Erinnert Ihr Euch noch, wie im vorigen Kapitel alle sagten, sie wollten etwas unternehmen, um sich Davids zu entledigen, damit sie das nächste Videoband ohne ihn anschauen könnten? Glaubt Ihr wirklich, sie würden so etwas Gemeines tatsächlich tun? Ja, doch, leider, dazu sind sie imstande. Sie können es gar nicht erwarten, David loszuwerden. Und so kommt es, daß am nächsten Montagvormittag, als es fast schon Zeit ist, wieder in die Bibliothek zu gehen und das nächste Videoband mit Samuel Stones Hinweisen für die nächste Schatzsuche einzulegen, David, als er unten im Frühstücksraum erscheint, von dem ,Neffen zu hören bekommt: „Da war ein Anruf für dich, Dayid! Du sollst sofort in dein Büro kommen."
„Und daß es sehr eilig wäre", ergänzte auch noch der Anwalt. David war verwundert. „Hat man denn nicht gesagt, worum es sich handelt?"
„Nein. Nur, daß es sehr wichtig für Sie wäre, schnellstmöglich dort zu sein."
David zögerte. Er wußte ja, daß es gleich Zeit für den nächsten Fernsehauftritt von Samuel Stone war. Aber er war nun einmal so ein gutmütiger und hilfsbereiter Mensch, daß er der Hilfe für andere, die in Not sein mochten immer den Vorrang vor allem anderen gegeben hätte.
„Also gut", sagte er, „dann will ich gleich mal los." Die anderen atmeten erleichtert auf. Ihr Plan hatte gewirkt. Sie wurden David los. Jetzt konnten sie endlich einmal ohne ihn die Hinweise enträtseln und das Preisgeld der Schatzsuche nur unter sich aufteilen und vor allem einmal behalten. Sie warteten, bis David weggefahren war, und schickten dann sogleich nach dem Butler.
„Wir sind bereit", sagte der Neffe. „Legen Sie das neue Band ein."
Der Butler sah sich um. „Aber wo ist Mr. David?"
„Ach, der mußte weg. Kümmern Sie sich nicht darum, legen Sie das Band ruhig ein."
„Und beeilen Sie sich!" sagte die Witwe. Sie konnte es nicht mehr erwarten, endlich wieder etwas Geld in die Hand zu bekommen.
Doch der Butler schüttelte den Kopf. „Es tut mir leid, aber das darf ich nicht. Meine strikten Anweisungen lauten, daß alle im Raum versammelt sein müssen, ehe ich ein Band abspielen darf."
„Was?" empörte sich der Rechtsanwalt. „Das ist doch lächerlich. Von wem wollen Sie diese Anweisungen haben?" „Von Mr. Stone persönlich."
„Na und? Er ist tot. Also, ich weise Sie hiermit an, das Band jetzt abzuspielen."
Doch der Butler war nicht einzuschüchtern. „Tut mir leid, Sir, aber das kann ich nicht machen."
Nichts konnte ihn dazu bringen, seine Meinung zu ändern. Sie hatten sich selbst ein Bein gestellt. Es blieb am Ende nichts übrig, als auf Davids Rückkehr zu warten. Als David schließlich wieder da war, sagte er: „Da muß ein Irrtum vorgelegen haben. Als ich zu meinem Büro kam, war überhaupt niemand da."
„Dann hat sich wohl jemand einen schlechten Scherz erlaubt", meinte der Neffe.
Die Witwe nickte dazu. „Manche Leute schrecken vor nichts zurück."
Der Neffe sagte nun ungeduldig zum Butler: „Also los, spielen wir endlich das Band ab." „Jetzt ja, Sir."
Er ging zum Fernsehgerät und schaltete ein.
