Drei Jahre waren wir nun unterwegs.
Mit welcher Verbitterung hatten wir die Erde verlassen! Flucht aus dem Sonnensystem – wir hatten uns wie Helden gefühlt. Erst später kamen die Zweifel: Niemand hatte uns aufgehalten. Wahrscheinlich waren sie froh, daß sie uns loswaren!
Natürlich waren wir enttäuscht! Unsere Revolution war zu Ende, bevor sie richtig angefangen hatte. Die Gruppen von Sportlern und Studenten, mit denen wir Verbindung aufgenommen hatten, ließen uns einfach im Stich. Hatten sie es von Anfang an nicht ernst gemeint?
Es war uns damals nicht schwergefallen, uns von der Erde zu trennen. Was wir zurückließen, erschien uns unwichtig. Wir verachteten die Menschen, die sich ohne einen Schimmer von eigenem Willen dem Reglement der Weltregierung unterwarfen. Es lohnte sich nicht, für sie einzutreten.
Drei Jahre sind eine lange Zeit. Drei Jahre in beengtem Raum – einige Wohnzellen, ein Kommunikationszentrum, eine Sport- und Trainingskabine. Abgesehen natürlich von den Maschinenräumen – aber was hatten Menschen dort zu suchen!
Die erforschten Distrikte lagen weit hinter uns. Noch niemand hatte sich in diesen abgelegenen Spiralarm des Sonnensystems verirrt. Wir hatten ungeheure Entfernungen zurückgelegt. Und doch veränderten sich die Muster der Sterne vor dem nachtschwarzen Himmel kaum. Das war alles, was uns der Blick durch die Luken bot.
Wir waren sechs: Boyd, der Psychologe und Soziologe, voll Initiative, begeistert von neuen Ideen; Mischa, Kybernetiker, Techniker, bedächtig, fast langsam, aber von einer unheimlichen Ausdauer, wenn es um das Erreichen von gesteckten Zielen ging; Nuru, Medizinstudent, mehrfacher Zehnkampfmeister der Afro-Olympiade, eine geballte Ladung Energie, aggressiv, unversöhnlich, zu keinem Kompromiß bereit; Ingrid, die es verstanden hatte, die Frauen der ganzen Welt in Aufruhr zu bringen, Politologin und Pädagogin, hochintelligent und meisterhaft in den Künsten der Demagogie; Naomi, Sprachstudentin und Leiterin unserer Kommunikationszentrale, ausdrucksstark und einfühlsam, ein ausgleichendes Element in einem System von Individualisten; schließlich ich, Andre, Kandidat der Rechtswissenschaft – über meine guten und schlechten Eigenschaften bin ich mir selbst nicht im klaren.
Als wir die aufregenden Tage des Durchbruchs hinter uns hatten und allmählich zur Ruhe kamen, hofften wir auf eine Situation, wie wir sie uns für die Erde gewünscht hätten: ein aktives Miteinander verschiedener Charaktere – verschieden in den Befähigungen, Vorlieben, Ausdrucksweisen, aber gleich im Willen zur Überwindung der körperlichen und geistigen Stagnation, die die Menschheit zu lähmen droht. Die kreative Gesellschaft, das war unser Ziel, und unser Zusammenleben würde ein Schulbeispiel dafür sein – so dachten wir.
Zuerst war jeder mit Begeisterung dabei. Durch das Los bestimmten wir von Woche zu Woche unsere Partnerschaft – wir teilten uns in drei Zweiergruppen, die die Probleme gemeinsam zu lösen versuchten, die wir uns stellten. Das wichtigste dabei war die Entwicklung von Modellen einer künftigen Gesellschaft. Erst heute fällt mir auf, daß diese Aktivität eigentlich sinnlos war, denn wir hatten nicht vor, je zur Erde zurückzukehren. Immerhin, je weiter wir kamen, um so größer war die Genugtuung, daß es uns gelang, die wunden Punkte zu finden, an denen die Menschheit krankte. Nach wie vor war uns unverständlich, daß das die andern offenbar nicht eingesehen hatten: Eine einheitliche Weltregierung führt unwiderruflich zum Erliegen der Entfaltung. Der einzige Ausweg ist eine Teilung der bewohnten Gebiete in unabhängige Territorien, die im Wettstreit miteinander stehen. Die Auseinandersetzungen müßten auf physischer und psychischer Ebene geführt werden. Wir befürworteten eine allgemeine Sportdienstpflicht für alle Einwohner zwischen 18 und 32 Jahren. Und wir traten dafür ein, künstliche Probleme zu stellen, wo es keine natürlichen mehr gab. Wir befürworteten eine teilweise Zerstörung der Datenbanken – mit der Auflage, das Wissen in allen Territorien unabhängig voneinander neu zu erarbeiten.
Damit hatten wir fürs erste genug zu tun, die Diskussionen waren lebhaft, wir zeichneten die Ergebnisse mit den Kommunikatoren auf, ließen es ordnen und zu einem Programm zusammenstellen.
Wir sorgten auch für unsere körperliche Leistungsfähigkeit. Natürlich bedauerten wir es, keine großen Sportanlagen zur Verfügung zu haben – Plätze für Hindernisläufe oder Spielfelder, gar nicht zu reden von einer Regattastrecke oder einer Laufbahn für Raketenautos. Trotzdem gab es genügend Anreiz zum Training und zur Leistungssteigerung. Auf den Laufbändern rannten wir um die Wette, wir stießen die Kugel gegen die Gummiwand und sprangen in einem Feld erhöhter Schwerkraft. Für Ballspiele hatten wir ein Spezialprogramm: Wir legten Sonden an Schläfen- und Muskelpartien, übertrugen die aufgenommenen Spannungen an den Computer und beobachteten auf einem Bildschirm die Spielsituation, die wir gedanklich erzeugt hatten.
Erst nach einigen Monaten machten sich Anzeichen der Ernüchterung bemerkbar. Es gab einige konkrete Anlässe: Mischa, der von Zeit zu Zeit die Automatik überprüfte, stellte übermäßigen Wasserverbrauch fest. Zwar waren wir bestens versorgt – mit Energie ebenso wie mit Nahrungsmitteln und Medikamenten –, doch das Wasser mußte wieder aufbereitet werden, und die Kapazität der Anlage war beschränkt. Nicht daß wir Mangel leiden mußten – es reichte für jeden zum täglichen Bad, doch konnte man es sich natürlich nicht leisten, stundenlange Dusch- und Spülbäder zu nehmen. Und doch mußte jemand Wasser verschwendet haben, denn es kam immer häufiger vor, daß einer von uns verärgert aus dem Baderaum zurückkam, weil das Wasser verbraucht war.
Noch stutziger machte uns eine andere Feststellung. Mischa teilte uns mit, daß einer von uns auch jene Übungen, die er in der Kabine ohne Schwierigkeiten hätte absolvieren können, gedanklich vornahm. Gewiß handelte es sich um nichts Ernstes. Bei uns gab es keine Vorschriften und keine Kontrollen, und es fiel uns nicht ein, wegen solcher Nebensächlichkeiten mit unseren Grundsätzen zu brechen. Trotzdem waren wir, wie wir zögernd zugaben, enttäuscht. Zwar erkundigte sich niemand offen danach, wer die stillschweigenden Übereinkommen brach, aber insgeheim hatte jeder seine Zweifel an diesem und jenem, und so kam ein Mißklang in unsere Gemeinschaft. Allmählich ließ auch das Interesse an den soziologischen Modellen nach. Längst war die Sonne ein Stern unter vielen geworden, und vielleicht lag es an der Entfernung von der Erde, daß uns deren politische Situation belanglos zu erscheinen begann. Bei den Brain-Storming-Sitzungen, bei denen jeder sagt, was ihm einfällt, ohne daß jemand kritisieren darf, wurde es zum ersten Mal unverschleiert ausgesprochen: Was kümmert uns eigentlich noch die Erde? Von da an ging es bei unseren Diskussionen mehr um unsere Zukunft als um das Vergangene und was sich daraus hätte entwickeln können.
Als wir von der Erde geflohen waren, hatten wir kein bestimmtes Ziel vor Augen. Unser einziger Gedanke war es, uns vor der Weltgesundheitsbehörde in Sicherheit zu bringen, die uns wahrscheinlich zur psychologischen Neuorientierung in eine Klinik geschickt hätte.
Vor unserer Flucht war mir selten der Gedanke gekommen, die Revolution könnte scheitern. Natürlich war ein Fluchtweg vorbereitet – das hatten wir aus dem Studium alter Schriften über Revolten und Aufstände gelernt –, aber wir hatten stillschweigend angenommen, wir würden auf einem der Planeten des bewohnten Distrikts landen, dort in den Untergrund gehen und an unserer Aufgabe weiterarbeiten.
Solche Ideen hatten sich aber später als illusorisch erwiesen. Das Eindringen der Super-V-Schiffe in die Gravitationsfelder von Planeten geht nicht ohne gravitationelle Störungen vor sich; man hätte unsere Ankunft sofort registriert. Da beschlossen wir kurzerhand, in unbekannte Räume vorzustoßen, einen Planeten zu suchen, der erträgliche Lebensbedingungen bietet, und dort von neuem anzufangen.
Es dauerte lang, bis wir uns von dieser romantischen Vorstellung trennten. Mischa hatte das als erster eingesehen, er rückte damit bei einer unserer Sitzungen heraus, die längst nicht mehr auf ein Thema konzentriert waren, sondern in ein mehr oder weniger planloses Geplauder übergingen. »Ich habe es durchrechnen lassen«, sagte er. »Wenn wir nicht innerhalb kurzer Zeit in den Status der Primitivität zurückfallen wollen, so müssen wir uns einem bestehenden Gesellschaftssystem anschließen.«
Solange wir es auch hin- und herdiskutieren – das Ergebnis stand fest. Unsere technischen Mittel würden in etwa einem Jahr erschöpft sein, und dann müßten wir mit Steinmessern und Faustkeilen neu anfangen.
Seit dem Projekt Ozma, dem ersten, noch vergeblichen Versuch, war es mehrfach zu Funkkontakten mit außerirdischen Intelligenzen gekommen. Ein Gremium von Gelehrten hatte damals die möglichen Folgen eines Wissensaustausches mit Extraterrestriern analysiert – und hatte daraufhin jede weitere Kommunikation untersagt; es fürchtete die größte Umwälzung in der Geschichte der Menschen, die denkbar wäre, und gemäß der offiziösen Einstellung durfte das um keinen Preis gewagt werden. Das störte uns freilich wenig, im Gegenteil, ein Zusammentreffen mit nichtmenschlichen intelligenten Wesen erschien uns als faszinierende Möglichkeit, aus dem alten Trott herauszukommen.
