3. KAPITEL

Samuel Stone hinterließ ein Vermögen von hundert Millionen Dollar. Aber er war ein böser, alter Mann, und statt sein Geld seinen Verwandten einfach zu vermachen, teilte er es in lauter einzelne Teilschätze auf, die er sie suchen ließ. In seinem Testament hatte er seiner Witwe, seinem Neffen und seinem Rechtsanwalt verkündet, daß sie während dieser Schatzsuche gemeinsam in seinem Haus wohnen müßten. Das tat er, weil er ein Sadist war und genau wußte, daß seine Erben einander haßten. Die einzige weitere Person, die noch dazukam, war ein anständiger, junger Mann; der eine Wohltätigkeitsstiftung für die Armen verwaltete, der er den Namen Samuel Stone gegeben hatte.

Jeden Montag versammelten sie sich in der Bibliothek, und dort wurden das Fernsehgerät und der Videorecorder eingeschaltet, und es erschien Samuel Stone auf dem Bildschirm.

„Ich hoffe, ihr habt den letzten Schatz nicht gefunden", sagte er diesmal. „Keiner von euch verdient auch nur einen Teil von meinem Geld. Zu schade, daß ich es nicht mitnehmen konnte. Hätte es nur die kleinste Möglichkeit dafür gegeben, ich hätte sie wahrgenommen."

Sie horchten alle angespannt zu und wandten kein Auge vom Bildschirm.

„So", sagte er, „jetzt also zum dritten Hinweis. Ich bin ein Selfmademan. Ich bin nicht reich geworden, weil ich Bücher las. Wettet nicht auf die Büchermacher für eure Information und Aufklärung."

Und schon war er vom Bildschirm verschwunden. Sie starrten einander betreten an.

„Was ist jetzt das wieder für ein sogenannter Hinweis?" schimpfte die Witwe gleich. „Er hat doch praktisch nichts gesagt."

„Vielleicht erwartet er, daß wir wieder zur Schule gehen", sagte der Neffe.

„Selbstverständlich hat er eben dies nicht gemeint", wandte der Anwalt ein.

„Ja, aber was hat er denn gemeint?" fragte die Witwe. „Wettet nicht auf die Büchermacher. Wer, bitte schön, wettet denn auf Bücher?"

„Wartet!" rief David. „Ich glaube, das ist der Hinweis." „Wieso?"

„Wettet nicht auf die Büchermacher. Das könnte Buchmacher bedeuten."

Die Witwe war ratlos. „Was ist das, ein Buchmacher?" Das konnte der Neffe, der ein fanatischer Spieler war, sofort erklären. „Ein Buchmacher, das ist einer, der Wetten auf Pferde oder auf Fußball oder sonst einen Sport annimmt. Ja, ich denke auch, daß er Buchmacher meinte. War Onkel Samuel vielleicht selbst Spieler?"

Der Anwalt nickte. „O ja, er pflegte beträchtliche Summen zu wetten."

„Dann muß es das sein!" sagte die Witwe. „Irgendein Buchmacher muß der Schlüssel für die Schatzsuche diesmal sein."

Der Anwalt war der einzige, der den Namen des Buchmachers von Samuel Stone kannte. Er stand auf und sagte: „Tja, ich glaube, ich gehe nach oben und lege mich ein Weilchen hin." „O nein, das tun Sie nicht!" sagten alle anderen sofort. „Sie sind derjenige, der weiß, wo er seine Wetten plazierte. Wir wollen den Namen dieses Mannes wissen. Wir haben hier alle zusammen die gleichen Interessen."

Der Anwalt seufzte. „Also gut. Aber ich muß euch warnen. Die Leute, die Wetten annehmen, sind alle wenig reputierliche Leute. Sie können ganz schön grob und unangenehm werden.

Man muß sehr vorsichtig mit ihnen umgehen."

„Schon gut, schon gut", sagte die Witwe. „Also, bei wem hat Samuel seine Wetten plaziert?"

„Bei Tony Carnera"

Das Buchmachergeschäft von Tony Carnera befand sich in einem kleinen Gebäude im Stadtzentrum. Der einzige Eingang führte vorbei an Leibwächtern, die zuerst jeden nach Waffen durchsuchten. Denn Carnera war ein Gangster. Er war das Oberhaupt der meisten Verbrechercliquen in der Stadt, und er hatte den Ruf eines Killers. Alle fürchteten sich vor ihm. Er war deshalb überaus verwundert, als ihn am nächsten Vormittag ein Rechtsanwalt aufsuchte und erklärte: „Mr. Carnera, ich vertrete den verstorbenen Samuel Stone. Soviel ich weiß, hat er häufig Wetten bei Ihnen abgeschlossen." „Ja und?"

