Geheimer Kriegsrat

In der Lausitz gibt es noch heute einen kleinen westslawischen Volksstamm mit eigener Sprache, eigenen Bräuchen und eigener Tracht: die Sorben oder, wie sie früher genannt wurden, die Lausitzer Wenden. Stoffe, Motive und Gestalten der sorbischen Volkssage sind auch den deutschsprachigen Nachbarn der Wenden geläufig, etwa die schwankhaften Histörchen von Pumphutt, dem zauberkundigen Müllerburschen, etwa die Geschichten von Krabat, um dessen Name sich im Lauf der Zeiten ein Kranz von Sagen gebildet hat. Sie, die Krabatsage, scheint sich ursprünglich auf die uralte, wohl aus Indien stammende Mythe vom Zauberlehrling und dessen Meister beschränkt zu haben, zwischen denen es nach beendeter Lehrzeit zum magischen Zweikampf auf Leben und Tod kommt. Zu diesem Kern sind später viele weitere, zum Teil sehr komische Stücke hinzufabuliert worden, in denen auch historische Persönlichkeiten und Ereignisse eine Rolle spielen, etwa Kurfürst August der Starke von Sachsen, der spätere König von Polen, und die Türkenkriege des ausgehenden 17. Jahrhunderts. Selbst der Name Krabat scheint erst aus jener Zeit zu stammen. Da gab es nämlich auf dem Vorwerk Groß-Särchen einen Herrn von Schadewitz, der sich in den Feldzügen des sächsischen Kurfürsten als Obrist auf solch spektakuläre Weise verdient gemacht haben soll, dass man ihm nachsagte, er könne mehr als Brot essen. Und dieser Obrist von Schadewitz war seiner Herkunft nach - ein kroatischer Edelmann. Ein Kroat, ein »Krabatt« also.

Krabat hatte seine Lehrzeit auf der Mühle beendet, er hatte den bösen Zaubermeister im magischen Zweikampf getötet. Nun waren die Mühlknappen frei und verstreuten sich in alle Winde, um mithilfe der Zauberkünste, die sie in der schwarzen Schule erworben hatten, ihr Glück zu machen. Krabat hatte sich dem Heer des Kurfürsten von Sachsen angeschlossen und war mit seinem Regiment nach Ungarn marschiert, in den Türkenkrieg.

Es stand damals nicht gut für die kaiserliche Armee, deren Oberbefehlshaber August der Starke war. Und als der nun hörte, dass sich unter seinen Fahnen ein zauberkundiger Musketier aus der Lausitz mit Namen Krabat befände - was lag da näher, als dass er den Mann auf der Stelle herbeirufen ließ?

Spione hatten dem Kurfürsten zugetragen, im muselmanischen Lager habe sein Gegner, der türkische Sultan, auf den heutigen Tag den großen Kriegsrat einberufen, um mit seinen Heerführern die nächste, vielleicht entscheidende Schlacht zu planen. Ob er im Stande sei, wollte der Kurfürst von Krabat wissen, mithilfe seiner Zauberkünste herauszubringen, was man im großen Kriegsrat des Feindes beschließen werde?

Nichts leichter als dies, meinte Krabat. Er könnte sich einfach in eine Fliege verwandeln. Dann werde niemand ihn daran hindern, ins Zelt des Sultans zu fliegen und alles mit anzuhören, was da besprochen werde .

»Als Fliege?« Der Kurfürst von Sachsen fand den Gedanken prächtig. »Und wenn Er mich mitnähme, Musketier? Ob eine Fliege im türkischen Kriegsrat, ob zwei - das macht keinen großen Unterschied!«

Darauf Krabat: »Das nicht, Herr Feldmarschall. Aber die Sache hat einen Haken. Sobald nämlich der Herr Feldmarschall eine Fliege geworden sind, müssen sich der Herr Feldmarschall davor hüten, mit irgendwas Silbernem in Berührung zu kom­men, und sei es versehentlich. Falls dies geschähe, würde der Zauber sofort zunichte, und wir beide, Herr Feldmarschall, würden dann augenblicklich wieder in Menschen zurückver­wandelt.«

»Na, wenn’s weiter nichts ist!« August der Starke nahm eine Prise Schnupftabak, nieste gewaltig und meinte dann:

»Hauptsache, Er vergisst nicht, dafür zu sorgen, dass wir die türkische Sprache verstehen!«

»Wie Durchlaucht befehlen!« Krabat murmelte einen Zauberspruch, und alsbald krabbelten an der Stelle, wo soeben noch der dicke Kurfürst von Sachsen mit einem seiner Musketiere gestanden hatte, zwei Fliegen herum: zwei Fliegen, die Türkisch konnten.