So hatten wir es seinerzeit gesehen – aus der sicheren Entfernung der Erde und ihres Schutzes. Als nun der Gedanke auftauchte, auf einem Planeten zu landen, auf dem unbekannte, intelligente Geschöpfe leben, überschlichen uns doch einige Zweifel.
Leider hatten wir keine Wahl mehr. Immer näher rückte der Augenblick, zu dem die Energiereserven erschöpft, die Nahrungsmittel aufgebraucht und das Wasser durch den Schwund versiegt sein würden. Aus einer Flucht ins Blaue wurde die Suche nach einem Ziel: Systematisch tasteten wir uns durch alle Wellenlängen durch – mit einer Reihe von Standardsignalen, die von den Informationstheoretikern als signifikantes Muster für die Kontaktaufnahme ausgearbeitet worden war. Aus Eroberern waren wir zu Emigranten geworden. Was wir suchten, war keine neue Heimat, sondern ein Asyl.
Die Landung ging nicht so reibungslos vor sich, wie wir gehofft hatten. Man hatte uns eine Landestelle zugewiesen, aber wir hatten sie nicht benutzt und uns selbst eine passende Stelle gesucht. Der Grund dafür? Obwohl wir keinerlei Verdachtsmomente hatten, so wuchs unser Mißtrauen gegenüber dem Fremden, je näher wir ihrem Planeten kamen. Wir schämten uns dieses Mißtrauens – länge genug hatten wir gegen ähnliche archaische Reaktionen auf der Erde gekämpft, die sich gegen alles richten, was nicht so aussieht wie die Norm. Die Abwehr gegen das Häßliche, gegen das Kranke, gegen das Fremdartige, gegen das Unverständliche … Hexenprozesse und Rassenwahn, Diskriminierung und Ghettos, Zwangsheilung und Neuorientierung … Aber es steckte tief in uns, wir konnten nichts dagegen tun. Jetzt, als diese Fragen nicht mehr theoretisch waren, sondern enervierende Wirklichkeit, verhielten wir uns so, wie sich Generationen vor uns verhalten hatten – argwöhnisch, unsicher, furchtsam …
Das Mißgeschick, das uns traf, war eigentlich eher dumm als gefährlich: Das Strahlenkissen, auf dem wir niedergingen, schmolz nämlich den Boden auf, und als wir aufsetzen wollten, versanken wir einige Meter tief in einem zähen Brei. Wir saßen drei Tage lang fest, ehe die Massen erkalteten und erstarrten, und als wir dann ausstiegen, brauchten wir keine Leiter, denn der Unterteil des Schiffes samt dem Landungssockel und den Antriebsdüsen saß tief in einer weißlichgrauen glasartigen Substanz, die bis knapp vor die untere Ausstiegsluke reichte.
Wie gesagt – es bedeutet keine unmittelbare Gefahr, die Folgen waren irrelevant: Es war nicht klar, wie wir das Fahrzeug wieder startklar machen sollten. Zunächst war es natürlich peinlich genug, daß wir nun auf unserem selbstgewählten Landeplatz festsaßen. Stundenlang starrten wir durch die Luken nach außen, um es rechtzeitig zu sehen, wenn sich etwas unserem Standplatz näherte. Aber es rührte sich nichts.
Rundherum eine bizarre Berglandschaft. Weiße Klippen, wie aus Eis, in der Sonne blinkend, die Hänge und Ebenen grau. Keinerlei Anzeichen von Vegetation, keine Bauten, Straßen oder andere technische Anlagen … Über allem ein grünblauer Himmel, das Anzeichen einer Lufthülle, die in den tiefen Schichten jener der Erde entspricht. Erst als wir schon ziemlich tief über dem Land schwebten, hatten wir einige Talzüge gesehen, in denen die eintönige Bergwüste unterbrochen war: kreisförmige oder ovale Flächen, braunrosa schimmernd, durch radiale Ausläufer miteinander verbunden. Dicht neben einer solchen Stelle hätten wir niedergehen sollen … Nun lag eine niedrige Hügelkette dazwischen …
Kurz nach der Landung hatten wir Funksprüche getauscht: Man hatte uns gefragt, warum wir nicht an der angegebenen Stelle gelandet seien. Wir redeten uns mit einem Fehler in der Navigation heraus. Und wieder schämten wir uns unserer Lüge.
Man hatte uns Asyl versprochen. Unbegrenzte Erlaubnis des Aufenthalts auf diesem Planeten, Freiheit der Bewegung, chemische Grundstoffe zur Produktion synthetischer Nahrungsmittel, Wasser. Man hatte uns auch Bedingungen auferlegt: Es war uns verboten, verändernd oder gar beschädigend in die Systeme und Anlagen einzugreifen. Nirgends klang irgendeine Emotion durch. Wir wußten nicht, wie man sich uns gegenüber einstellte. Waren wir erwünscht oder unerwünscht? Verstanden die Einwohner dieses Planeten, was uns hierher geführt hatte? Wurden wir beobachtet?
Am Abend des dritten Tages standen wir an der Luke neben der Ausstiegsöffnung und beobachteten unseren Robotwagen, der die Temperatur des Bodens und seine Festigkeit prüfen sollte. Noch immer hinterließen seine Kettenkufen Spuren im Boden. Mischa musterte die Meßgeräte des Telesystems. »Die Luft ist atembar, die Temperatur liegt bei 15° Celsius.«
»Die Längen von Tag und Nacht sind den unseren ziemlich ähnlich«, fügte Ingrid hinzu. »Sobald der Boden festgeworden ist, können wir hinausgehen.«
»Wenn wir das Schwebeboot nehmen«, sagte Nuru, »so könnten wir jetzt schon losziehen. Ich habe das Herumsitzen satt.«
»Wir haben Zeit«, entgegnete Mischa. »Weißt du, wieviel Zeit wir haben?«
»Morgen gehen wir hinaus«, entschied Boyd. Obwohl es bei uns keinen Führer oder Leiter gab, so schien sich Boyd doch allmählich in diese Rolle hineinzuversetzen. Ich weiß nicht, wie lang sich das Nuru oder Ingrid gefallen lassen würden. Mir selbst war es gleichgültig.
Doch auch am nächsten Morgen ging es nicht gleich los, sehr zum Ärger Nurus, der am liebsten allein aufgebrochen wäre. Doch Mischa war dafür, zuerst eine genaue Untersuchung des Bodens vorzunehmen – beispielsweise auf Mikroorganismen und pathogene Keime. »Die Überraschung bei der Landung genügt mir«, erklärte er, und als wir darüber abstimmten, behielt er recht.
Die Luft hatte sich als keimfrei erwiesen, es bestanden keine Bedenken, sie zu atmen. Die Gravitation war merklich geringer als die der Erde und damit auch als jene, die wir künstlich auf dem Raumschiff aufrechterhalten hatten. Diese Verhältnisse waren aber für uns keine Überraschung, denn wir hatten von vornherein nur Planeten in Frage gezogen, auf denen wir ohne Hilfsmittel leben konnten. Rätsel bereitete uns die Zusammensetzung des Bodens; sie hatte keine Ähnlichkeit mit dem Chemismus, wie wir ihn von der Erde und den erforschten Planeten her kennen. Die Grundsubstanz schien ein kohle- und siliziumhaltiges Mineral zu sein. Die Festigkeit war nicht allzu groß, der Schmelzpunkt niedrig.
Aber die Zusammensetzung des Bodens konnte uns gleichgültig sein. »Was soll das alles«, sagte Boyd, »wir sind doch keine Naturwissenschaftler!« Nun erst gab Mischa nach. »Von mir aus bestehen keine Bedenken. Also, fahren wir los.«
Wir hatten gelost: Mischa und Naomi mußten im Schiff bleiben. Wenn wir auch nicht mit Überraschungen rechneten, so wollten wir nicht unvorsichtig sein.
Wir andern setzten uns ins Schwebeboot und fuhren mit mäßiger Geschwindigkeit auf die Hügelkette zu. Zwar hatten wir lange genug darüber diskutiert, wie wir uns den Fremden gegenüber verhalten sollten, doch waren die Ergebnisse dürftig. Das einzige Hilfsmittel, mit dem wir uns ausgerüstet hatten, war ein kleiner Kommunikator, in dem wir die Grammatik und das Vokabular eingespeichert hatten, das wir während unserer Funkkontakts gelernt hatten. Wir hatten uns gefragt, ob wir Waffen mitnehmen sollten, doch die Abstimmung hatte dagegen entschieden.
Obwohl wir es zu verbergen versuchten, waren wir unruhig. Wir alle befanden uns zum ersten Mal in einer solchen Situation: Wir trafen mit Wesen zusammen, über die wir nichts wußten, nichts über ihr Aussehen, nichts über ihr Verhalten, nichts über ihre Absichten. Wir waren in derselben Lage wie Urmenschen, die sich einer fremden Siedlung nähern und nicht wissen, ob sie auf Kannibalen oder Götter treffen. Ich hätte mir niemals gedacht, wie drückend Unsicherheit sein kann.
In einer solchen Situation läßt sich auch kein Plan zurechtzimmern. Wie sollten wir auftreten? Was für Vorsichtsmaßnahmen konnten wir ergreifen? »Geben wir uns nicht völlig in ihre Hand?« fragte Boyd – nachdenklicher, als er sonst war.
»Es bleibt uns nichts übrig – auch wenn es uns nicht paßt«, antwortete Ingrid.
»Jetzt wird sich eben herausstellen, ob wir flexibel genug sind, uns einer unvorhersehbaren Sachlage anzupassen«, sagte ich, aber ich war weit weniger sicher, als ich mich gab. Es dauerte fast zwei Stunden, bis wir den Kamm der Hügelkette erreichten. Vor uns lag ein weites Tal, der Grund war eingeebnet und dort lagen die Anlagen, in denen wir die Wohnbauten der Fremden vermuteten.
Der Anblick war freundlich. Die Gebäude waren von einem farbigen Ring umgeben, blaue und grüne Töne herrschten vor, dazwischen gab es Sprenkel von rot, lila, purpur und gelb. Es bestand kein Grund, die Weiterfahrt zu verzögern, und wir setzten uns wieder in Bewegung.
Den Weg ins Tal brachten wir rascher hinter uns als den Aufstieg – auf dem Luftkissen fuhren wir wie auf einem Schlitten abwärts. Je näher wir an die Anlagen herankamen, um so vorherrschender wurde der Eindruck des Anheimelnden und Lieblichen. Die Umgebung der Gebäude war nichts anderes als ein ringförmiger Garten oder Park. Es gab moos- und farnartige Pflanzen, die sich polsterförmig in alle Mulden des weiß und grau geschichteten Gesteins setzten. An langen Halmen hingen Schmetterlingsblüten, von einem leichten Wind sanft bewegt. Darüber schwebten Tiere (oder Pflanzen?), die von der Form her an treibende Meerestiere, die fragilen Körper von Tintenfischen oder Quallen, erinnerten, aber sie waren bunt gemustert, mit sternförmiger Symmetrie, die Ränder dunkel, das Innere in leuchtenden Farben.