Samuel Stones Gesicht erschien wieder auf dem Bildschirm. Er hatte die Stirn in Falten gelegt, und sein Blick wanderte über den Raum hin, von einem zum anderen. „Nun, ich nehme an, ihr seid wieder alle versammelt", sagte er. „Ehrlich gesagt, macht es mich ganz krank, daß ich euch Aasgeiern und Blutsaugern mein ganzes schönes Geld hinterlassen muß. Von euch hat doch noch keiner auch nur einen einzigen Tag im Leben mit anständiger Arbeit verbracht." Seine Augen wanderten zu der Stelle, wo Davids Stuhl stand. „Ausgenommen du natürlich, David. Aber dafür bist du so dumm und schmeißt mein ganzes schönes Geld diesen Armen in den Rachen. So eine Verschwendung!" „O nein, das ist keine Verschwendung!" protestierte David. Doch Samuel Stone funkelte ihn vom Bildschirm herunter an. „Ist es eben doch! Na gut. Also, der einzige Weg, glaube ich, euch den heutigen Hinweis zu geben, ist der, euch etwas zu sagen, was ich noch nie irgendjemandem gesagt habe. Einmal in meinem Leben habe ich jemanden geliebt." Er sah zu seiner Witwe hin. „Nur Ruhe, du warst es bestimmt nicht." Sein Blick wanderte zu dem Hausmädchen, das hinten an der Tür stand. Und er lächelte. „Und du leider auch nicht. Das mit dir war wieder eine andere Geschichte. Jedenfalls, es war eine junge Dame, die ich zu heiraten beabsichtigte. Damals war ich noch jung und dumm. Ich kaufte ihr ein sehr, sehr, sehr teures Collier und schenkte es ihr. Ausgerechnet am nächsten Tag schon entdeckte ich, daß sie mich mit einem anderen Mann betrog. Sie war ein triebhaftes Tier. Ich löste die Verlobung sofort und nahm ihr auch die teure Halskette wieder weg. Und ich gab sie einem anderen Tier diesmal einem vierbeinigen. Wenn ihr sucht, bis ihr bärtig seid, und sie findet, gehört sie euch."
Und schwarz war der Fernsehschirm.
„Das ist alles?" keifte die Witwe. „Er hatte eine blödsinnige Liebesaffäre, schenkte das Collier weg, und wir sollen herausfinden, wo es jetzt ist?"
„Richtig, was ist das für ein Hinweis?" fiel auch der Neffe in das Zetern ein.
Der Anwalt blies ins gleiche Horn. „Da hat man doch nichts, woran man sich halten kann!"
David aber blickte versonnen drein. „Doch", sagte er dann, „haben wir schon!"
Alle wandten sich ihm zu, weil er nun einmal der Intelligenteste war. „Was haben wir?"
„Er gab uns zwei Hinweise", sagte David. „Er sagte, er hat es einem vierbeinigen Tier gegeben, und, wenn wir suchten, bis wir bärtig wären. versteht ihr: bärtig, Bär!" „Aber ja!" rief der Neffe. „Ein Bär! Einem Bären hat er das Collier umgehängt." Dann wurde er nachdenklich. „Ja, aber es gibt doch gar keine Bären bei uns hier."
„Einen Moment!" sagte der Anwalt und war auf einmal ganz aufgeregt. „Da ist doch ein Zirkus in die Stadt gekommen!" „Der Zirkus", warf der Butler ein, „gastiert bereits seit zwei Wochen hier."
„Nämlich, als Mr. Stone noch am Leben war", vollendete der Anwalt diese Feststellung.
„Stimmt!" sagte der Neffe. „Das sähe Onkel Samuel wirklich ähnlich, daß er einen Schatz an einer Stelle verbirgt, wo man umkommen könnte, wenn man ihn sich holen wollte." „Richtig, das klingt ganz nach ihm", schimpfte die Witwe. Der Anwalt sah alle der Reihe nach an und erklärte: „Es gibt nur einen einzigen Weg, herauszufinden, ob wir recht haben."
Am Abend saßen alle, der Anwalt, die Witwe, der Neffe und David, im Zirkus und sahen sich die Vorstellung an. Sie war spektakulär. Es traten Clowns und Akrobaten auf, Seiltänzer und Zauberer, und das Aufregendste überhaupt waren die wilden Tiere. Ein Dompteur führte Löwen, Tiger und Leoparden vor. Aber für die Erben war das bei weitem Spannendste ein zweiter Tierbändiger mit einem dressierten Bären, ganz wie es David vorausgesagt hatte. Der Bär hatte ein Kostüm an, und er trug ein Halsband.