„Nun, ich dachte, Sie und ich könnten vielleicht ein wenig ins Geschäft kommen."

„Was denn für ein Geschäft?"

„Sehen Sie, Mr. Carnera", sagte der Anwalt vorsichtig, „Sie wissen so gut wie ich, daß Mr. Stone einen bestimmten Schatz bei Ihnen deponiert hat. Er gehört seiner Familie, und diese möchte ihn nun haben."

Tony Carnera entgegnete ihm kühl: „Ich weiß nicht, wovon Sie reden."

„Oh, ich bin ganz sicher, Sie wissen es sehr gut. Es ist ein äußerst wertvoller Schatz." Er überreichte dem Gangster seine Visitenkarte. „Überlegen Sie es sich, und rufen Sie mich dann an. Ich will zusehen, daß Sie einen anständigen Anteil davon bekommen."

Und damit ging er.

Carnera blickte nachdenklich auf die Visitenkarte des Anwalts und fragte sich, was denn da wohl vorging.

Eine Stunde später tauchte der Neffe auf.

„Guten Morgen, Mr. Carnera." Er sah sich um. „Was Sie für ein schönes Büro haben!"

„Ist schon recht. Was Wünschen Sie?"

„Nach meinen Informationen hat mein Onkel ziemlich häufig bei Ihnen gewettet."

„Na und? Er ist gestorben."

„Eben. Aber sein Geld ist noch da. Sie müssen wissen, er hat eine ziemliche Menge davon hinterlassen. Und er hat es uns zugedacht."

„Und was wollen Sie da bei mir?"

„Nun, er hat einen Hinweis hinterlassen, der auf Sie verweist.

Wir glauben, daß Sie einen wertvollen Schatz von ihm in Verwahrung haben, und den wollen wir."

Carnera aber schüttelte den Kopf. „Davon weiß ich nichts. Ich habe nichts mit irgendeinem Schatz zu tun."

„Ich glaube, doch. Wenn Sie klug sind, übergeben Sie ihn uns.

Ich will auch dafür sorgen, daß Sie eine Belohnung bekommen." Er schrieb seine Telefonnummer auf einen Zettel und reichte diesen dem Gangster hin. „Ich hoffe, von Ihnen zu hören."

Keine halbe Stunde später erschien auch David bei Tony Carnera.

„Sie kommen wohl auch wegen dieses Schatzes?" fragte Carnera.

„In der Tat, ja", sagte David. „So verhält es sich. Ich habe mich überall umgehört und umgesehen, und der einzige Buchmacher, zu dem Samuel Stone ging, waren Sie. Er hat einen Hinweis darauf hinterlassen, daß Sie etwas mit diesem Schatz zu tun haben."

Der Gangster Carnera hatte inzwischen längst begriffen, daß da offenbar irgendwo sehr viel Geld lag, und er wollte seinen Anteil daran haben. Deshalb sagte er diesmal vorsichtig: „Na ja, könnte schon sein, daß ich etwas von diesem Schatz weiß. Was schaut denn für mich dabei heraus, wenn ich ihn ausliefere?"

„Von mir bekommen Sie zehn Prozent", sagte David. Tony Carnera verkniff es sich, laut herauszuprusten. Zehn Prozent, was dachte der Mann sich? Er wollte ohnehin in Wirklichkeit alles haben.

„Na gut", sagte er, „geben Sie mir etwas Bedenkzeit. Ich melde mich bei Ihnen."

David ließ ebenfalls seine Visitenkarte da.

Als er fort war, überlegte sich Tony Carnera: Der alte verrückte Geizkragen Stone hat also einen Haufen Geld hinterlassen. Na, da will ich mal dafür sorgen, daß ich es für mich allein in die Finger bekomme. Zum Teufel mit diesen anderen!

Einer seiner Leibwächter kam herein und sagte: „Da ist eine Frau Stone draußen, die zu dir will."

Carnera blieb erst noch eine Weile nachdenklich sitzen. Aha, dachte er, also auch seine Witwe kommt her. Na, die wird ja wohl wissen, wo der Schatz ist. „Laß sie herein", sagte er.