Es gab auch Wege durch die Gärten, allerdings zu schmal für unser Luftkissenboot. Freilich hätten wir auch über die Pflanzen fahren können, aber das wäre nicht ohne Schäden abgegangen, und das wollten wir um jeden Preis vermeiden.
Mischa setzte das Boot sanft auf eine Einebnung im Felsuntergrund ab, wir stiegen aus. Das Gefühl der Beklommenheit war gewichen, wir waren guter Dinge, voll gespannter Erwartung. Die Fremden mußten Wesen sein, die Verständnis hatten für Harmonie und Schönheit. Konnten sie böse sein?
»He, was ist das?« Es war Ingrid, die uns aus der Ruhe riß. Sie wies nach oben: Etwa vier oder fünf Meter über unseren Köpfen schwebten graubraune Spindeln, etwa kopfgroß, offenbar in schneller Rotation, wie man aus der verwischten Oberflächenstruktur ersehen konnte. Sie unterschieden sich so auffällig von den Formen der Tiere und Pflanzen, paßten so wenig an diesen Ort, daß sie uns sofort als Drohung erschienen. Als wir sie entdeckt hatten, blieben sie nur noch einige Sekunden über unseren Köpfen hängen, dann bewegten sie sich unversehens in einer schräg anlaufenden Kurve aufwärts und verschwanden aus unserem Blickfeld.
Wir waren stehengeblieben, stritten über die seltsamen Gebilde. Boyd hielt sie für Tiere und meinte, wir sollten uns nicht um sie kümmern. Nuru meinte, es könnten Waffen sein und riet, bei den Fremden zu protestieren. Ingrid vermutete, es handelte sich um Beobachtungssonden – man müsse den Einheimischen zugestehen, daß sie auch uns gegenüber vorsichtig waren.
Nach einer Weile setzen wir unseren Weg zu Fuß fort. Seit dem Auftauchen der seltsamen Gebilde waren wir nicht mehr so unbefangen und schauten uns immer wieder um, besonders, als wir später, in Nähe, der Häuser, zwischen mannshohen Büschen dahingingen, die die Sicht unterbanden. Ganz plötzlich standen wir vor einem Gebäude, nur einige Schritte davon entfernt.
»Da! Seht!« – mehrere von uns riefen gleichzeitig, alle sahen es. Die Wände des Bauwerks waren durchsichtig, an der anderen Seite drängten sich Gestalten an der Wand, starrten zu uns herüber – es waren, soweit man durch die trüben Wände erkennen konnte, Menschen oder zumindest menschenähnliche Wesen. Ihr Verhalten ließ zwar auf Erstaunen schließen, war aber in keiner Weise bedrohlich. Wir traten einige Schritte näher, und sahen, daß die Gesichter freundlich waren. Einige winkten uns zu.
»Hat man uns erwartet?« fragte Ingrid.
Boyd zuckte die Schultern. »Kommt!«
Wir sahen uns nach einer Tür um. Nur wenige Meter seitwärts war ein Eingang, er schien unversperrt und wir traten langsam hinzu. Nuru war der erste, der sich ins Innere wagte, er ging einige Schritte vor, dann drehte er sich um und winkte uns. Wir folgten ihm …
Hier im Inneren war es hell, fast so hell wie außen – die Decken bestanden aus demselben rötlich durchsichtigen Material wie die Wände. Nur die Böden waren undurchsichtig, eine Art ungleichmäßiger schwarzbrauner Kacheln.
Und dann standen wir den Bewohnern dieses Gebäudes gegenüber. Es war eine kleine Rasse, aber es handelte sich zweifellos um Menschen. Sie sahen ein wenig exotisch aus, die Haut war hellbraun, die Haare weißblond oder weiß. Sie trugen sie in der Mitte gescheitelt, die Frauen hielten sie mit Stirnbändern zusammen. Sie hatten lose Gewänder an, Röcke und Umhänge. Ihre Füße waren bloß – Ingrid, die neben mir stand, stieß mich verstohlen an und flüsterte mir zu: »Sie haben nur vier Zehen!« Dadurch erst aufmerksam geworden, musterte ich ihre Hände – sie hatten auch nur vier Finger. Aber das war auch das einzige, was sie von uns – zumindest äußerlich – grundlegend unterschied.
Wir standen uns ein wenig zögernd gegenüber, wobei mir vorkam, als bereitete den andern die Begegnung lang nicht soviel Erstaunen wie uns. Als wir noch ein wenig näher kamen, hoben sie ihre linken Arme hoch und zeigten uns die Handflächen; darin lagen schwarz glänzende Plättchen. Ein Gruß? Ein Erkennungszeichen? Auch wir hoben die Hände zum Gruß. Einer der Männer trat vor und sagte etwas zu uns … Es klang angenehm, ein fast singender Ton mit vielen Vokalen, aber wir verstanden natürlich nichts. Boyd zog sein Taschensprechgerät heraus und stellte die Verbindung mit dem kleinen Kommunikator her, den wir im Luftkissenboot zurückgelassen hatten. Er sprach einige Worte hinein – einen Gruß, einen Dank für die freundliche Aufnahme … Nach Bruchteilen von Sekunden kam die tonale Umsetzung der Modulationsfrequenzen, wie wir sie während unseres Funkkontakts aufgenommen hatten, aber wir merkten es sofort: Diese Sprache war nicht die gleiche wie jene, die diese Menschen sprachen. Das Unverständnis sah man auch ihren Gesichtern an.
Boyd versuchte es noch einige Male, er veränderte den Transpositionscode, doch es war leicht zu bemerken, daß auf diese Weise nichts zustande kommen konnte, das auch nur Ähnlichkeit mit dem Idiom unserer Gesprächspartner hatte.
Seltsamerweise wandten sich die andern nun allmählich von uns ab, einer nach dem andern lächelte uns zu und verschwand irgendwo in dem verwirrenden Gebäudekomplex, dessen trüb durchsichtige Wände die Orientierung erschwerten. Bald standen wir wieder allein da, ein wenig ratlos, fast ein wenig gekränkt durch das geringe Interesse, das man uns widmete.
»Wir müssen zu einer Verständigung kommen«, sagte Boyd. »Ich will versuchen, möglichst viel Gespräche aufzunehmen, als Grundlage für ein Vokabular und eine Grammatik. Vielleicht bleibst du am besten bei mir, Nuru, die andern können sich ja inzwischen umsehen. Ich schlage vor, wir treffen uns in einer Stunde wieder hier.«
Wir waren einverstanden. Während sich Boyd und Nuru nach Einwohnern umsahen, die sie am besten in ein Gespräch verwickeln könnten, gingen wir zum Gang zurück, um andere Teile des Gebäudes zu erkunden. Wieder war es Ingrid, die eine merkwürdige Entdeckung machte. Sie war zur Seite getreten, um einem Mann und einer Frau, die gemeinsam daherkamen, den Weg freizugeben, und berührte dabei die Wand. Das heißt, sie hätte sie berühren müssen, aber … »Kommt her!« rief sie uns zu. Sie stand an der Wand und hatte den Arm hindurchgesteckt. Sie konnte ihn frei bewegen, streckte auch ein Bein aus – der Fuß drang ebenso ein wie die Hand.
Wir alle folgten ihrem Beispiel. Man spürte zwar einen leichten Widerstand wie in einer dünnen Flüssigkeit – und ein leichtes Kribbeln, aber das bedeutete kein Hindernis. Wenn man wollte, konnte man durch die Wand hindurchgehen, und es war Nuru, der das als erster tat. Wenn es unser Wunsch gewesen wäre, so hätten wir das ganze Gebäude durchqueren können, einfach durch die Wände hindurch.
Aber noch merkwürdiger war es, daß unser Verhalten die Einwohner nicht im geringsten zu verwundern schien. Hätten auch sie durch die Wände gehen können? Warum tun sie es nicht? Handelte es sich um eine Konvention, der sie freiwillig folgten?
Nach kurzer Diskussion beschlossen wir, uns zunächst einmal so zu bewegen, als bildeten die Wände auch für uns undurchdringliche Hindernisse. Vielleicht handelte es sich um eine Art von Markierung, durch die gewisse Raumteile getrennt wurden, und wenn es auch nicht den Anschein hatte, als könnten wir die Bewohner des seltsamen Gebäudes aus der Ruhe bringen, so wollten wir sie doch nicht provozieren.
Die Einrichtung des Gebäudes gab uns weiter keine Rätsel auf. Es gab Sitzgelegenheiten, Stühle, Lehnsessel, Liegen … Es gab niedrige Tische und hin und wieder einmal ein offenes Regal. Die meisten Einwohner schienen süßem Nichtstun nachzuhängen, einige saßen an den Fenstern und blickten hinaus – es war auch ein schöner Anblick. Von hier aus, hinter dem Vordergrund der Gärten, sahen die hellen Berge majestätisch aus – kühl, aber nicht abweisend. Doch nur wenige der Menschen verließen die Gebäude, um zwischen den Pflanzen spazierenzugehen, und keiner bewegte sich über die bepflanzte Fläche hinaus.
Einige Leute saßen oder lagen um Spielbretter herum, sie schoben Figuren hin und her, reihten sie zu Figuren nebeneinander. Wir kamen auch in eine größere Halle, in der mehrere dabei waren, einen schwebenden Ball mit den offenen Handflächen hin- und herzuschlagen. Alles in allem nichts, das in irgendeiner Weise aufregend gewesen wäre. Allerdings sahen wir uns vergeblich nach Räumlichkeiten um, wie wir sie für unsere täglichen Bedürfnisse brauchen. Es gab weder eine Küche noch ein Speisezimmer, kein Bad und keine Toilette. Außerdem schien niemand an so etwas wie Arbeit zu denken.
Es wurde allmählich spät, und wir mußten an den Rückweg denken. Plötzlich bemerkten wir eine Bewegung, die durch alle Einwohner zu gehen schien. Sie standen von ihren Spielbrettern auf, traten von den Fenstern zurück, schienen sich in einen bestimmten Teil der Räume zu begeben. Und dann wurde es mit einem Schlag dunkel. Hätten wir nicht schon die Richtung zum Ausgang eingeschlagen gehabt, so hätten wir uns rettungslos verirrt. So aber tappten wir vorwärts, durch die Wände nicht behindert, aber immer wieder über Möbelstücke stolpernd. Unversehens standen wir im Garten. Hier war es hell, obwohl die Sonne inzwischen untergegangen war. Aber am Himmel, in einer Höhe von nur wenigen hundert Metern, hing ein helleuchtender Körper. Und nun sahen wir auch, was den plötzlichen Einbruch der Dunkelheit verursacht hatte: Die Wände waren undurchsichtig geworden.
