Gelächter zur Unzeit

Prag an der Moldau, zeitweilig Hauptstadt des Heiligen Römi­schen Reiches Deutscher Nation, dessen Kaiser vorübergehend dort Hof hielten, war jahrhundertelang auch Sitz einer jüdischen Gemeinde, die in der gesamten abendländischen Judenheit höchstes Ansehen genoss. Wohl die bekannteste Gestalt aus der Geschichte der Juden Prags ist der weise und zaubermächtige Rabbi Loew ben Bezalel. Große Wundertaten werden ihm zugeschrieben, so die Erschaffung des Golem, eines künstlichen Menschen aus Lehm, den er dann eigenhändig wieder zertrüm­mert habe, weil er sich der Macht und Aufsicht seines Schöpfers zu entziehen drohte. Damals residierte auf der Prager Burg, dem Hradschin, Kaiser Rudolf II. aus dem Hause Habsburg, ein Bilder-, Bücher- und Raritätensammler von hohen Graden, Liebhaber aller Künste, Gönner von Edelsteinschleifern, Sterndeutern, Alchemisten. Er habe sich, wie es heißt, in höchsteigener Person mit dem Studium der schwarzen und weißen Magie befasst, und sicherlich kommt es nicht ganz von ungefähr, dass Sage und Legende davon zu berichten wissen, es habe sich zwischen ihm und dem hohen Rabbi Loew aus der Prager Judenstadt mit der Zeit eine enge, nahezu freundschaftli­che Beziehung angesponnen.

Die Zusammenkünfte des römischen Kaisers mit dem hohen Rabbi Loew fanden ausnahmslos auf dem Hradschin statt, meist im Geheimen. Einmal jedoch bat der Kaiser den Rabbi darum, dem versammelten Hofstaat eine Probe seiner magischen Kunst zu geben. Man befand sich gerade in einem kleineren, etwas abgelegenen Saal der Burg, der sonst kaum benützt wurde.

Worin denn, so fragte der hohe Rabbi den Kaiser, die Probe bestehen sollte.

»Wie uns bekannt ist, bist du dazu im Stande, die Geister der Abgeschiedenen zu beschwören«, sagte der Kaiser. »Wie wäre es, wenn du vor unseren Augen die Erzväter deines Volkes erscheinen ließest?«

»Die Erzväter meines Volkes?« Der Rabbi versuchte, den Wunsch des Kaisers abzuwenden. Diese Beschwörung, so warnte er, sei mit Gefahr verbunden. Während der Zeit, da die Geister der abgeschiedenen Erzväter anwesend seien im Saal, müsste strengstes Stillschweigen herrschen.

Dies, so erwiderte ihm der Kaiser, sollte nicht schwer zu erreichen sein. Er werde dem Hofstaat einfach befehlen, das Maul zu halten. Den möchte er sehen, der sich getrauen sollte, seinen, des römischen Kaisers Befehl in den Wind zu schlagen.

Nun konnte der hohe Rabbi nicht anders, er musste die feierliche Beschwörung der biblischen Erzväter vornehmen. Halblaut gemurmelte Worte, weit ausgebreitete Arme, nach oben gekehrte Handflächen. Der Kaiser, der Hofstaat, alles verharrt in gespannter Erwartung. Dann wallt es zur Tür herein, wallt wie graues Gewölk herein und verdichtet sich zu Gestalten.

Ehrwürdig sind sie anzusehen, wie sie nun langsam den Saal durchschreiten, die biblischen Erzväter: Abraham an der Spitze, weißbärtig, tief gebeugt von der Last der Jahre; dann Isaak, Ehrfurcht gebietend auch er, ein schöner, von göttlicher Weisheit verklärter Greis voller Hoheit und Würde. Und schließlich ein wenig hinkend: Jakob, der mit dem Engel gerungen hat - Jakob, von seinen Söhnen gefolgt. Ruben, Simeon, Levi - man kennt sie ja alle zwölfe. Alle, die er im Lauf eines langen und fruchtbaren Lebens gezeugt hat. Auch Isachar folgt ihm, auch der ägyptische Joseph, auch Benjamin. Acht vollgebürtige Söhne ziehen vorüber, drei halbgebürtige von des Erzvaters Jakob Nebenfrauen.