Im Prunkzelt des Sultans hatten sich mittlerweile dessen Wesire und Paschas zur Beratung eingefunden; und da es im großen Kriegsrat um überaus wichtige und geheime Dinge ging, hatte des Sultans Großwesir eine Reihe besonderer Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Die gesamte Leibwache des Herrschers, einhundertfünfundzwanzig ausgesucht treue und tapfere Janitscharen, war Schulter an Schulter rings um das Zelt postiert worden, mit dem Befehl, jeden Unbefugten, der sich der Postenkette nähern sollte, ohne Erbarmen niederzumachen. Durch Ausrufer war dies im ganzen Türkenlager verkündet worden, und da man wusste, dass die Leibwächter des Sultans bei der Ausführung solcher Befehle nicht lang zu fackeln pflegten, zogen es die türkischen Soldaten und Offiziere vor, während der Zeit des geheimen Kriegsrats in ihren Zelten zu bleiben. Damit aber von den Dingen, die zur Beratung anstanden, auch gewiss nichts über den Kreis der Wesire und Paschas hinausdrang, hatte man den Leibwächtern die Ohren voll Werg gestopft und mit Wachs versiegelt. Nun hörten sie nicht, was im Kriegsrat besprochen wurde, und dennoch konnten sie, mit dem Rücken zum Zelt des Sultans stehend, jedermann davon fern halten, der sich ihm ohne Erlaubnis nähern sollte - nur nicht die Fliegen August und Krabat. Auch der Sultan und seine Würdenträger schenkten den beiden Fliegen keine Beachtung. Sie hockten nach Türkenart auf seidenen Kissen um eine niedrige Tafel von Ebenholz, jeder hatte eine Schale Kaffee vor sich stehen, dazu gab es erlesene Süßigkeiten, von zwei taubstummen Sklaven auf goldenen Präsentiertellern dargeboten.

Die Fliegen waren im richtigen Augenblick gekommen, da der Sultan gerade damit begonnen hatte, den versammelten Häuptern des Türkenheeres seine Befehle zu erteilen; und während er ihnen darlegte, was er gegen die Armee des Kurfürsten von Sachsen zu unternehmen gedenke, krabbelte ebendieser sächsische Kurfürst seelenruhig in Gestalt einer Fliege am Rand seiner Kaffeetasse entlang!

Nun hat aber jede Fliege bekanntlich sechs Beine, und es ist durchaus möglich, dass August der Starke für einen winzigen Augenblick die Übersicht verlor. Jedenfalls stieß er mit einem seiner sechs Fliegenbeine versehentlich an eine Zuckerzange - und leider, dreimal leider, war ausgerechnet diese Zuckerzange aus Silber ... Es geschah, was nicht ausbleiben konnte. Mit einem Mal war aus der Fliege wieder der Kurfürst von Sachsen geworden! Und es ist schwer zu sagen, wer sich darüber mehr entsetzte: August der Starke selbst, der nun plötzlich in voller Größe und Leibesfülle auf des Sultans Tafel stand, den rechten Fuß in der Schüssel mit Schlagsahne, den linken auf einem Kuchenteller - oder der Sultan mit seinen Wesiren und Paschas.

Entgeistert starrte der Kurfürst die Türken an, nicht minder entgeistert glotzten die Türken zurück. Nur Krabat, nun in Gestalt eines sächsischen Musketiers auf der Tafel stehend: nur Krabat wusste sofort, was zu tun war.

»Ab!«, rief er. »Nichts wie ab jetzt, Herr Feldmarschall!«

Da kam Leben in Seine Durchlaucht! Mit einem gewaltigen Satz, wie kein Mensch ihn dem dicken Kurfürsten zugetraut hätte, sprang er über den verdutzten Sultan hinweg und stürmte wie ein angeschossener Eber an den taubstummen Sklaven vorbei ins Freie! Krabat, ihm nachfolgend, riss im Davoneilen rasch noch die Zeltstange um, sodass hinter ihnen das schwere Prunkzelt in sich zusammenstürzte und alle, die sich darin aufhielten, unter sich begrub: den Sultan, den Großwesir, die Wesire und Paschas. Und auch die beiden Kaffeesklaven selbstverständlich. Da zippelten sie nun und zappelten unter dem Zelttuch wie Karpfen im Netz, die Häupter des Türkenheeres - und alle, mit Ausnahme der beiden Sklaven, erhoben ein mörderisches Geheul und Zetergeschrei.

Die Leibwächter hörten und sahen von alledem nichts, denn erstens hatte ihnen der Großwesir ja die Ohren versiegeln lassen, und zweitens wandten sie, wie schon berichtet, dem Zelt des Sultans den Rücken zu. »Platz da!«

Der Kurfürst von Sachsen packte die nächsten beiden Janitscharen beim Kragen, stieß sie mit den Köpfen zusammen, dass es nur so krachte, und schleuderte sie beiseite, den einen dahin, den anderen dorthin. Das ging alles sehr schnell. Noch ehe die andern Leibwächter begriffen hatten, was los war - da sahen sie schon von August dem Starken und Krabat nur mehr die Rockschöße!

Krabat und Seine Durchlaucht rannten zum Türkenlager hinaus und dann querfeldein, so schnell sie nur konnten. Schon pfiffen ihnen die ersten türkischen Kugeln um die Ohren, schon schwirrten die ersten Pfeile haarscharf an ihnen vorbei. Doch plötzlich schob sich, dicht wie Zuckerwatte, ein Nebelstreifen zwischen die Flüchtenden und das türkische Heerlager - wie man annehmen darf: nicht von ungefähr.

Fortan blieben der zauberkundige Musketier und sein Feldmarschall unbehelligt. Dennoch rannten sie weiter, was Beine und Lungen hergaben. Endlich bei den kaiserlichen Vorposten angelangt, warf sich der Kurfürst von Sachsen platt auf den Rücken und schnappte nach Luft. Während er um sein Leben gerannt war, hatte er nicht nur drei Pfund an Gewicht verloren: Ihm war auch die Lust zu weiteren solchen Abenteuern vergangen, ja an dem ganzen Türkenkrieg überhaupt.

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