Kurze Zeit später kamen Boyd und Nuru durch die Wand in Freie getreten.
Auch für uns war es Zeit, den Tag zu beschließen. Wir gingen zum Schwebeboot zurück, das wir unversehrt an jener Stelle wiederfanden, an der wir es abgestellt hatten. Wir stiegen ein und fuhren zum Raumschiff zurück. Am nächsten Tag starteten wir früh am Morgen. Über die Bedeutung dessen, was wir gesehen hatten, waren wir nicht einig geworden. Einige hielten diese Menschen für eine Gesellschaft glücklicher Träumer, deren Leben offenbar friedvoll in geregelten Bahnen verlief – gewissermaßen ein idealer Endzustand jeder gesellschaftlichen Entwicklung. Andere hatten eher den Eindruck einer stumpfsinnigen Herde gewonnen, die passiv in den Tag hineinlebte – ein Dasein ohne Probleme, Aufgaben und Ziele. Wir stimmten aber darin überein, daß sich Endgültiges noch nicht sagen ließ und daß es zunächst am wichtigsten war, zu einer sprachlichen Verständigung zu kommen. Die Auswertung der Sprachaufnahmen hatte noch kein brauchbares Ergebnis gezeigt, und Boyd brannte darauf, seine Arbeit fortzuführen. Mischa war von den unerklärlichen Eigenschaften der durchlässigen Wände beeindruckt; er hatte einen Meßroboter mitgenommen, mit dessen Hilfe er ihrem Rätsel nachgehen wollte. Auf mich hatte der plötzliche Einbruch der Dunkelheit den größten Eindruck gemacht. Zwar meinte Boyd, er hätte nichts anderes zu bedeuten als das Signal zur Nachtruhe, aber ich vermutete, daß damit das Geheimnis noch längst nicht erklärt sei. Da wir keinerlei Einrichtungen zur Ernährung, zur Körperpflege und dergleichen vorgefunden hatten, mußten sich diese Dinge während der Nacht abspielen. Ich wollte mir die Zellen genauer ansehen, in denen die Leute verschwunden waren.
Wie am Vortag stiegen wir am Rande der Anlagen aus – wir, das waren Boyd, Mischa, Naomi und ich; Nuru und Ingrid waren im Raumschiff geblieben. Als wir das Gebäude betraten, winkten uns einige der Bewohner zu – mit freundlicher Lässigkeit, so, als wären wir alte Bekannte, deren Besuch einen weder freut noch ärgert. Wir gingen an unsere Arbeit, ohne daß uns jemand daran störte. Die Leute sahen kurz auf, wenn wir hereinkamen, aber sie wandten sich sofort wieder ihrer Beschäftigung zu, wenn man von einer solchen sprechen kann: Spielen, Träumen, Nichtstun.
Boyd hatte ein »Opfer« gefunden, ein Mädchen, das bereit war, sich mit ihm zu unterhalten. Wie bei einem Spiel mit Kindern zeigte Boyd auf verschiedene Gegenstände, und Mara sagte die dazugehörigen Worte. Es hatte lange gedauert, bis sie das begriffen hatte.
Das alles sah recht heiter und unbeschwert aus. Mara war ein bemerkenswert hübsches Mädchen; in Wirklichkeit hatte sie einen anderen, schwer aussprechlichen Namen. Boyd hatte sie Mara genannt – nach dem Marsmädchen des bekannten Romans von Walt Surakoff. Die einfache Aufgabe schien große Konzentration von ihr zu fordern, sie war mit Eifer bei der Sache, ihre Wangen hatten sich gerötet, ihr Atem ging rasch. Boyd blieb mit einem Schwebemikrophon dicht bei ihr, man merkte, daß es auch ihm Spaß machte. In einem Spontanentschluß griff er in die Tasche und reichte Mara eine Vitaminkapsel. Da sie offensichtlich nicht wußte, was sie damit anfangen sollte, teilte er einige weitere an uns aus, und wir zeigten ihr, wie man sie in den Mund steckt und lutscht. Nach einigem Zögern machte sie es nach … und spuckte sie gleich darauf mit allen Zeichen des Abscheus wieder aus.
»Du solltest vorsichtiger sein«, riet Mischa. »Wir kennen ihren Metabolismus nicht.«
Es war kaum zu glauben, daß diese Wesen einen grundsätzlich anderen Stoffwechsel haben sollten, so sehr sahen sie wie Menschen aus. Berücksichtigte man freilich die andere Welt, die fremdartigen Pflanzen und Tiere, dann lag es freilich nahe, daß sich Abweichungen in der chemischen Struktur der Nähr- und Wirkstoffe zeigen mußten. Meine Vermutung ging allerdings noch weiter. Wenn ich die Ungeschicklichkeit bedachte, mit der Mara die Kapsel in den Mund gesteckt hatte, ihre Verblüffung, ihren Abscheu … Mir kam es eher vor, als wären ihr Süßigkeiten völlig unbekannt, ja, als hätte sie keine Ahnung von Essen oder Trinken. Diese Vermutung ging natürlich recht weit, sie war aus dem eben erlebten Geschehnis nicht zwingend abzuleiten, aber sie deckte sich mit der Tatsache, daß wir nirgends Nahrungsmittel gefunden hatten. Aber wovon ernährten sie sich? Und wie? Wie deckten sie ihren Flüssigkeitsbedarf? Offenbar waren es Menschen von Fleisch und Blut! Maras Lippen waren feucht, ihr Atem warm, ihre Haare knisterten … das waren keine Roboter oder Puppen. Oder war ich unversehens der Wahrheit nähergekommen?
Mischa setzte nun seinen Meßwagen in Funktion; für die nächste Zeit war er beschäftigt. Naomi und ich begannen mit einem Streifzug durch das Gebäude, fast war es eine Führung, denn Naomi war zum ersten Mal hier, doch auch ich bemerkte hier und da Einrichtungen, die mir gestern entgangen waren. So gab es beispielsweise Räume, in denen eine Art Tanz vor sich ging; die Tänzer bewegten sich mit langsamen Schritten, verhielten wieder, veränderten ihre Figuren … einige Zuschauer waren darum herum versammelt, von Zeit zu Zeit trat einer davon zu den Tänzern oder einer der Tänzer setzte sich an den Rand und sah zu. In einem anderen Raum bewegte sich ein seltsames Gebilde. Es erinnerte an einen farbig beleuchteten Springbrunnen, der immer wieder anders geformte Kaskaden aufwirft und ausbreitet … aber es war kein Springbrunnen, war kein Wasser … Es mußte irgendein mir unbekanntes, diffuses Material sein, eine Flüssigkeit oder ein schweres Gas, vielleicht etwas, was dem Material der Wände ähnlich war. Ich beschloß, Mischa darauf aufmerksam zu machen. Es waren stets einige Leute versammelt, in der Betrachtung der gleitenden Formen und Farben versunken.
Mich zog es indes in den hinteren Teil des Wohnblocks, dorthin, wo die Schlafräume zu liegen schienen. Jetzt war ich mir freilich nicht mehr sicher, ob es sich tatsächlich um Schlafräume handelte; wer konnte sagen, ob diese Wesen so schliefen wie wir. Freilich sprach nichts dagegen. Es handelte sich um enge Zellen, spartanisch ausgestattet, schmale Liegen, kaum 50 cm breit, mit einem schwammartigen Kunststoffmaterial überzogen. Einrichtungen fehlten fast völlig – höchstens ein Tuch, das auf dem Boden lag, oder ein Gegenstand von eigenartiger Geometrie, ein Oktaeder oder Dodekaeder, vergleichbar den Kristallmodellen unserer Lehrfilme. Ihre Bedeutung war nicht zu ersehen.
Es mußte gegen elf Uhr vormittag sein – Noami und ich streiften ziellos in den Anlagen herum –, als es wieder, wie gestern abend, wie ein Hauch durch das Gebäude wehte. Die Menschen schoben ihre Spielbretter zurück, traten von den Fenstern weg, erhoben sich, wandten sich von ihren Tänzen und Vorführungen ab … So war es auch gestern gewesen, kurz bevor die Wände undurchsichtig geworden waren. Ich packte Naomi beim Arm, um sie nicht zu verlieren, wenn die Dunkelheit hereinbräche, und das erwies sich als richtig: Man konnte es fast beobachten, obwohl es in Sekundenschnelle ablief – der schwache rosa Ton des »Gemäuers« wurde dunkler, tintigbraun … Die Nacht war hereingebrochen.
Es kam nicht mehr ganz so überraschend wie am Tag vorher, ich hatte mir die Richtung eingeprägt, ich zog Naomi mit mir und ich vermied es, allzuoft an Stühlen und Liegen anzurennen, indem ich innerhalb der Wände vorwärts zu kommen suchte – man merkte es am leichten Widerstand und am Kribbeln wie von elektrischer Wechselspannung.
Kurze Zeit waren wir wieder vor dem Gebäude versammelt, die gelblich scheinende Sonne dieses Planeten stand hoch am Himmel, hier draußen herrschte Tag – und ewig schönes Wetter, es hatte noch keinen Regentag gegeben, nicht einmal Wolken. Diesmal waren wir weniger erschreckt als über die Unterbrechung unserer Arbeit verärgert.
»Gerade jetzt hatte ich Mara so weit, daß sie zu verstehen schien, was ich von ihr will«, sagte Boyd. »Sie ist mir einfach davongelaufen!«
»Vielleicht halten sie Mittagsruhe?« meinte Mischa.
»Es dürfte nicht allzu lange dauern«, sagte ich. »Als wir gestern nachmittag hier ankamen, war alles normal.«
»Na schön, wir könnten auch eine Pause einlegen!« sagte Boyd. Wir gingen langsam zu unserem Gleiter zurück, packten unsere Proviantpakete aus, setzten uns auf den weißen Fels und blickten ins Tal. Die Spannung war von uns gewichen, wir waren ein wenig müde, und als ich mich nach dem Essen zurücklehnte und ein wenig die Augen schloß, war ich innerhalb einer Minute eingeschlafen.
Erst ein Ruf von Boyd weckte mich. Als ich die Augen öffnete, sah ich, daß die dunkelbraune Farbe des Gebäudes gewichen war – es war rosa getönt und durchsichtig wie zuvor. Wir konnten wieder an die Arbeit gehen.
Dieser Tag brachte keine wesentlichen Ergebnisse mehr. Als wir am Abend im Raumschiff beisammensaßen, um die Ergebnisse zu diskutieren, waren wir so klug wie zuvor. Boyd und Nuru zeigten sich verärgert darüber, daß sie mit ihren Sprachuntersuchungen so langsam vorankamen. »Ihr Sprachschatz ist beschränkt, man bringt sie nur selten dazu, in ganzen Sätzen zu reden. Es wird noch einige Zeit dauern, ehe wir mit ihnen sprechen können.«
»Wir haben ja die Möglichkeit, uns über Funk zu unterhalten«, sagte Naomi.
