Doktor Kittels Höllenzwang

Johann Josef Anton Eleazar Kittel: Heute würde man ihn als Heilpraktiker und Inhaber einer Privatklinik bezeichnen. Er hatte weder Medizin studiert noch den Doktortitel erworben; dennoch wurde er von den Leuten zu seiner Zeit und an seinem Ort nur der Doktor Kittel genannt. Seine Zeit war das im Zustand der Aufklärung begriffene 18. Jahrhundert, und sein Ort, das war die Gemeinde Schumburg im Vorland des böhmi­schen Isergebirges. Dort hat er tatsächlich gelebt und gewirkt, als Wunderheiler und Menschenfreund. In seinem stattlichen Schumburger Wohnhaus gab es mehrere Krankenstuben. Und wer immer im näheren oder weiteren Umkreis ärztlicher Hilfe bedurfte, konnte darauf vertrauen, dass Doktor Kittel ihn so rasch wie möglich aufsuchen käme, notfalls mithilfe seines Zaubermantels, der ihn pfeilgeschwind durch die Lüfte trug. Für die Menschen seiner Zeit und seiner Umgebung grenzten Kittels Praktiken und Erfolge ans Wunderbare, sodass man ihm bald einen Pakt mit dem Teufel nachsagte. Als »Faust des Isergebir- ges« hat er zahlreiche Motive der Sage vom Doktor Faustus auf sich gezogen - mit einem entscheidenden Unterschied: Während der Doktor Faustus am Ende seiner Erdentage verdientermaßen vom Teufel geholt wurde, hat sein später deutsch-böhmischer Nachfahr, ebenso verdientermaßen, die göttliche Gnade gefun­den. Das brave, einfache Volk hat die Höllenfahrt seines Helfers und Wohltäters einfach nicht zugelassen.

Seit er den Pakt mit dem Teufel hatte, besaß der Doktor Kittel in Schumburg mehrere Zauberbücher, darunter das ebenso berühmte wie berüchtigte siebente Buch Mosis, den »Dreyfachen Höllenzwang«, der seinem Besitzer Gewalt über alle Mächte der Finsternis verlieh. Ein höchst begehrtes, zugleich aber auch ein höchst gefährliches Buch. Wehe, wenn es in falsche Hände geriet!

Nun war ja der Doktor Kittel ein rechtschaffener und vernünftiger Mann, der um die Tücken des Buches wusste und niemand damit gefährden wollte. Deshalb hielt er den Höllenzwang wie auch die anderen Zauberbücher stets unter strengem Verschluss. Sie alle standen in seiner Studierstube wohl verwahrt hinter der Tür eines Schrankes von Eichenholz, den er mit drei schweren, eisernen Schlössern abzuschließen pflegte, sobald er den Raum oder gar das Haus verließ.

Eines Winterabends hatte sich der Doktor Kittel wieder einmal in den Dreyfachen Höllenzwang vertieft, da er für einen seiner Patienten ein Mittel gegen die schwarzen Blattern benötigte. Wie er nun so am Tisch sitzt und beim Schein der Kerze im Höllenzwang nachschlägt, wird draußen plötzlich nach ihm gerufen: »Herr Doktor! Herr Doktor Kittel! Aufmachen, aufmachen!«

Wie Kittel öffnet, steht draußen der Botenjunge aus Morchenstern, ganz aufgeregt ist er und außer Atem. Der Zenkner-Seff, was der Zenkner-Frieda ihr Mann ist: Der Zenkner-Seff sei beim Holzrücken unter den Schlitten gekommen. Mit beiden Beinen. Nun könne ihm bloß noch der Doktor Kittel helfen .

»Schon gut«, sagt der Doktor Kittel zum Botenjungen aus Morchenstern. »Mach dir ock um den Seff keine Sorgen, Junge. Ich tu für ihn, was ich kann.«

Er eilt ins Freie, er setzt sich auf seinen Mantel, pfeilgeschwind reitet er durch die Lüfte nach Morchenstern. Man hatte den Zenkner-Seff unter dem Schlitten hervorgezogen und auf ein Brett gelegt. Beide Oberschenkel des Holzmachers waren gebrochen. Der Doktor besah sich den Schaden. Er flößte dem Verunglückten einen Trank gegen die ärgsten Schmerzen ein und schiente ihm die gebrochenen Glieder. »Wird schon gut werden, Seff, wird schon gut werden. Musst dich halt ein paar Wochen ruhig halten. Morgen komm ich dann wieder und schau nach dir .«