Sie waren alle wie hypnotisiert.
„Ich habe es gefunden!" rief die Witwe.
„Nicht doch"" widersprach der Anwalt. „Ich habe es gefunden!"
„Ach was", sagte der Neffe. „Wenn ich nicht gewesen wäre, säßen wir doch gar nicht erst hier!"
Alle waren sie nicht bereit, David ein Verdienst zuzugestehen. „Aber wie kommen wir an das Halsband?" fragte die Witwe. Der Neffe seufzte auf. „Ich fürchte, da gibt es keine Möglichkeit!"
„Das stimmt wohl", erklärte der Anwalt. „Am besten denken wir nicht mehr daran."
„Ja, ja", heuchelte auch die Witwe kräftig, „an diesen Bären kämen wir doch nie im Leben heran."
David besah sie sich und wußte, daß alle logen wie gedruckt. Alle drei hatten die doch nicht die kleinste Absicht, diesen Schatz einfach sausenzulassen.
Als David früh am nächsten Morgen zum Frühstück nach unten kam, waren die drei anderen schon ausgeflogen. Er lächelte in sich hinein. Er wußte genau, wo sie sein konnten. Er frühstückte gemächlich, setzte sich dann in sein Auto und fuhr zum Zirkus.
Dort sprach die Witwe gerade mit dem Zirkusdirektor.
„Sie sind sehr hübsch", sagte dieser. „Und Sie sagen, Sie haben Erfahrung auf dem Trapez?"
„O ja!" versicherte die Witwe. „Schon seit ich ein kleines Mädchen war."
„Also gut, Sie sind engagiert."
Die Witwe strahlte. „Danke!" Jetzt, da sie zum Zirkus gehörte, konnte sie sich auch an den Bären heranmachen und sich dessen. Halsband schnappen.
Als nächster tauchte der Neffe bei dem Zirkusdirektor auf.
„Ich wollte schon immer Clown werden."
„Einen Clown könnten wir gebrauchen", sagte der Zirkusdirektor. „Meinetwegen. Sie sind engagiert."
Gut, dachte der Neffe. jetzt kann ich mir das Halsband unter den Nagel reißen.
Und natürlich kam danach auch noch der Anwalt daher und behauptete: „Ich bin Jongleur!"
„Eine gute Jongleurnummer ist im Zirkus beliebt."
Als dann später David eintraf, ging er gleich direkt in das Büro des Zirkusdirektors und fragte: „Haben Sie heute morgen zufällig jemanden engagiert?"
„Ja", sagte der Zirkusdirektor, „zufällig ja. Eine Trapezartistin, einen Clown und einen Jongleur."
David wußte selbstverständlich sofort, wer diese drei neuen „Artisten" waren.
„Können Sie vielleicht auch einen Rigger gebrauchen?" fragte er den Zirkusdirektor. Der Rigger ist im Zirkus der Mann, der für die Seilspannungen des Zirkuszelts verantwortlich ist und auch für alles Gerät. „Gut, Sie sind engagiert."
So kam es, daß alle vier Erben jetzt im Zirkus arbeiteten - alle vier in Wirklichkeit nur darauf aus, an den Bären und sein Halsband heranzukommen. Allerdings, so wie sie es sich vorgestellt hatten, verliefen die Dinge nicht.
Die Witwe schlich sich gerade zu den Tierkäfigen, als der Zirkusdirektor sie überraschte und sagte: „Jetzt ist Trapezprobe im Zelt!",
Sie starrte ihn an. „Was?"
„Sie sollen ins große Zelt. gehen, da wartet man auf Sie. Sie müssen doch die neue Trapeznummer schließlich proben." Die Witwe geriet in Panik. „Das kann ich nicht machen ... ich... "
Der Zirkusdirektor wunderte sich sehr. „Was denn, wollen Sie die Nummer etwa nicht machen?"