»Eigentlich ist es höchst seltsam, daß sie sich über Funk einer anderen Sprache bedienen als sonst«, sagte Mischa.
»Ich beginne daran zu zweifeln, daß es sich um dieselben Lebewesen handelt«, meinte Nuru. »Jene, mit denen wir über Funk in Kontakt traten, sind kühle Rechner, sie sind kurz, knapp und prägnant in der Ausdruckweise, kühl und vorsichtig im Verhalten …«
»Wer sagt dir das?« meinte Ingrid. »Aus ein paar Funksprüchen kann man doch kaum auf die Wesensart des Absenders schließen!«
»Warum nicht?« fragte Boyd. »Die Gegensätze sind zu auffällig. Die Bewohner des Gebäudes machen nicht den Eindruck, als ob sie die Kenntnisse und die Ausdauer hätten, eine Verständigung mit andern Geschöpfen aufzunehmen, die von einem fernen Teil des Raumes zu ihnen kommen. Mir kommen sie naiv vor, naiv und dumm.«
Ingrid schüttelte den Kopf. »Aber wir haben doch bisher nur einen kleinen Teil dieser Welt kennengelernt! Vielleicht handelt es sich um einen Teil der Bevölkerung, der geistig zurückgeblieben ist. Vielleicht sitzen die maßgebenden Leute woanders.«
»Wir könnten uns doch über Funk über die Verhältnisse erkundigen«, schlug Mischa vor, doch er stieß auf Abwehr. Alle andern, ich eingeschlossen, waren der Meinung, wir sollten noch ein wenig abwarten, nichts drängte uns zum schnellen Handeln.
Am nächsten Tag blieb ich mit Naomi im Raumschiff zurück, während sich die andern zu ihrem täglichen Ausflug auf den Weg machten, der schon allmählich zur Gewohnheit wurde. Um mich sinnvoll zu betätigen, versuchte ich mit Hilfe unseres Arbeitsroboters den Boden um das Raumschiff herum zu lockern. Wenn ich es mir auch nicht eingestehen wollte, so empfand ich es als unangenehm, auf diesem Planeten festgehalten zu sein. Der Boden erwies sich aber als außerordentlich zäh, er widerstand jedem mechanischen Eingriff, und ich mußte Laserstrahlen einsetzen, um die Massen zu lockern. Am Abend hatte ich erst eine Schicht von höchstens einem Meter entfernt. Das Raumschiff saß noch immer fest.
Als die andern am Abend zurückkehrten, traute ich meinen Augen nicht: Boyd hatte Mara mitgenommen. Ein wenig unsicher, aber keineswegs furchtsam kam sie mit ins Raumschiff, sah sich neugierig um, allerdings ohne übertriebenes Interesse zu zeigen.
»Was ist euch da nur eingefallen?« – Ich machte keinen Hehl daraus, daß ich das für ein Risiko hielt.
»Wir brauchen sie hier, wenn wir uns in absehbarer Zeit verständigen wollen. Hier kann ich direkt mit dem großen Kommunikator arbeiten«, erklärte Boyd.
»Ist sie freiwillig mitgekommen«, fragte Naomi, »oder habt ihr sie mit Gewalt …«
»Aber nein«, antwortete Boyd. Er nahm Mara bei der Hand und führte sie in den Kommunikationsraum. »Stört uns jetzt nicht!«
»Wir haben abgestimmt, Nuru und Boyd waren dafür, Ingrid und ich dagegen«, sagte Mischa fast entschuldigend.
»Soll sie über Nacht hierbleiben?« fragte ich.
»Ja, wir haben genug Platz, sie kann hier schlafen. Am nächsten Tag nehmen wir sie wieder mit zurück.«
Mit Mara war ein Mißton in unsere Gruppe gekommen. Ich erinnerte mich an das Gebot, das wir über Funk erhalten hatten – das wir keine Störungen oder gar Schäden verursachen sollten. Und ich wurde noch skeptischer, als mir Mischa später eingestand, daß Mara das Territorium des Parks nicht freiwillig verlassen hatte: Boyd und Nuru hatten sie mit sanfter Gewalt in den Gleiter gebracht. Aber auch Ingrid zeigte sich wenig erfreut. Bei ihr hatte ich allerdings den Eindruck, daß nicht nur sachliche Erwägungen maßgebend waren; in letzter Zeit war sie mit Boyd liiert gewesen, und sie übersah nicht, daß Mara ein hübsches Mädchen war.
Boyd arbeitete bis spät in die Nacht hinein mit Mara, sie machte einen erschöpften Eindruck, als die Sitzung beendet war. Wir hatten eine Liege in den Abstellraum gebracht, als Nachtlager für Mara; es war eng hier, aber sie war ja die enge Zelle gewöhnt. Sie schien auch sofort einzuschlafen, und auch wir andern gingen zur Ruhe – außer Boyd, der die ersten Ergebnisse des Kommunikators abwarten wollte.
Als wir am nächsten Morgen aufstanden, sah Naomi nach Mara, und gleich darauf hörten wir sie rufen. Wir liefen hinzu und erschraken: Mara lag bewegungslos und bleich auf ihrem Lager, die Augen waren geschlossen, sie schien kaum zu atmen. Nuru fühlte ihr den Puls und hob ein Augenlid. »Sie lebt«, verkündete er, »aber ihr Zustand ist besorgniserregend. Sie atmet kaum, der Puls ist nicht zu fühlen – aber das muß nichts zu bedeuten haben, denn wir wissen ja nicht, ob ihre Adern denselben Verlauf haben wie unsere.«
»Wir müssen sie schnellstens zurückbringen!« sagte Mischa.
Wir trugen sie in das Luftkissenboot und fuhren los. Als wir ankamen, wies Ingrid nach oben: Dort schwebten wieder fünf der spindelartigen Körper, die wir bei unserem ersten Besuch beobachtet hatten. Diesmal nahmen sie keine Notiz davon, daß wir sie offenbar bemerkt hatten, sondern blieben über unseren Köpfen schweben.
Wir trugen Mara durch den Park, in das Gebäude hinein, und da wir nicht feststellen konnten, welche Zelle die ihre war, so legten wir sie in die erste beste.
Ich weiß nicht, ob wir erwartet hatten, daß etwas geschehen würde … Jedenfalls ereignete sich nichts. Mara lag bewegungslos auf ihrer Liege, wir standen darum herum, von den Einwohnern kümmerte sich niemand um uns oder Mara.
»Sie sind stumpfsinnig«, sagte Boyd. »Sie scheinen weder Zuneigung noch Sorgen um den andern zu kennen. Ich kann mir nicht denken, daß sie die Herren dieses Planeten sind.« Er drehte sich um. »Ich hole meinen Kommunikator«, erklärte er.
Pünktlich wie an den vorhergehenden Tagen wurden am späten Vormittag die Mauern undurchsichtig. Diesmal aber hatten wir Lampen mitgenommen – wir wollten wissen, was mit den Menschen, die ihre Zellen aufgesucht hatten, geschah. Und wir sahen es: Mit einemmal lag eine Art Deckel über dem Bett und schloß den Liegenden ein; was dadurch entstand, sah einem Sarg penetrant ähnlich. Und dann ging ein Ruck durch den Behälter, und er sank in den Boden hinein und entzog sich unseren Blicken. Der Boden schloß sich wieder, die Zellen waren leer.
Wir hatten keine Lust, bei künstlichem Licht im Innern herumzustreifen, wir verließen das Gebäude und gingen zum Luftkissenboot.
»Ich glaube, es handelt sich um eine Art Regeneration«, sagte Ingrid. »Ich hoffe nur, daß Mara keinen Schaden davongetragen hat. Es könnte peinlich für uns werden, jemand Schaden zuzufügen.«
»Ist das alles, was dich daran stört?« fragte Naomi. Zum ersten Mal sah ich sie richtig empört. »Ob diese Menschen intelligent sind oder dumm, ist doch ganz gleichgültig! Wir haben kein Recht, sie als Versuchskaninchen zu verwenden!«
»Ach was, du übertreibst!« entgegnete Boyd. Aber es war ihm offenbar nicht wohl in seiner Haut.
Als das Gebäude nach etwa einer Stunde seine Transparenz wiedererlangte, beeilten wir uns, wieder nach unten zu kommen. Hastig durchstreiften wir die Räume – wir suchten Mara. Uns allen fiel ein Stein vom Herzen, als wir Nurus Stimme durch die Räume schallen hörten: »Hier ist sie! Sie ist gesund!« In der Tat – sie sah blühend aus wie am Tag zuvor, sie lächelte uns zu, schien uns zu erkennen. Und dann trat sie auf Boyd zu, hob die Hand – darin lag das dunkle Metallplättchen, das jeder von ihnen zu besitzen schien. Boyd griff nach ihrer Hand, schloß seine Finger darüber – selten hatten wir ihn so ergriffen gesehen. »Ich bin froh, daß es dir wieder gutgeht«, sagte er. »Ich glaube, wir werden uns gut verstehen – wenn wir erst miteinander reden können.« Jetzt erst ließ er ihre Hand los. Er drehte sich um und zog den Kommunikator heran. »Wir wollen es einmal versuchen!«
»Kannst du mich verstehen, Mara?« Er sprach in das Schwebemikrophon, der Kommunikator übersetzte in die gutturale Sprache der Einheimischen.
Zuerst reagierte Mara nicht, Boyd wiederholte seine Frage.