Die Witwe kam hereingestelzt. Sie war jung und hübsch und hatte eine gute Figur. Sie war früher Nachtclubtänzerin gewesen, als Stripperin. Dort hatte Samuel Stone sie auch kennengelernt. Er hatte sich in ihren schönen Körper verliebt und sie sich in sein Geld. So wurde es eine perfekte Ehe. „Ich bin Mrs. Samuel Stone", stellte sie sich vor.

Er musterte sie anerkennend. „Sehr erfreut, Sie kennenzulernen, Mrs. Stone."

„Meines Wissens standen Sie in Geschäftsbeziehungen zu meinem Mann."

„Das kann man wohl sagen."

„Ich habe Anlaß, zu glauben, daß Sie wahrscheinlich wissen, wo sich ein Teil seines Vermögens befindet... das ja jetzt mir gehört."

Und da hatte Tony Carnera eine blendende Idee. „Das trifft tatsächlich zu", sagte er.

„Wußte ich es doch!" rief die Witwe. „Wo ist es ?"

„Ich führe Sie gerne hin", sagte Carnera.

„Ist es irgendwo vergraben?"

„In gewisser Weise, ja."

„Können wir jetzt gleich dorthin?"

„Selbstverständlich. Ich hole nur noch meinen Mantel, dann fahren wir gleich los."

Eine halbe Stunde später fuhren sie an der Küste von New Jersey entlang. Es war eine sehr abgelegene und einsame Gegend mit nur ein paar vereinzelten Autos und sonst keiner Menschenseele weit und breit.

„Ist es noch weit?" fragte die Witwe.

„Nein", sagte Carnera. „Wir sind gleich da."

Hinten im Wagen saßen seine beiden Leibwächter. Tony Carnera hatte ihnen seinen Plan bereits erklärt, und sie fanden ihn großartig. Ihr Boß, dachten sie, war so raffiniert!

Sie kamen zu einem Haus an einem einsamen Strand, und Carnera sagte: „Hier ist es."

„Da drinnen ist der Schatz?" fragte die Witwe aufgeregt. „Ja."

Sie gingen alle vier in das Haus hinein, die Witwe, Tony Carnera und seine beiden Leibwächter. Die Witwe sah sich ungeduldig um. „Wo ist er, der Schatz?"

Tony Carnera musterte sie eindringlich: „Ich stehe davor." „Was?"

„Sie sind der Schatz, Schwester." „Was soll das denn heißen?"

„Es soll heißen, wenn da so eine Menge Geld in der Gegend herumschwirrt, dann wird es ja wohl jemanden geben, der bereit ist, ein Vermögen zu bezahlen, um Sie zurückzuerhalten. Sie sind soeben entführt worden."

Die Witwe wurde blaß. „Entführt? Das können Sie doch nicht machen!"

„Ich habe es gerade getan. Sie bleiben hier, bis die anderen eine Million Dollar Lösegeld für Sie bezahlen. Für die Familie Stone ist eine Million doch ein Klacks." Und er befahl seinen Leibwächtern: „Fesselt sie!"

Die Witwe begann zu schreien und sich zu wehren, aber das war natürlich sinnlos. Im Handumdrehen war sie an einen Stuhl gefesselt.

„Sie bleiben hier, bis das Geld da ist", sagte Carnera. Er kicherte. „Ich habe den Schatz ja gefunden, nicht wahr?"

Früh am nächsten Morgen wurde im Hause Stone eine Nachricht abgegeben. Sie lautete: „An den, der dafür zuständig ist. Samuel Stones Witwe ist gekidnappt worden und in unserer Hand. Wenn Sie sie lebendig wiederhaben wollen, müssen Sie ein Lösegeld von einer Million Dollar in kleinen, nicht gekennzeichneten Banknoten bezahlen. Sie werden um I3 Uhr angerufen und instruiert, wie die Geldübergabe zu erfolgen hat."

Der Neffe öffnete den Brief und las ihn dreimal durch. Er konnte es kaum glauben. Seine angeheiratete Tante war entführt worden! Das bedeutete, sie war aus dem Weg! Jetzt brauchten sie den Schatz nicht mehr mit ihr zu teilen!

Er sagte den anderen nichts von dem Brief. Am Ende waren sie noch närrisch genug und versuchten, sie tatsächlich loszukaufen! Es gelang ihm, es so einzurichten, daß er am Telefon war, als es um ein Uhr mittags klingelte. Er hob ab und sagte: „Hallo?"