Wo aber bleibt der Zwölfte und Letzte? Naphtali fehlt noch aufs volle Dutzend, Naphtali muss sich verspätet haben.

Doch siehe! - vom hohen Rabbi herbeigezwungen, kommt endlich auch er zur Tür hereingestolpert, rothaarig, atemlos und verschwitzt. Mag sein, dass er draußen gewesen ist auf der Weide bei Jakobs Herde. Es mag eine Kuh gekälbelt, ein Schaf mag gelampelt haben: Das hat ihn beschäftigt, das hat ihn aufgehalten.

Sei’s drum! - der hohe Rabbi zu Prag hat schließlich auch ihn herbeigezwungen, kraft seiner Zaubermacht. Verspätet zwar, kommt auch Naphtali nun hereingestolpert über die Schwelle des Saals - und gewillt, sich dem Zug der Brüder, der Väter, der Vorväter anzuschließen, geschieht ihm ein Missgeschick. Naphtali strauchelt, Naphtali fällt vor versammeltem Publikum auf die Nase!


Gelächter erschallt in der Runde, vielstimmig. Selbst der Kaiser vermag sich des Lachens nicht zu enthalten. Was für ein Spaß! Kein französischer Jokuleur könnte drolliger, könnte vergnüglicher auf die Nase gefallen sein!

Das Gelächter hat kaum begonnen, kaum eingesetzt, da lösen die jüdischen Erzväter sich in Rauch auf. Die Decke des Saales umwölkt sich, Donnerschläge erdröhnen, Blitze zucken hernieder.

Der Hofstaat erstarrt vor Entsetzen, auch Rudolf, der römische Kaiser sieht es: Die Decke des Saales beginnt, sich herabzusenken, auf ihn und auf seinen Hofstaat. Tiefer und immer tiefer senkt sich die Decke des Saales auf sie hernieder, dem Bodenbrett einer riesigen Kelter gleich, einer Kelter, an deren Spindel ohne Erbarmen gedreht wird.

Fest gebannt sitzen alle auf ihren Plätzen. Der römische Kaiser, die Damen, die Herren seines Gefolges: Niemand vermag sich zu rühren. Sie sehen das Unheil auf sich herniederkommen. Die Decke des Saales wird sie zerquetschen, sie wird sie zu Brei zermalmen, das wissen sie. Und sie wissen auch, dass es unabwendbar ist.

Noch aber gibt es den hohen Rabbi der Prager Judengemeinde, den Rabbi Loew. Im letzten Augenblick tritt er dazwischen, im letzten Augenblick wendet der hohe Rabbi das Unheil von ihnen ab.

Er tritt in die Mitte des Saales. Beschwörend, beschwichtigend hebt er die greisen Hände empor und stemmt sie der Decke entgegen, die unaufhaltsam weiter auf sie und auf ihn herabsinkt.

Nicht unaufhaltsam, wie sich erweist. Dem Rabbi gelingt es, sie aufzuhalten. Mit bloßen Händen gelingt es ihm. Die stärksten Beschwörungen murmelt er - nein, er schreit sie aus voller Lunge hinaus, der Decke entgegen.

Was niemand für möglich gehalten hätte, der Rabbi vollbringt das Wunder, die Decke anzuhalten. Noch einmal sind sie davongekommen, der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation und sein Hofstaat.

Dem hohen Rabbi zu Prag sei dafür gedankt, auch wenn er es nicht geschafft hat, die Decke wieder zurückzustemmen, zur alten Höhe empor. Was soll’s! Den Saal, jenen kleineren, abgelegenen, hat der Kaiser am gleichen Tag noch auf ewige Zeiten zumauern lassen: so gründlich, dass man, trotz eifrigen Suchens, ihn nicht mehr auffinden können hat auf der Prager Burg, bis zum heutigen Tage nicht.

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