Die Witwe war natürlich in ihrem ganzen Leben noch nie auf einem Trapez gewesen. Aber wenn sie den Zirkusdirektor zwang, sie gleich wieder zu entlassen, kam sie auch nicht an den Bären heran. Also lächelte sie ihn an und sagte: „Nein, nein, schon, ich mache es ja."
Zwei Minuten darauf stand sie in der Hauptmanege. Ein Mann im hautengen Körpertrikot sagte zu ihr: „Also, Kollegin, dann probieren wir mal den neuen Todessprung, den Dreifachsalto. Ist ganz einfach. Kinderspiel"
Die Witwe starrte ihn an. „Was denn, den dreifachen Salto mortale?"
„Ja, sicher", sagte der Mann. Er drückte ihr ein Seil in die Hand, und im nächsten Moment fand sie sich hoch in die Zirkuskuppel gezogen.
„He, Moment, wartet!" rief die Witwe. Aber jetzt gab es kein Zurück mehr.
Man zog sie hoch bis zu einer Trapezstange. Dort standen bereits zwei Männer. Der eine hielt ein Schwingtrapez in der Hand und sagte zu der Witwe: „Hier, das ist dein Schwingtrapez. Du schwingst raus, machst den Dreifachsalto, und der Kollege drüben auf seinem Trapez fängt dich. Klar?"
Die Witwe blickte nach unten, und alles drehte sich um sie. Ich komme um hier! dachte sie. Aber gerade in diesem Augenblick ertönte eine Lautsprecherstimme: „Mittagspause!" „Herrgott noch mal", schimpfte der Artist, der ihr die Anweisungen gegeben hatte, „diese Gewerkschaften mit ihren sturen Regelungen machen noch den ganzen Zirkus kaputt! Wie soll man denn proben, wenn man! andauernd zur Kaffeepause und zum Mittagessen und was noch alles abgerufen wird!"
Gleich danach fand die Witwe sich wieder unten in der Manege auf festem Boden. Und sie machte sich noch einmal eiligst zu den Tierkäfigen auf.
Der Neffe hatte ein Clownskostüm an und probte mit den anderen Clowns.
„Also, wir haben da eine echt komische Nummer", sagte einer zu ihm. „Paß auf." Er drehte einen Wasserschlauch auf, und der Wasserstrahl traf den Neffen mitten ins Gesicht, so daß es ihn gleich umwarf. Die anderen Clowns schlugen mit Baseballschlägern aus Schaumgummi auf ihn ein. „Die Leute lieben solche Nummern", sagten sie dem Neffen. Und sie schlugen weiter auf ihn ein, und der Neffe dachte: Na meinetwegen. Für dieses Halsband lasse ich mich gern ein wenig malträtieren.
Der Anwalt hatte inzwischen einige indische Keulen zum Jonglieren in die Hand gedrückt bekommen. Er warf sie hoch in die Luft. Das sah ganz schön aus. Das Problem war nur, daß sie ihm beim Herunterkommen alle auf den Kopf fielen, statt daß er sie auffing.
Der Zirkusdirektor, der zusah, sagte: „Das ist ganz lustig. Nehmen Sie das in der Vorstellung mit in Ihre Nummer hinein."
Nach dem Mittagessen schlichen sich alle vier, Witwe, Anwalt, Neffe und David, zum Bärenkäfig. Es war ein. sehr großer, schwarzer Bär, und er sah richtig gefährlich aus. Aber tatsächlich war er ganz zahm. Er steckte in einem Kostüm mit einem lustigen Hütchen auf dem Kopf, und sie konnten das Halsband, das er umhatte, gut erkennen. Sie standen alle zusammen vor dem Käfig, aber keiner traute sich hinein. Der Anwalt sagte: „Also, einer muß hinein, wenn wir das Halsband haben wollen."
„Warum gehen Sie denn nicht?" fragte der Neffe.
Sie begannen darüber zu streiten, wer hineingehen sollte.
Schließlich griff David mit einem Vorschlag ein.
„Losen wir es doch aus. Wer den kürzesten Strohhalm zieht, muß hinein."