Eine rauhe Stimme sagte: „Ist dort das Haus von Samuel Stone?"

„Ja."

„Haben Sie den Brief bekommen?"

„Ja."

„Sind Sie bereit zu zahlen?"

„Nein", sagte der Neffe.

Die Stimme am Telefon klang sehr verwundert.

„Was?"

„Sie haben es gehört", sagte der Neffe. „Behalten Sie sie!" Und er legte auf und lachte laut. „Wer war das?"

Der Neffe blickte überrascht hoch. Der Anwalt stand da und sah ihn an. So etwas Dummes, dachte der Neffe. Jetzt muß ich ihm wohl sagen, daß die Witwe entführt worden ist, und dann wird er vermutlich das Lösegeld bezahlen wollen. „Ich habe schlimme Nachrichten", sagte er. „Jemand hat die Witwe entführt!"

Der Anwalt lächelte erfreut. „Das ist eine wundervolle Neuigkeit! Das bedeutet, wir können den Schatz suchen und heben und brauchen ihr keinen Anteil abzugeben!" „Natürlich!" rief der Neffe voller Freude. „Sehr richtig! Und alles gehört dann uns!"

Aber der Anwalt sagte: „Es ist besser, wenn wir David nichts davon sagen.. Der ist so ein sentimentaler Narr, daß er bestimmt das Lösegeld zahlen und sie retten will."

In dem einsamen Strandhaus sagte die Witwe zu Tony Carnera: „Was soll das heißen, man will das Lösegeld für mich nicht bezahlen? Das ist doch lächerlich!" „Keine Bange", sagte Carnera, „die zahlen schon." „Meinen Sie?"

„Aber ja. Ich schicke ihnen einen von Ihren Fingern und dann eines Ihrer Ohren. Die erhalten sie nach und nach, Stück für Stück, bis sie mit dem Geld rüberkommen" Die Witwe war schockiert. „Das können Sie doch nicht tun!" Der Gangster kam zu ihr. Sie war noch immer an den Stuhl gefesselt. „Wer sagt, ich kann nicht? Ich gebe denen eine Woche, die Million Dollar herauszurücken. Wenn sie es nicht tun, befasse ich mich näher mit Ihnen."

„Sie werden nicht wagen, mir etwas anzutun! Ich bin die Witwe von Samuel Stone!"

„Wenn das Geld nicht kommt", sagte Tony Carnera ungerührt, „sind Sie bald wieder mit ihm vereint."

Carnera telefonierte noch einmal. Dieses Mal war der Anwalt am Apparat. „Ist dort das Haus von Samuel Stone?"

„Ja."

„Hören Sie gut zu. Wir haben seine Witwe, und wenn Sie sie jemals lebend wiedersehen wollen, dann bezahlen Sie gefälligst eine Million Dollar. Ich gebe Ihnen sieben Tage Zeit." „Aha. Wer spricht denn da?"

„Das werde ich Ihnen gerade sagen, Sie Schlauberger. Bezahlen Sie oder nicht?"

„Aber selbstverständlich", log der Anwalt. Er hatte natürlich in Wirklichkeit keine Absicht, auch nur einen Dollar zu bezahlen. „Ich brauche nur etwas Zeit, das Geld zusammenzubekommen."

„Mehr als eine Woche Zeit haben Sie nicht. Denken Sie daran."

Der Anwalt legte auf und lächelte durchtrieben. Er hatte eine Woche lang Zeit, den jetzigen Schatz aufzufinden. Danach konnten sie seinetwegen mit der Witwe machen, was sie wollten.

Einer der Leibwächter hielt sich in dem Raum auf, in dem die Witwe an den Stuhl gefesselt war. Er betrachtete sie. Sie war sehr hübsch, und er mochte hübsche Frauen. Aber er wollte ihr auch nicht angst machen.

„Niemand tut Ihnen etwas", beruhigte er sie. „Sie brauchen sich nicht zu fürchten."

„Fürchten?" blaffte sie ihn an. „Ich mich? Vor euch? Ihr seid doch alle nur ein Haufen jämmerlicher Amateure!" „Wie meinen Sie das?"

„Wie stellen Sie sich das vor, mich eine Woche lang an diesen Stuhl gefesselt zu halten? Binden Sie mich los, damit ich mich bewegen kann."

„Das kann ich leider nicht tun, Lady."

„Sollten Sie aber lieber. Ich muß mal."