Noch immer zögerte Mara. Dann aber sah man ihr an, daß sie zu begreifen begann – sie sagte etwas, der Kommunikator übersetzte: »Ich verstehe dich.«
»Seht ihr«, rief Boyd, »jetzt sind wir soweit.«
Wir alle waren froh darüber – bald würden sich die Rätsel dieses Planeten gelöst haben! Wir sprachen durcheinander:
»Frag sie, wie sie sich ernähren!«
»Frag, ob es irgendeinen Leiter oder Vorgesetzten gibt!«
»Frag sie, wie alt sie ist!«
»Warum gibt es keine Kinder und keine alten Leute?«
»Stehen sie in Verbindung mit anderen Siedlungen?«
»Weiß sie, wer mit uns die Funkverbindung aufgenommen hat?«
Boyd folgte unseren Wünschen, und Mara bemühte sich zu antworten. Das Ergebnis war mager. Oft dachte sie lange nach und antwortete dann »Ich weiß es nicht«. Oft schüttelte sie nur traurig den Kopf. Sie schien bald müde zu werden und die Lust an diesem Spiel zu verlieren. Boyd wandte sich an andere und fand auch da und dort jemanden, der bereit war mitzumachen. Aber diese Menschen schienen wenig Ausdauer zu haben, sie gaben bald auf, und außerdem zeigten sie sich überraschend teilnahmslos: Keinem fiel es ein, eine Gegenfrage zu stellen – wer wir seien, woher wir kämen …
Die Ausbeute, über die wir uns am Abend im Raumschiff unterhielten, war dürftig. Diese Menschen wußten weder, woher sie stammten, noch machten sie sich Gedanken über ihre Zukunft. Der Begriff des Alters war ihnen unbekannt, sie wußten nichts von Kindern oder Greisen, sie erinnerten sich nicht, wer ihnen das wenige beigebracht hatte, was sie wußten, sie hatten keine Ahnung von Geburt und Tod. Sie lebten in ihren Siedlungen, ohne Kontakt mit anderen Gruppen, in der Nacht fuhren sie zur Regeneration, am späten Vormittag hatten sie eine Stunde zu »arbeiten«; das war ihre einzige Pflicht. Was während der »Arbeitszeit« geschah, wußten sie nicht. Um sie herum wurde es dunkel, nach einer gewissen Zeit erwachten sie wieder, ein wenig erschöpft, ein wenig abgespannt … Sie fühlten sich glücklich, niemand dachte an eine Änderung ihrer Situation, niemand hatte besondere Wünsche oder Probleme.
Natürlich hatten wir uns auch nach Details erkundigt, die uns aufgefallen waren, beispielweise der Eigenart der Wände. Über physikalische und chemische Dinge wußten sie nichts, hatten nie darüber nachgedacht, alles als selbstverständlich genommen. Auch die Bedeutung der Plaketten kannten sie nicht. Sie wußten nur, daß sie sie vorweisen mußten, wenn eine »Kontrolle« war. Was war eine »Kontrolle«? Wir bekamen keine befriedigende Auskunft. Es mochte sich um Besucher von außen handeln, oder um Beobachtungssonden, oder um Signale welcher Art auch immer. Wir hatten darum gebeten, eine dieser Plaketten genauer ansehen zu dürfen, waren aber auf entschiedene Ablehnung gestoßen.
Was hatte das alles zu bedeuten? Unsere Meinungen waren geteilt. Nuru meinte, es handelte sich um eine unterdrückte Klasse, die von irgendwelchen Leuten im Hintergrund ausgebeutet würden, und Boyd schloß sich seiner Meinung an. Ich hatte nicht den Eindruck einer Ausbeutung, die Menschen machten auf mich einen restlos glücklichen Eindruck. Offenbar war eine Stunde »Arbeit« das einzige, was man von ihnen verlangte. Ingrid allerdings meinte, es käme nicht auf die Arbeitszeit an, sondern darauf, ob eine Leistung freiwillig erbracht würde, und das sei hier nicht der Fall; diese Menschen würden gezwungen – durch irgendeine Art von psychischer Manipulation. Mischa vertrat die Ansicht, daß unsere Informationen nicht zur Beurteilung der Sachlage reichten. Es könnte sich auch um Menschen handeln, die schon vor Generationen alle Lebensprobleme gelöst hätten, die ihre Welt so eingerichtet hätten, daß sie ein gesundes und sorgenfreies Leben führen könnten und auf eine weitere Entfaltung verzichtet hätten; und es sei zu fragen, ob nicht jede Art einmal diesen Entwicklungsstand erreichen könnte. Diese Vermutung wurde allerdings von den anderen zurückgewiesen. Sie sahen ein sinnvolles Dasein nur in einer fortwährenden Veränderung und Erneuerung.
Nuru war in seinem Urteil sogar noch radikaler: »Gewiß – wir wissen noch wenig über die Geschichte dieses Volkes«, sagte er, »aber was wir wissen, dürfte genügen. Es besteht kein Zweifel daran, daß es sich um menschenartige Wesen handelt und daß sie ein unwürdiges Dasein führen. Wir müssen versuchen, sie auf diesen Zustand aufmerksam zu machen, sie aufzurütteln, sie dazu zu bestimmen, aus ihrem Dasein etwas zu machen!«
»Sie sehen wie Menschen aus«, rief Mischa, »aber wir haben keine Ahnung, ob es Menschen sind. Es gibt keinen Anlaß dafür, die Werte, die auf der Erde gelten, ohne weiteres auf fremde Gesellschaften zu übertragen.«
»Und außerdem ist uns ein Eingriff verboten«, sagte Naomi.
»Schließlich wird uns auf diesem Planeten Asyl gewährt - von wem auch immer die Zusage gekommen ist.«
»Du meinst, wir sind hier Gäste, und die Lebensverhältnisse hier gingen uns nichts an?« sagte Boyd gereizt. »Ich allerdings glaube, daß es Werte gibt, die für jeden Ort und jede Zeit verbindlich sind. Wir sind nicht von der Erde geflohen, um anderswo faule Kompromisse zu schließen!«
Die Meinungen gingen weit auseinander. Schließlich einigten wir uns darauf, daß eine genauere Analyse not tat, ehe wir Entscheidungen treffen wollten.
Als wir am nächsten Tag wieder zur Siedlung fuhren, waren wir uns über das, was wir unternehmen wollten, nicht mehr so einig wie an den Tagen zuvor. Ingrid und Nuru benutzten den Kommunikator, um die Bewohner des Gebäudes auf ihren Zustand aufmerksam zu machen. Sie sprachen von Freiheit und Manipulation, von den großen Aufgaben intelligenter Wesen, von übergeordneten Werten, von Neuorientierung und Revolution … Aber ich hatte nicht den Eindruck, daß sie jemand verstand. Zwar standen immer einige Menschen um sie herum, aber sie verhielten sich nicht anders als jene vor den Tanzvorführungen und an den Fenstern: Sie hörten eine Weile zu, blickten Nuru und Ingrid ohne eine Gefühlsregung mit ihren großen dunklen Augen an, und gingen später ohne ersichtlichen Grund wieder fort. Boyd bemühte sich inzwischen sehr um Mara, er suchte Wege zur direkten Verständigung, wollte Mara dazu bringen, Ausdrücke unserer Sprache zu lernen, bemühte sich selbst um die Sprache der Fremden. Zwar war auch ihm nicht viel Erfolg beschieden, doch immerhin – Mara schien interessierter zu sein als die andern, sie war ausdauernder und zeigte einen Anflug von Intelligenz. Vielleicht war es aber auch etwas ganz anderes. Wäre sie ein Mädchen von der Erde gewesen, so hätte ich gesagt, daß sie von Boyd beeindruckt war. Aber auch darüber war schwer etwas Endgültiges zu sagen. Gab es hier so etwas wie Liebe oder Sex? Die Männer und Frauen schienen sich völlig neutral zu verhalten, nirgends zeigte sich eine Polarität der Geschlechter, nirgends deutete sich so etwas an wie Sympathie, Zusammengehörigkeit, Verbundenheit … Natürlich hatten wir auch darüber Fragen gestellt, aber man hatte uns nicht verstanden.
Am Abend nahm Boyd Mara wieder mit zum Luftkissenboot. Er hatte uns nicht gefragt, und auf unsere Vorhaltungen reagierte er ungeduldig. »Mir ist es ganz gleich, ob wir Gebote übertreten oder nicht, es ist einfach unsere Pflicht, uns eingehend zu informieren. Ich will wissen, ob diese Wesen Menschen sind wie wir, oder ob sie sich irgendwie unterscheiden. Wir müssen eine Blutprobe entnehmen, ein Röntgenbild anfertigen, ein Elektrokardiogramm usw.«
»Und wenn sie wieder einen Kollaps erleidet?« fragte Ingrid.
»Ich glaube, sie werden über den Blutkreislauf ernährt. Schau her!« Boyd griff einen Arm Maras, drehte ihn herum, so daß man die Armbeuge sehen konnte. »Diese bläulichen Stellen – ich vermute, sie stammen von einem Injektionsspray. Wir werden ihr Zuckerlösung injizieren, und ihr werdet sehen: Morgen ist sie völlig munter!«
Wir gaben uns nicht zufrieden, doch Boyd meinte, er täte es auf seine eigene Verantwortung, wir hätten ihm nichts zu befehlen.
Als wir zurückkamen, überraschte uns Mischa, der mit Naomi zurückgeblieben war, mit einigen Meßergebnissen. Er hatte eine Bohrung unternommen und festgestellt, daß die Schicht aus Kohle- und Siliziumverbindungen mindestens 20 Meter dick war. Was darunter lag, hatte er nicht feststellen können – das Echolot hatte nicht angesprochen. Eine Gravitationsmessung hatte ein unerklärliches Resultat erbracht: Es sah so aus, als sei die schwere Masse dieses Planeten im Zentrum konzentriert. Wir wußten nicht recht, wie wir diese Resultate deuten sollten und gingen darüber hinweg. Viel mehr interessierte uns natürlich Mara. Wenn wir auch gegen die von Boyd vorgeschlagenen Versuche waren, so hieß das nicht, daß uns ihre Ergebnisse gleichgültig waren.
Mara schien großes Vertrauen zu Boyd zu haben, denn solange er bei ihr blieb, ließ sie alles mit sich geschehen. So wie es aussah, unterschieden sich diese Wesen nicht grundsätzlich von den Menschen: Der Skelettbau war bis auf Kleinigkeiten dem unseren gleich, Elektrokardiogramm und Elektroenzephalogramm unterschieden sich genausowenig, und nur in den Eiweißsubstanzen aus den Blut- und Gewebeproben zeigte sich die extraterrestrische Abstammung.
Wie Boyd angekündigt hatte, injizierte er Mara Zuckerlösung, und zu unserer Beruhigung zeigte sie sich am nächsten Morgen relativ munter, zwar hatte sie dunkle Ringe um die Augen und bewegte sich ein wenig schwerfällig, aber dieser Zustand war doch in keiner Weise mit dem völligen Zusammenbruch zu vergleichen, den sie bei ihrem ersten Besuch im Raumschiff erlitten hatte. Boyd erklärte, daß er im Raumschiff bleiben würde, er hätte noch einige Versuche mit Mara vor, und auch die anderen beschlossen, an diesem Tag auf den Besuch in der Siedlung zu verzichten.
Als ich überlegte, womit ich mich beschäftigen könnte, bemerkte ich das Metallplättchen von Mara, das ihr Boyd bei der Aufnahme des Elektrokardiogramms abgenommen hatte. Ich sah es mir genau an: Es glänzte metallisch, schien aber nicht aus Metall zu bestehen, ich tippte eher auf Kunststoff. An der einen Seite der Oberfläche war eine feine Struktur zu erkennen, ein regelmäßiges Muster einer Vielfalt von Zeichen, die sich nur selten wiederholten. Die Vermutung lag nahe, es könnte sich um eine Art Legitimation handeln.