Er machte drei gleich lange und einen kürzeren Strohhalm und hielt sie so, daß nur die oberen Enden aus seiner Hand hervorschauten. Die Witwe zog den kurzen Strohhalm. „Warum ich ?" jammerte sie. „Losen wir noch einmal!" „Nein, nein", sagte der Neffe. „Du hast verloren, also gehst du hinein und holst das Halsband."
Sie seufzte schwer. „Also gut. Aber wenn der Bär mich umbringt, verklage ich euch alle!" Sie sahen zu, wie sie die Käfigtür öffnete und hineinging. Der Bär lag auf dem Boden und rührte sich nicht.
„Schön, Bäri-Bäri", säuselte die Witwe. „Braves Bärchen." Sie ging langsam auf ihn zu. „Braves Bärchen will mir doch nichts tun, oder?"
Der Bär blickte träge zu ihr hoch.
„Ja doch, braver Bär, du magst mich doch leiden, nicht?"
Der Bär bewegte sich immer noch nicht.
Die Witwe nahm ihren ganzen Mut zusammen und tätschelte dem Bären vorsichtig das Fell.
Der Bär sah fast aus, als lächele er.
„Na siehst du, guter Bär, braver Bär." Und sie griff nach dem Halsband und nahm es ihm ab, indem sie den Verschluß öffnete.
„Ich habe es!" rief sie.
Jetzt rappelte sich der Bär endlich langsam hoch auf die Beine. Die Witwe rannte hastig aus dem Käfig hinaus und verschloß die Tür. Sie hielt das Halsband triumphierend in die Höhe. „Ich habe es!"
Dann begann sie es genauer zu betrachten und wurde dabei ganz blaß.
„Was ist?" fragte David. .
„Das ist ja nur eine Imitation!" rief die Witwe. „Schaut es euch an! Das sind keine Diamanten. Das ist nur einfaches Glas!" Alle besahen sich das Halsband und mußten ihr zustimmen. Das Halsband war nichts wert.
„Dieser alte Bösling!" schimpfte die Witwe. „Er hat uns hereingelegt!" Sie fauchte David an. „Und es ist alles deine Schuld! Du hast diesen Quatsch erzählt, daß das Diamantcollier an dem Bären hängen würde!" „Augenblick", sagte der Anwalt. „David könnte schon durchaus recht gehabt haben. Samuel Stone sagte, er gab es einem vierbeinigen Tier. Vielleicht sollte uns ja der Bär nur auf eine falsche Fährte locken. Es könnte doch auch ein anderes Tier hier im Zirkus sein." Sogleich waren alle wieder gierig.
Der Anwalt übernahm das Kommando und sagte: „Wir verteilen uns und schwärmen aus und untersuchen sämtliche Tierkäfige. Wer das Collier findet, teilt den Erlös mit den anderen."
„Abgemacht", sagte der Neffe.
Der Bär mochte ja zahm sein. Aber es gab auch Tiere im Zirkus, die wirklich wild waren... ganz wild!
Der Neffe steckte seinen Arm in den Löwenkäfig und bekam ihn um ein Haar abgebissen. Der Anwalt machte mutig den Tigerkäfig auf, und der Tiger entfloh. Aber er hatte auch kein Halsband um. David ging zu den Leoparden, jedoch auch von diesen hatte keiner ein glitzerndes Halsband um.
Am Ende kamen sie enttäuscht zu der Einsicht, daß sie sich ganz umsonst einer Menge Unannehmlichkeiten unterzogen hatten und daß sie von Samuel Stone wohl doch tüchtig hereingelegt worden waren.
Am Nachmittag saßen sie niedergeschlagen in der Bibliothek herum.
„Nichts zu machen", sagte die Witwe. „Dieses Halsband finden wir nie." Sie dachte an die Worte Samuel Stones: Es war „sehr, sehr, sehr teuer".
David dachte nach. „Irgend etwas haben wir übersehen", sagte er. „Er hat gesagt, vierbeiniges Tier, und er hat auch >Bär< gesagt, wenn auch in dem Wort bärtig."
„Ja, das alles hatten wir ja schon" brummte der Neffe mißmutig. „Ich gebe auf."
Doch David machte weiter. „Wo sonst noch könnte man einen Bären finden?"