„Na gut, meinetwegen." Er band sie los.

Die Witwe stand auf, rieb sich Arme und Beine und versuchte, ihren Blutkreislauf wieder in Gang zu bringen. „Ihr Gangsterbande!" schimpfte sie.

Er beobachtete sie, wie sie im Bad verschwand. Als sie nach zehn Minuten wieder herauskam, sagte sie: „Außerdem bin ich hungrig. Was habt ihr zu essen da?"

„Auf dem Regal stehen ein paar Konservendosen."

„Konservendosen? Bei Ihnen piept's wohl? Ich esse doch keine Konserven! Ich will Kaviar und Champagner!"

„So was haben wir hier nicht." „Dann soll es einer kaufen!"

Der Wächter wußte nicht, wie er sich verhalten sollte. Er rief Carnera an. „Unser Gast will Kaviar und Champagner haben."

Tony Carnera dachte kurz nach. „Meinetwegen. Besorgt es ihr. Wenn sie zufrieden ist, macht sie um so weniger Schwierigkeiten."

Nach einer Stunde kamen Kaviar und Champagner. „Da ist das Zeug", sagte der Wärter. „Guten Appetit."

„Das ist doch kein anständiger Kaviar!" schimpfte die Witwe.

„Und der Champagner ist nicht der richtige Jahrgang! Aber ich habe es mir sowieso anders überlegt. Ich will ein Steak."

Einer der beiden Wächter holte also ein Steak. Als es kam, mäkelte die Witwe, daß es viel zu durchgebraten sei, und verlangte statt dessen ein Brathühnchen.

Allmählich begann sie den Wächtern auf die Nerven zu gehen.

David war beunruhigt, daß er die Witwe den ganzen Tag und auch abends nicht im Haus sah. Samuel Stones Testament hatte schließlich bestimmt, daß sie alle zusammen in seinem Haus wohnen mußten.

„Wo ist die Witwe?" fragte er.

Neffe und Anwalt sahen einander an.

„Also was? Wo ist sie?"

„Man hat sie entführt", gestand der Neffe schließlich.

„Was?"

„Ja. Wir haben eine Lösegeldforderung in Höhe von einer Million Dollar erhalten."

„Das ist ja entsetzlich!" sagte David. „Sie zahlen natürlich, nicht?"

„Selbstverständlich", log der Anwalt. „Man hat uns eine Woche Zeit dafür gelassen."

Der Neffe sah ihn ungläubig an und wollte ihn schon verbessern, doch dann. begriff er rechtzeitig die Absicht des Anwalts. Nach einer Woche war die Witwe tot, und der Schatz gehörte ihnen.

„Sollten wir nicht die Polizei einschalten ?" fragte David.

„Nicht doch!" riefen die beiden anderen wie aus einem Mund. „Das ist das letzte, was wir tun sollten."

Am nächsten Morgen sagte die Witwe in dem Strandhaus: „Ihr erwartet doch nicht etwa, daß ich ständig diesen alten Fetzen von Kleid hier trage? Ich will etwas Hübsches zum Anziehen haben."

„Wir können Ihnen doch keine Kleider aus Ihrem Haus holen", sagte der eine Wächter, „dann erfahren die, wo Sie sind." „Dann kauft mir neue Kleider!" fauchte ihn die Witwe an. Der Wächter telefonierte wieder mit Tony Carnera. „Entschuldigung, Boß, wenn ich mich schon wieder melde", sagte er. „Aber jetzt will sie neue Kleider." Carnera sagte: „Was glaubt die eigentlich, wer sie ist? Schließlich ist sie unsere Gefangene!" „Aber sie führt sich furchtbar auf."

„Na, also gut, meinetwegen. Laß dir ihre Größe sagen, und dann schicke ich jemanden, ein paar Kleider für sie zu kaufen." Zwei Stunden später kam der zweite Leibwächter mit einigen Kleidern. „Da", sagte er.

„Die haben die falsche Farbe!" beschwerte sich die Witwe. „Die könnt ihr gleich wieder zurückbringen. Ich will Sachen in Blau, in einem schönen Blaßblau, und dazu passende Schuhe!" Die beiden Leibwächter blickten einander stumm an. „Jawohl, Madame."