Nun wollte der Doktor eigentlich noch der Zenkner-Frieda ein paar Anweisungen geben: Da wurde er plötzlich, aus heiterem Himmel, von starker Angst und Beklommenheit angefallen. Zu Hause in Schumburg, das spürte er, musste in seiner Abwesenheit etwas Schlimmes geschehen sein. Etwas Bedrohliches hatte sich dort zusammengebraut über seinem Haus. »Der Höllenzwang!«, fiel es ihm siedend ein. In der Eile des Aufbruchs hatte er ganz vergessen, das Satansbuch wegzuschließen!


So schnell wie an diesem Winterabend war Kittel auf seinem Zaubermantel noch nie durch die Luft gebraust. In Schumburg gelandet, stürzt er ins Haus, stürmt die Treppe empor, reißt die Tür auf - und sieht, was geschehen ist.

Seine Enkelkinder, zwei Jungen, drei Mädchen, hocken am Tisch und beugen sich über das Zauberbuch. Der Älteste fährt mit dem Finger die Zeilen entlang, und gerade des Buchstabierens mächtig, liest er den anderen daraus vor. Unverständliche Silben und Wörter, merkwürdig und geheimnisvoll.

Und während er vorliest, da haben sich, von den Kindern unbemerkt, ein Dutzend Raben in Doktor Kittels Studierstube eingefunden. Keine gewöhnlichen Raben. Raben mit feurigen Augen, mit glühenden Schnäbeln und Krallen. Satansvögel, mit einem Wort. Die hocken nun auf den Regalen und Schränken in der Studierstube. Und mit jedem Wort, das der Junge vorliest, gesellt sich ein weiterer Teufelsrabe hinzu.

Die Kinder sind ahnungslos, Kittel aber erkennt die Gefahr sofort. Jeden Augenblick kann es geschehen, dass die Raben sich auf die Kinder herabstürzen, dass sie ihnen mit Krallen und Schnäbeln den Garaus machen! Der Doktor besinnt sich nicht lange, das kann er sich jetzt nicht leisten. Schon ist er am Tisch, schon entreißt er den Kindern das Buch. Mit lauter Stimme befiehlt er den Raben, hinwegzufliegen, auf einen nahe gelegenen Acker hinter dem Haus.

»Tragt alle Steine zusammen, die dort im Boden liegen, ihr Höllenvögel, und häuft sie am Feldrain auf! Das gebiete ich euch im Namen der sieben Fürsten der Tiefe beim dreifachen Höllenzwang!«

Die Raben müssen gehorchen, sie schwirren zum Fenster hinaus und machen sich an die Arbeit, wie Kittel es ihnen befohlen hat. Der Doktor hat Zeit gewonnen. Gerade so viel, wie er braucht, um die Raben dorthin verschwinden zu lassen, woher sie gekommen sind. Dies tut er, indem er die von dem Jungen vorgelesene Zauberformel »zurückliest«, also von hinten nach vorne: »Ärschlings«, hätte man in Schumburg gesagt.

Mit jedem zurückgelesenen Wort bewirkte der Doktor Kittel, dass einer der Satansvögel vom Acker verschwand und krächzend zur Hölle fuhr. Dann der Nächste, der Übernächste - und weiter so, bis auch der Letzte, der Allerletzte von allen glücklich verschwunden war.

Dem Herrgott sei Dank, die Enkelkinder waren gerettet! Der Doktor Kittel, in Schweiß gebadet, stellte den Dreyfachen Höllenzwang in den Schrank zurück - und dann schloss er ihn weg.

Seither, so heißt es, habe er nie mehr versäumt, das Zauber­buch sorgfältig zu verwahren, bevor er das Haus verließ. Den von den höllischen Raben am Feldrain zusammengetragenen Steinhaufen habe ich selbst noch gesehen. Als ich ein Junge von sechs oder sieben Jahren war, hat mein Vater ihn mir gezeigt: hinter dem stattlichen Haus, das der Wunderdoktor und Zaube­rer Johann Josef Anton Eleazar Kittel dereinst in Schumburg für sich und für seine Patienten errichtet hatte.

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