„Im Wald natürlich", sagte der Anwalt. „Ja, aber in Alaska", sagte die Witwe.
David schüttelte den Kopf. „Das bringt uns nicht weiter." Dann fiel ihm noch etwas ein. „Und was ist mit dem Zoo?" „Ja, was ist damit?" fragte die Witwe. David fragte den Anwalt: „Sie wissen das bestimmt. Hatte Samuel Stone irgendwelche Beziehungen oder Verbindungen mit dem Zoo?" „Na, sicher. Er war im Vorstand unseres Zoos hier in der Stadt."
Mit einem Schlag lag elektrisierte Spannung in der Luft. „Das ist es dann wohl!" sagte die Witwe. „Der Bär im Zoo!" Und sie sprangen alle auf. „Dann los!"
Eine halbe Stunde später rannten sie in aller Eile in den Zoo hinein zu den verschiedenen Tiergehegen. Da gab es die Elefanten und Giraffen, die Affen und Nilpferde, Löwen und Tiger und im letzten Käfig ganz hinten - einen Bären! Und zwar einen Bären mit einem wunderschönen glitzernden Halsband um! Sie drängten sich alle vor dem Käfig und starrten wie gebannt hinein.
„Wirklich und wahrhaftig!" flüsterte die Witwe ergriffen. „Es ist wahr. Das ist das Echte! Das muß ein Vermögen wert sein!" „Und wie verschaffen wir es uns?" fragte der Neffe. Sie saßen im Büro des Zoodirektors.
„Ich möchte den Bären kaufen", sagte der Anwalt. Doch die Witwe winkte sofort ab. „O nein, Sie nicht. Ich kaufe ihn!" „Augenblick", mischte sich der Neffe ein. „Ich will ihn kaufen."
„Ich weiß gar nicht, warum Sie sich so ereifern", sagte der Zoodirektor. „Der Bär ist nicht verkäuflich." „Alles ist verkäuflich", sagte der Anwalt. So denken Anwälte nun einmal. „Ich biete Ihnen fünfzigtausend dafür." Der Neffe schob ihn zur Seite. „Und ich hunderttausend." Die Witwe musterte sie beide böse. „Zweihunderttausend." Der Zoodirektor wußte nicht, wie ihm geschah angesichts der Art, wie diese drei Leute einander hektisch immer höher überboten.
„Ich", meldete sich nun auch David, „gehe auf dreihunderttausend."
„Vierhunderttausend!" schrie die Witwe.
„Ich will diesen Bären haben", erklärte der Anwalt.
„Fünfhunderttausend." „Sechshunderttausend."
„Siebenhunderttausend."
„Achthunderttausend!"
Sie schrien ihre Gebote nur so heraus.
Der Anwalt sagte schließlich sogar noch: „Neunhunderttausend!"
Und da stand die Witwe auf und sagte: „Eine Million Dollar!" Auf einmal war es ganz still im ganzen Raum. Alle starrten die Witwe an. Der Zoodirektor sagte langsam: „Sie wollen im Ernst eine Million für diesen Bären bezahlen?" „Absolut!" bestätigte die Witwe entschlossen. „Morgen haben Sie das Geld!" Sie wußte ja, sie brauchte nur das Collier zu einem Juwelier zu bringen, die fünfzehn oder zwanzig Millionen, die es wert war, einzukassieren und dem Direktor seine Million zu bezahlen, dann hatte sie immer noch genug übrig, was sie allein für sich behalten konnte. Der Zoodirektor erhob sich, schüttelte der Witwe die Hand und sagte: „Abgemacht. Der Bär gehört Ihnen." Die Witwe drehte sich triumphierend zu den anderen um. Sie hatte sie alle ausgestochen.
Der Zoodirektor ging mit ihr zum Bärenkäfig. „Wo hin möchten Sie den Bären geliefert haben?" fragte er.
„Ach, den können Sie behalten", sagte die Witwe. „Geben Sie mir nur das kleine Halsbändchen, das er umhat."
Er sah sie verwundert an. „Das ist alles, was Sie haben wollen?"
„Richtig, das ist alles."
