Eine Kerbe zu viel

Das Zeitalter der Reformation hat in Deutschland eine stau­nenswerte Anzahl großer Gelehrter und Künstler hervorgebracht, unter ihnen den bedeutenden Arzt und Philoso­phen Theophrastus Bombastus von Hohenheim, der sich Paracelsus nannte. Zu Einsiedeln in der Schweiz geboren, hat er an der Universität von Ferrara den Doktorhut erworben. Danach ist er jahrelang durch die Lande gezogen, forschend, lehrend und heilend, wo Heilung möglich war. Als Arzt und Naturforscher hat er in seinen Schriften zahlreiche Gedanken und Einsichten entwickelt, die bahnbrechend für die moderne Heilkunst geworden sind. Bei vielen seiner Zeit- und Berufsgenossen ist er damit auf Unverständnis und Ablehnung gestoßen. Immer wieder gab es Versuche, ihn der Ketzerei zu bezichtigen, ihn als Scharlatan in Verruf zu bringen. Selbstverständlich ist Paracel­sus von seinen Gegnern auch verdächtigt worden, mit dem Teufel im Bunde zu stehen, ein Hexenmeister zu sein. Seine Freunde jedoch und die einfachen Leute waren davon überzeugt, Bombastus von Hohenheim habe sich nicht der bösen schwar­zen, sondern der guten, der weißen Magie verschrieben. - Anno 1541 ist Paracelsus zu Salzburg verstorben. Sein Grab ist erhalten geblieben, es befindet sich auf dem Sebastiansfriedhof der Stadt, am rechten Ufer der Salzach. Die Volkssage weiß es anders.

In Salzburg hatte Paracelsus einen getreuen Diener, dessen Name uns nicht überliefert ist. Eines Tages war er mit ihm hinausgegangen, ein Stück vor die Tore der Stadt, bis zu einer alten Linde. In ihrem Schatten eröffnete Paracelsus seinem Begleiter, dass er sich krank wisse, sterbenskrank. »In wenigen Tagen wird es mit mir zu Ende sein«, fuhr er fort. »Es gibt aber keinen Grund, den Mut zu verlieren. Denn wisse, mein treuer

Diener: Ich werde mit Gottes und deiner Hilfe ins Leben zurückkehren, jung und stark.«

»Mit Gottes und - meiner Hilfe?« Der Diener staunte, der Diener bat ihn: »Lehre mich, was ich zu tun habe, Meister, um dir zu helfen.«

»Zerschneide, sobald ich gestorben bin, meinen Leib in siebenmal sieben Stücke«, gebot Paracelsus dem treuen Diener. »Dann schraube den Knauf meines Schwertes auf. Du wirst in der Kapsel ein Pulver von weißlicher Farbe vorfinden: die Arznei der Arzneien. Streue von diesem Arcanum drei Prisen auf meinen zerstückelten Leib und bete darüber drei Vaterunser und dreimal den großen Wundsegen. Im Morgengrauen des nächsten Tages begrabe mich dann hier draußen, im Schatten der alten Linde.«

Der Diener nickte, der Diener gelobte zu tun, was der Meister von ihm verlangte.

»Noch eins!«, fügte der Doktor hinzu. »Wenn ich begraben bin, musst du Tag für Tag zu der Linde kommen und für mich beten. Und in den Stamm des Baumes schneide dann jedes Mal eine Kerbe ein.«

Auch dies gelobte der Diener zu tun.

»Nun das Letzte und Wichtigste noch!« Beschwörend hob Paracelsus die Stimme. »Zähle die Kerben im Stamm der Linde - und zähle sie wohl! Und wenn siebenmal sieben Tage verstrichen sind, öffne das Grab, das du mir gegraben hast, und wiederum bete drei Vaterunser darüber und dreimal den großen Wundsegen. Dann bestreue, was du im offenen Grab findest, mit der Arznei der Arzneien. Drei Prisen auch diesmal. Doch merke! Das Grab muss genau am siebenmal siebenten Tage geöffnet werden. Keinen Tag früher und keinen später! Dies, mein getreuer Diener, beherzige - dies vor allem!«

Sie kehrten nach Salzburg zurück. Paracelsus erkrankte noch diesen Abend am kalten Fieber, drei Tage danach war er tot. Der getreue Diener tat alles, was ihn sein Herr und Meister geheißen hatte, er tat es sorgfältig, tat es gewissenhaft. Und er tat es im festen Glauben, es werde mit Gottes und seiner, des Dieners Hilfe gelingen, den Tod zu besiegen und Paracelsus wieder ins Leben zurückzuholen.

Was für Wetter auch sein mochte, ob es regnete, ob die Sonne schien, ob es stürmte, hagelte oder gewittrig war: Tag für Tag ging der treue Diener von jetzt an hinaus zu der alten Linde, um über dem Grab des Meisters zu beten. Und wenn er das Amen gesprochen hatte, versäumte er niemals, eine Kerbe in die Rinde des Baumes zu schneiden.

Nun begab es sich einmal, dass unweit der alten Linde ein Hirtenjunge die Kühe hütet und ihn bei seinem Tun beobachtet. Kaum ist der treue Diener davongegangen, da sticht den Jungen der Hafer. Er zieht sein Messer hervor, und sei es aus Übermut, sei es aus Unverstand: Jedenfalls fügt er den vielen Kerben im Stamm der Linde eine hinzu.

So kommt es, dass der getreue Diener den siebenmal siebenten Tag verfehlt. Nicht aus eigener Schuld, denn wie hätte er wissen können, dass jener Hirtenjunge ihm in die Rechnung gepfuscht hat? Er kommt zu der Linde, er zählt die Kerben, er sieht, dass die Zahl erfüllt ist. Da öffnet der treue Diener das Grab des Meisters, nicht ohne drei Vaterunser darüber zu beten und dreimal den großen Wundsegen.

In der Tiefe des Grabes liegt Paracelsus: ein schlafender Jüngling im Alter von zwanzig Jahren etwa. Schön ist er, schön und von stattlichem Wuchs, mit vollem Haupthaar und glatter Haut, ohne jede Falte.

Der getreue Diener traut seinen Augen nicht, er bricht in die Knie, er jubelt: »O Herr, o Meister! Der Tod ist besiegt! Du hast ihn mit deiner Kunst überwunden! Der Herr unser Gott sei gelobt und gepriesen in Ewigkeit!«

Nun streut er über den Leib des schlafenden Jünglings drei Prisen von der bewussten Arznei aus dem Schwertknauf, wie Paracelsus es ihm geboten hatte. Und siehe! - das große Arcanum verfehlt seine Wirkung nicht, der Jüngling, der da im Grabe liegt, unter der alten Linde: Der Schlafende mit des Meisters verjüngten Zügen öffnet die Augen und blickt aus der Tiefe empor. Noch ist er nicht ganz dem Leben zurückgegeben. Ein Tag noch fehlt ihm, ein Einziger. Eine Kerbe zu viel in der Rinde des Baumes - ein Tag zu wenig für Paracelsus.

Traurig, unsagbar traurig lächelt der Doktor seinem getreuen Diener zu. Dann schließt er die Augen wieder, um in Sekundenschnelle zu Staub zu zerfallen. Und Staub wird er bleiben, bis die Posaune des Jüngsten Tages erschallt.

Der Tod lässt sich nicht bezwingen, von keinem Sterblichen lässt sich der Tod überwinden: Das hat selbst der große Arzt, der berühmte und kunstreiche Magier Theophrastus Bombastus von Hohenheim nicht geschafft, der sich Paracelsus nannte.

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