRST NATIONAL BANK.

„Geben Sie ihn mir!" verlangte die Witwe und streckte die Hand aus.

Aber der Neffe rief: „Ich war zuerst da!"

„Nicht so hastig", sagte der Anwalt. „Wir fahren alle zusammen hin." .

Und so geschah es.

Sie fuhren zur First National Bank, öffneten das Tresorschließfach und entnahmen ihm die darin liegenden Wertpapiere über zehn Millionen Dollar.

Sie teilten sie untereinander auf. Alle träumten sie wieder davon, was sie mit dem Geld alles anfangen würden. „Und was wollen Sie mit Ihrem Geld machen, David?" fragte die Witwe.

Aber sie wußten die Antwort ja schon alle. Der arme Narr gab erneut alles für die Wohltätigkeit.

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