Der Bärenpfleger wurde geholt und nahm das Halsband ab. Er händigte es der Witwe aus. Sie brauchte nur einen kurzen Blick darauf zu werfen, um zu wissen, daß es diesmal echte Diamanten waren. Ich bin reich! dachte sie Jetzt kaufe ich die ganze Welt.
Am Nachmittag begab sie sich mit dem Halsband zum exklusivsten Juwelier der Stadt. Ein Angestellter kam zu ihr, als sie eintrat.
„Madame, zu Ihren Diensten."
„Wenn Sie mir bitte den Geschäftsführer holen."
„Gewiß."
Der Geschäftsführer kam nach einer kleinen Weile.
„Guten Tag, Madame, Sie wollten mich sprechen? Womit kann ich dienen?"
„Wenn Sie sich dieses Collier ansehen würden. Ich möchte es verkaufen."
„Verstehe. Bitte kommen Sie mit in mein Büro." Er führte sie in ein großes und wunderschön eingerichtetes Büro. „Haben Sie das Collier bei sich?"
„Ja." Sie holte es aus ihrer Tasche, und der Geschäftsführer begann es zu inspizieren. „Das ist ein sehr schönes Schmuckstück."
Die Witwe lächelte. „Ich weiß." Wieviel er wohl anbieten würde? Zehn Millionen, fünfzehn, vielleicht sogar zwanzig Millionen Dollar?
Der Juwelier holte eine Lupe hervor und besah sich das Schmuckstück aus der Nähe und in der Vergrößerung. „Sehr schöne Steine", sagte er.
Die Witwe strahlte.
„Auch die Fassung ist wunderschön."
Die Witwe strahlte noch mehr.
„Ein wirklich wunderschönes Collier."
Die Witwe strahlte unermeßlich. „Sie würden es also kaufen?"
„O ja, gewiß."
Sie entspannte sich. Endlich hatte sie ihr Vermögen. „Ich biete Ihnen", sagte der Juwelier, „...eine Million dafür."
„Was?"
Er blickte auf. „Doch, das ist es wert. Eine Million ist dieses schöne Schmuckstück durchaus wert."
„Da kann etwas nicht stimmen", sagte die Witwe. „Es muß sehr viel mehr wert sein."
„Bedaure, aber genausoviel ist es wert. Eine Million." Die Witwe strahlte nicht mehr. Das Herz sank ihr bis in die Knie. Sie hatte einen Bären für eine Million gekauft, und genausoviel war der Schmuck wert! Der ganze Aufwand und alle Mühe für nichts!
„Wollen Sie das Halsband nun verkaufen oder nicht?" fragte der Juwelier.
Sie hatte keine Wahl. Sie mußte ja diesen blöden Bären bezahlen! „Gut; ich verkaufe es."
Am nächsten Morgen kam sie zum Zoo und überreichte dem Direktor einen Scheck über eine Million Dollar. „Das ist sehr großzügig von Ihnen", sagte der Zoodirektor. „Sind Sie auch wirklich sicher, daß Sie Ihren Bären doch nicht mitnehmen wollen?"
„Was täte ich denn mit einem Bären?" sagte sie.
Sie saßen auf der Terrasse beim Essen.
„So eine Zeitverschwendung!" sagte die Witwe.
„Der ganze Aufwand für nichts und wieder nichts."
„Ach, für nichts war es nicht", widersprach David.
„Na, was denn?" fuhr ihn die Witwe böse an. „Da habe ich eine Million für dieses Halsband bekommen und die ganze Summe im Zoo abliefern müssen."
„Eben", sagte David. „Das war doch der Sinn der ganzen Sache. Ich habe heute morgen noch einmal mit dem Zoodirektor gesprochen. Er benutzt das Geld zum Ankauf weiterer Tiere und für neue Gehege und Tierpfleger. Deinetwegen kann unser Zoo jetzt einer der schönsten im ganzen Land werden. Da solltest du stolz darauf sein!"
Alle starrten David an.
„Wissen Sie, David", sagte der Anwalt, „es gibt etwas, das Sie einfach nicht verstehen. Nämlich, was die Welt anstachelt und vorantreibt: die Gier."