David machte sich zunehmend Sorgen um die Witwe. Drei Tage waren nun schon vergangen, und kein weiteres Wort war von den Kidnappern gekommen. Er dachte immer noch über den Hinweis von Samuel Stone nach: Wettet nicht auf die Büchermacher für eure Information und Aufklärung. Vielleicht hatte das mit den Büchermachern doch noch eine andere Bedeutung als Buchmacher? Allerdings, die Tatsache blieb bestehen, daß Samuel Stone Stammkunde eines Buchmachers gewesen war.

Im Strandhaus sagte die Witwe: „Was ist das überhaupt für ein Haus hier? Nicht einmal einen Fernseher habt ihr!" „Hier draußen kriegt man kein Fernsehen rein", sagte der Bewacher. „Da müßten wir erst ein Kabel legen lassen." „Dann laßt es legen!" fuhr ihn die Witwe an. „Ich will fernsehen!"

„Mr. Carnera, jetzt will sie auch noch einen Fernseher!" Tony Carnera sagte: „Die Frau macht mich noch wahnsinnig! Aber gut, bitte, gebt ihr einen!"

Am nächsten Morgen kamen Fernsehtechniker und legten ein Kabel, so daß man im Strandhaus Fernsehen empfangen konnte.

„Bitte", sagte der Aufpasser zur Witwe. „Jetzt können Sie fernsehen."

„Aber das ist ja ein Schwarzweißgerät!" zeterte die Witwe. „Ich will einen Farbfernseher!"

Drei Tage lang ging das noch so weiter. Sie trieb alle zum Wahnsinn. Nichts paßte ihr. Sie beschwerte sich unaufhörlich. Am Schluß konnten die Aufpasser nicht einmal mehr ihre bloße Stimme ertragen. Tony Carnera kam extra hinaus zu dem Strandhaus und flehte sie an, sich zu benehmen. „Benehmen? Ich? Wie soll ich mich benehmen, wenn man mir einen solchen Fraß vorsetzt?"

„Mrs. Stone, Sie bekommen Essen von den besten Restaurants geliefert."

„Es ist kalt, wenn es ankommt." „Wir haben Ihnen neue Kleider gekauft." „Die gefallen mir nicht."

„Wir haben nach Make-up für Sie geschickt und es Ihnen gebracht." „Ist nicht meine Marke."

Nichts konnte man ihr recht machen.

„Ich kann es gar nicht mehr erwarten, daß wir sie wieder loswerden", sagte Carnera zu seinen Leibwächtern. „Die kostet mich den letzten Nerv!"

Er rief noch einmal im Haus von Samuel Stone an. Der Neffe war am Apparat.

„Also", sagte Carnera, „die Zeit ist um. Kriege ich jetzt die Million, oder was?"

Der Neffe lachte. „Keinen Cent kriegen Sie von uns für sie. Behalten Sie sie. Machen Sie mit ihr, was Sie wollen." Carnera starrte voller Zorn auf sein Telefon. Also, die wollten das Lösegeld nicht bezahlen? Er würde es ihnen schon zeigen! Und was war die schlimmste Strafe für diese Sturköpfe? Na, ihnen die Witwe zurückzuschicken!

Als die Witwe an diesem Abend nach Hause kam, war David der einzige, der froh war, sie unversehrt wiederzusehen. Der Anwalt und der Neffe aber waren verwundert. „Wie bist du denn entkommen?" fragten sie.

„Nicht mit eurer Hilfe jedenfalls!" fuhr sie sie an. „Ihr wolltet ja das Lösegeld nicht bezahlen." „Schon, nur... "

„Ach, lügt doch nicht. Habt ihr wenigstens inzwischen den Schatz gefunden?"

„Vielleicht war ein anderer Buchmacher gemeint", sagte der Neffe. „Wir könnten ja Onkels Notizbuch mit den Telefonnummern noch einmal durchsehen." Aber David starrte inzwischen versonnen auf die Bücherregale. Dann ging er zu ihnen hin und studierte sie. Ziemlich hinten stand eine Original-Shakespeare-Ausgabe, die zwei Millionen Dollar wert war. Er hielt sie in der Hand und sagte zu den anderen: „Das muß es sein. Ich denke, ich habe es gefunden."

Alle waren sogleich auf den Beinen. „Wir haben es gefunden, David! Wir sind alle daran beteiligt!"

„Nein", sagte David entschieden. „Der Erlös geht in die Wohltätigkeit, und dagegen könnt ihr nichts machen." Am nächsten Montag saß die ganze Gruppe dann erneut vor dem Fernseher in der Bibliothek und wartete auf den Hinweis für die nächste Schatzsuche.

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