Plötzlich kam mir ein Gedanke. Ich blickte auf die Uhr – etwa zehn Uhr Vormittag. Den anderen sagte ich, ich würde in etwa zwei Stunden wieder zurück sein, dann stieg ich aus, setzte mich in den Raumgleiter und fuhr über die Hügelkette zur Siedlung hinunter. Alles schien unverändert. Ich fand ebensoviel oder - sowenig Beachtung wie an den Tagen zuvor. Auf einen Unterschied wurde ich allerdings aufmerksam: Als ich nämlich heftig an der Mauer anstieß. Sie war undurchlässig geworden! Lag es an der Plakette? Ich hatte sie mir um das Armgelenk gebunden – so wie sie auch von den anderen getragen wurde. Nun legte ich sie ab und trat wieder auf die Wand zu – tatsächlich, ich konnte wieder hineinfassen wie früher. Es war also die Plakette, die die Mauer zum undurchdringlichen Hindernis werden ließ! Ich schnallte mir die Plakette wieder um und ging langsam zu den Zellen vor. Ich blickte auf die Uhr – kurz vor elf. In Kürze mußte es zur ersten Verdunklungsphase kommen!
Ich trat in eine der Zellen – offenbar gab es keine individuellen Unterschiede, kein Eigentum. Es war also gleichgültig, welche ich aussuchte. Und eine mußte ja freibleiben, da sich Mara im Raumschiff aufhielt. Ich legte mich auf die Pritsche.
Pünktlich wie jeden Tag brach die Nacht über das Gebäude herein. Ich hörte ein schleifendes Geräusch neben und über mir, dann ging ein leiser Ruck durch mein Lager, ich fühlte, daß ich abwärts fuhr.
Es blieb völlig dunkel. Leises Summen lag in der Luft, aber trotzdem hatte ich nicht den Eindruck, mich in einem großen Raum zu befinden. Ich streckte tastend meinen Arm aus, doch stieß ich sofort auf eine Art Gitter, das mich ganz zu umgeben schien.
Plötzlich wurde es hell, ich erblickte Gegenstände, bemerkte Bewegung … Dabei hatte ich aber nicht den Eindruck, daß das Licht von außen kam, eher war es die dämmrige Helligkeit einer Halluzination. Und dann wurden die Eindrücke plötzlich strudelnd, intensiv, allumfassend. Es handelte sich nicht nur um Licht, sondern auch um Geräusche, um Spannungen, um Gefühle … Mir wurde schwindlig, und obwohl ich mir bewußt war, daß ich immer noch unter dem Eindruck dieses Ansturms stand, verlor ich das Bewußtsein meiner Identität, war nur noch ein passives Bündel, das durch farbige und tönende Fluten getrieben wurde … Das dauerte eine Weile, bis plötzlich ein Stillstand eintrat, eine Leere, ein Abgrund … und dann kam eine Forderung, der Zwang zu einer Antwort, zur Reaktion … Und dann strömten sie wieder, die Formen, Töne, Emotionen, aber diesmal war ich es, der sie produzierte, in einem imaginären Raum um mich herum aufbaute …
Die Beanspruchung war so intensiv, daß ich nebenher nichts denken konnte, daß ich, als es vorbei war, ausgehöhlt und ausgebrannt war, mich nur noch an die ersten Phasen des Geschehens erinnern konnte … Was später geschehen war, wußte ich nicht – es war irgendwie auf gleiche Art weitergegangen, mit Aktion und Reaktion, Frage und Antwort – ich war es gewesen, der reagiert, der geantwortet hatte. Wozu? Die Bedeutung? Ich wußte es nicht.
Ich fand mich auf dem Lager in der Zelle wieder, brauchte eine Weile, ehe ich taumelnd aufstehen konnte. Als ich mich gefangen hatte, waren die anderen, die wahrscheinlich dasselbe mitgemacht hatten, längst wieder in den Räumen zerstreut, erfreuten sich an den Tänzen, an den Bildern, an den Spielen – am süßen Nichtstun.
Ich hatte für diesmal genug und kehrte ins Raumschiff zurück. Nachdem ich mich ein wenig ausgeruht hatte, berief ich eine Versammlung ein und schilderte meine Erlebnisse. Das Echo war lange nicht so lebhaft, wie ich es erwartet hatte. Boyd vermutete, es handelte sich um irgendeine Art der Ausbeutung, und in meinen Erlebnissen fände er die Bestätigung dafür, daß es sich nicht um eine freiwillige, sondern um eine erzwungene Leistung handelte. Im übrigen aber schien ihm Mara wichtiger zu sein. Sie saß bei uns, obwohl sie sicher nicht verstand, worüber wir uns unterhielten, und machte sogar einen zufriedenen, fast fröhlichen Eindruck. Boyd hatte ihr wieder Zuckerlösung gegeben, und fast hatte es den Anschein, als sei dies die richtige Ernährung. Dann hatte er sie in den Duschraum geführt, und nach einigem Zögern schien sie am Wassergeplätscher Gefallen zu finden, obwohl Duschen und Baden offenbar neu für sie war.
»Ich glaube, wir sind einen wesentlichen Schritt weitergekommen«, meinte Boyd. »Zunächst wissen wir, daß die Bewohner dieses Planeten dem Menschen verwandt sind. Ich kann nicht glauben, daß sie von Natur aus so inaktiv und desinteressiert sein können – sicher werden sie künstlich unter Betäubung gehalten. Dagegen müssen wir etwas unternehmen! Die Regierung oder die Leitung – wie wir sie auch nennen wollen – hat offenbar nichts dagegen einzuwenden, daß wir uns mit den Einwohnern beschäftigen.«
Mischa meldete sich zögernd zu Wort: »Warum muß es sich eigentlich um eine Unterdrückung handeln?«
»Worum sonst?« fuhr ihn Boyd an. »Die Verhältnisse hier entsprechen weitgehend jenen, wie wir sie auf der Erde vorfinden. Die Bevölkerung wird mit Absicht auf einem niedrigen Intelligenzniveau gehalten und hat daher keine Möglichkeit, sich gegen die Willkürakte der herrschenden Klasse zu wehren.«
»Ich bin mir nicht so sicher, ob man in diesem Fall die Erde als Beispiel nehmen darf«, meinte Mischa. »Es könnte sich ja um irgendeine soziologische Situation handeln, für die es auf der Erde kein Vorbild gibt. Etwas für uns völlig Neues, nicht Vorstellbares.«
»Und was für eine Beziehung könnte zwischen den menschlichen Einwohnern und den Spindelwesen bestehen, wenn nicht die zwischen Herrschenden und Unterdrückten?« fragte Ingrid.
Mischa hob die Schulter – er hatte keine konkrete Antwort zu bieten, und somit blieb die Annahme von Herrschern und Untergebenen die einzig plausible.
»Was können wir tun?« fragte Naomi.
Ingrid hob die Hand. »Wir könnten in einem Funkspruch gegen die Unterdrückung des Volks protestieren.«
»Meinst du, daß ein Protest Sinn hat?«
»Man könnte es immerhin versuchen!«
»Viel wichtiger wird es sein, in einer gezielten Aktion mit den Einwohnern zu kooperieren.« Boyd legte den Arm auf die Schultern Maras, die neben ihm saß. »Ich glaube, es kann nicht allzu schwer sein, die Leute aus ihrer Passivität herauszureißen. Seht Mara an! Schon jetzt hat sie merklich an Individualität gewonnen.«
Ich folgte der Diskussion mit gemischten Gefühlen, und auch Mischa schien meine Zweifel zu teilen. »Ich weiß nicht recht«, sagte er, »wir haben hier um Asyl gebeten. Später werden wir weitere Bitten anbringen müssen: um Nahrung, um Wasser, um Energie. Man sieht es nirgends gern, wenn Emigranten politische Initiative ergreifen.«
»Ich glaube, wir sollten uns über solche Bedenken hinwegsetzen«, sagte Nuru. »Wenn es irgendwelche Einsprüche geben sollte, so können wir immer noch verhandeln. Am wichtigsten ist es zunächst, dem Volk die Freiheit wiederzugeben. Wenn wir die Einwohner hinter uns haben, dann wird sich die Regierung hüten, uns schlecht zu behandeln.«
Trotz der Gegenstimmen von Mischa und mir und der Stimmenthaltung von Naomi wurde ein Aktionsprogramm beschlossen. Zunächst wollten wir versuchen, durch aufklärende Vorträge – in einer Diktion, die dem Verständnis der Leute angemessen war – aktivierend zu wirken. Erstes Ziel sollte sein, daß sie sich weigerten, ihre tägliche Stunde »Arbeit« zu absolvieren. Da die Plaketten irgendeine Rolle in der physischen und psychischen Unterdrückung zu spielen schienen, wollten wir sie dazu bringen, sie abzulegen. Dann konnten sie sich ebenso frei wie wir durch die Gebäude bewegen, wir vermuteten aber auch, daß sie geistig beweglicher würden.
An den nächsten Tagen versuchten wir, diesen Plan zu verwirklichen. Es war ein eklatanter Mißerfolg. Alle Aufrufe und Beschwörungen nützten nichts, immer weniger Leute waren bereit, uns zuzuhören, obwohl wir ihre Sprache schon gut beherrschten. Wenn wir versuchten, in eine Diskussion zu kommen, so erhielten wir zur Antwort, alle seien glücklich und zufrieden, daher sei es überflüssig, etwas zu ändern.
Nach einer Woche mußten wir uns eingestehen, daß wir nichts erreicht hatten.
»Wir müssen energischer vorgehen«, meinte Boyd. »Ich schlage vor, wir nehmen ihnen zunächst die Plaketten weg. Ich glaube nicht, daß sie sich ernstlich wehren werden.«
»Könnte ihnen das nicht schaden? Vielleicht haben die Plaketten eine lebenswichtige Funktion?«
»Mara ist noch immer gesund«, entgegnete Boyd. »Ihr hat die Umstellung gutgetan. Gewiß können wir die Leute nicht gleich von ihrem System lösen, aber wir müssen es transparent machen. Wir müssen sie dazu bringen, daß sie in die unteren Räume eindringen und nachsehen, was dort eigentlich vor sich geht. Wir werden ihnen dabei helfen. Wahrscheinlich findet dort eine medizinische Betreuung statt, ohne die sie auf die Dauer nicht existieren können. Schließlich lebt man nicht vom Zuckerwasser. Aber es müßte gelingen, an die Nährmittel und Medikamente heranzukommen und sie allgemein erhältlich machen. Ein System, das sie verteilt, ohne die Wünsche der Konsumenten zu beachten, ist entwürdigend.«
Ich konnte mich eines peinlichen Gefühls nicht erwehren, als wir am nächsten Tag wieder in die Räume eindrangen und den Leuten die Plaketten mit sanfter Gewalt von den Handgelenken nahmen. Als sie merkten, was wir mit ihnen vorhatten, versuchten sie davonzulaufen oder sich zu verstecken, doch es nützte ihnen wenig – bald waren alle Plaketten in unserem Besitz.
Boyd schien sich der Peinlichkeit unseres Vorgehens bewußt zu sein, denn, ohne daß ihn jemand daraufhin angesprochen hätte, versuchte er uns auseinanderzusetzen, daß man das Volk zu seinem Glück zwingen müsse, wenn es selbst nichts dafür zu tun bereit sei. Man würde uns später dankbar sein.
Immerhin – nun hatten wir zum ersten Mal merklichen Erfolg bei unseren Aktionen. Die Leute hörten uns zu, sie folgten unseren Argumenten, sie schienen ihre Welt mit anderen Augen sehen zu lernen. Nuru buchte es als besonderen Erfolg, als eine Gruppe in Streit geriet und dabei einige Möbel zerbrochen wurden.
Es fiel uns nicht schwer, die Bewohner von ihrer »Arbeit« abzuhalten. Offenbar kamen sie erst jetzt darauf, daß diese mit unangenehmen Zuständen, mit Mühe und Erschöpfung, verbunden war. Natürlich rechneten wir mit irgendwelchen Gegenmaßnahmen der Regierung, aber es geschah nichts.
Es gelang uns allerdings auch nicht, die gesellschaftlichen Verhältnisse so zu verändern, daß man sie als befriedigend bezeichnen könnte. Bei unseren Diskussionen stellte sich sogar heraus, daß wir uns über eine angemessene Gesellschaftsform nicht im klaren waren, doch vertrat Ingrid die Ansicht, daß dies nicht unsere Aufgabe sei – jeder müsse selbst zu einem solchen System finden.
»Ich glaube nicht, daß sie dazu fähig sind, solange sie in ihrem alten Milieu bleiben«, vermutete Boyd. »So existiert kein Anstoß zu irgendeiner Initiative.«
»Was ist die Konsequenz?« fragte Ingrid, und sie fuhr fort: »Wir müssen den Gebäudekomplex zerstören, diese Umgebung, die jede neue Idee zu ersticken droht. Wir müssen die Zugänge zu den Nahrungsmittelquellen öffnen und die Rohstoffe und Produktionsmittel in die Hand bekommen.«
»Wenn wir das tun«, rief Mischa, »dann brechen wir das Abkommen, das wir mit der Regierung getroffen haben. Wir werden als unerwünschte Personen ausgewiesen werden.«
»Glaubst du, daß sie dazu die Macht haben?« fragte Ingrid. »Traust du diesen Wesen eine so hohe technische Entwicklung zu, daß sie etwas gegen uns tun können? Zweifellos sind die eigentlichen Machthaber intelligenter als jene Leute, mit denen wir es bisher zu tun hatten. Aber ein wesentlicher Unterschied dürfte wohl kaum bestehen!«
Zum ersten Mal führte eines unserer Gespräche zu unüberbrückbaren Gegensätzen. Boyd und Ingrid vertraten die These, daß man die alte Ordnung zerstören müsse, um die neue Gesellschaft zu initiieren. Diesmal nützten ihnen aber alle Überredungskünste nichts, um die Mehrheit zu erlangen – wir alle, sogar Nuru, stimmten dagegen. Selbst wenn wir in der Meinung unserer Widerpartner einen wahren Kern fanden, so hielten wir es für unmöglich, Geschöpfe eines fremden körperlichen und geistigen Systems, das wir noch längst nicht durchschaut hatten, am Leben zu erhalten, wenn sie von ihren Nachschubquellen abgeschnitten waren.
Boyd aber fand einen Weg, um trotzdem seinen Willen durchzusetzen. Als wir am nächsten Tag mit unserem Gleiter über die Hügelkette hinwegsetzten, erwartete uns ein erschreckendes Bild: Anstatt des rosa schimmernden Gebäudes lag ein Haufen Asche in der Talmulde – seltsam kontrastierend mit dem farbenfrohen Park. Einzelne der in sich zusammengesunkenen Bauteile glühten noch, Rauchsäulen stiegen auf. Das Material hatte seine Transparenz verloren und war in den dunkelbraunen, undurchsichtigen Zustand übergegangen. Von den Einwohnern war nichts mehr zu sehen.
»Unser Streit ist entschieden«, sagte Boyd mit Triumph in der Stimme.
»Wie hast du das gemacht?« fragte ich.
»Ich habe gar nichts getan.« antwortete Boyd. »Ich habe ihnen nur ein Feuerzeug gegeben. Sie sind jetzt geistig reger geworden, haben Interesse an ihrer Umwelt; sind bereit zum Risiko. Feuer kannten sie offenbar nicht – es mußte sie außerordentlich interessieren.«
Wir alle blickten Boyd an, als sähen wir ihn zum ersten Mal, und sogar Ingrid erschien schockiert. Gestern noch hatte sie nüchtern und sachlich die Möglichkeit einer Zerstörung erwogen. Aber der Unterschied zwischen Theorie und Praxis traf sie tief. Selbst Boyd schien nicht so sicher zu sein, wie er sich gab.
Und dann drehten wir uns wie unter dem Eindruck eines unhörbaren Signals nach Mara um, die nachgekommen war und ein wenig hinter uns stand. Sie blickte hinunter ins Tal, ihr Gesicht war unbewegt. Sie erkannte nicht, was geschehen war, oder sie begriff es nicht …
Wir gingen hinunter, durch die blühenden Anlagen, bis zur Trümmerstätte. Teilweise war der Boden eingebrochen, und man blickte in die Tiefe hinunter. Wir sahen Leitungen, Röhrensysteme, mit Gittern umschlossene Apparaturen, dazwischen leeren Raum, Schwärze, einen bodenlosen Abgrund. Mischa warf einen Brocken Mauerwerk hinunter, wir horchten auf den Aufschlag … es blieb still.
»Das Innere dieses Planeten ist hohl«, sagte Mischa. »Die Messung des Gravitationsfeldes hätte mich darauf bringen müssen, aber ich habe es nicht zu glauben gewagt.«
»Heißt das, daß der Planet künstlich ist?«
Mischa zuckte die Achseln. »Es sieht ganz danach aus. Die Hülle besteht aus Kunststoff, den Blicken verborgen sind die zum Leben nötigen Maschinerien und Anlagen, für die Gravitation sorgt ein Kern von Superschwerer Materie. Vielleicht ist es ein künstliches Paradies.«
»Und wo sind die Einwohner geblieben?«
»Es ist gut, daß sie nicht mehr hier sind«, sagte Mischa. »Ich glaube, sie sind in Sicherheit.«
Wir wühlten einige Zeit in den Trümmern herum, gaben es aber bald auf. Hier gab es nichts mehr für uns zu tun, wir wandten uns um und gingen zum Luftkissenboot zurück. Mara kam mit – was hätten wir sonst mit ihr tun sollen? Als wir über den Kamm der Hügelkette schwebten, warfen wir einen letzten Blick zur Stätte der Verwüstung zurück. Ich glaube, wir schämten uns alle.
Wenige Minuten später kamen wir am Landeplatz an. Schon von weitem erschien uns etwas verändert – unser Raumschiff hatte seinen Standort gewechselt, das Landegerüst stand frei auf der Oberfläche, einige Meter von unserem ursprünglichen Standort entfernt. Als wir näher kamen, bemerkten wir einen dunklen Punkt am Fuß der Treppe – es war ein Mensch –, und als wir aus dem Gleiter stiegen und auf ihn zutraten, erkannten wir, daß es ein Kind war, vielleicht 13 oder 14 Jahre alt.
Wir kamen näher, der Junge, der auf einem Felsblock gesessen war, erhob sich und trat auf uns zu.
»Wer bist du?« fragte Boyd.
Der Junge lächelte. »Mein Name ist nebensächlich. Ich wurde abgesandt, um ein kurzes Gespräch mit euch zu führen. Seid ihr dazu bereit?«
»Warum nicht?« fragte Boyd. Er schlug vor, wir sollten uns ins Raumschiff zurückziehen, doch der Junge schüttelte den Kopf. »Es dauert nicht lange. Zunächst haben wir den Sicherheitsfaktor zu hoch angesetzt – es kam zu einer Zerstörung des Siedlungsgebäudes; wir wissen noch nicht, durch welche Ursache, doch das wird noch geklärt werden. Jedenfalls können wir eine unkontrollierte Kommunikation nicht mehr zulassen. Ihr habt um Asyl gebeten, und wir wollten euch ein wenig Zeit lassen bis zur Entscheidung.«
»Zu welcher Entscheidung?« fragte Ingrid.
»Der Entscheidung, ob ihr euch dem aktiven oder dem passiven Teil der Bevölkerung anschließen wollt.« Er bemerkte, daß wir nicht verstanden, was er von uns wollte. Wieder lächelte er, und ich glaubte, eine Nuance von Geringschätzigkeit darin festzustellen – aber das kann auch an meiner Überempfindlichkeit liegen.
»Dieser Planet«, erklärte der Junge, »ist ein Reservat für jenen Teil der Bevölkerung, der in der genetisch fixierten Form in Frieden leben will. Diese Form unterscheidet sich nicht allzusehr von eurem Genotyp – ich glaube nicht, daß eine Eingliederung Schwierigkeiten machen würde. Der andere Teil der Bevölkerung hat sich dafür entschieden, aktiv an der Bewältigung aller Aufgaben, die sich stellen, mitzuarbeiten. Dazu gehört auch die Betreuung der passiven Bevölkerung, die ohne intensive Betreuung nicht lebensfähig ist. Über Nacht nehmen wir die physische Regeneration vor - Zufuhr von Nährstoffen, Kontrolle des Metabolismus, die Ergänzung von Wirkstoffen und dergleichen mehr. Die psychische Regeneration erfolgt zweimal am Tag, einmal vormittags und einmal nachmittags; wir prüfen die Gleichgewichte der Werteinschätzungen, Antriebe und so fort. Bis zum 14. Lebensjahr wächst jeder in der ursprünglichen Bioform auf, und alles was er lernt, dient letztlich der Befähigung zur freien Entscheidung über die endgültige Lebensform.« Der Junge ließ uns einige Sekunden Zeit zum Nachdenken, dann fragte er: »Wie wollt ihr euch entscheiden?«
Ein wenig zögernd fragte Mischa: »Jene andere Form … ist das …?« Er sprach seinen Satz nicht zu Ende, deutete aber in die Höhe, wo drei Spindeln regungslos in der Luft hingen.
Der Junge nickte. »Ja, es sind Kyborgs – isolierte Gehirne, über Funk mit einem Manipulationssystem und einer zentralen Einheit verbunden. In dieser Form ist man physisch und psychisch in ein riesiges System eingegliedert. Es ist jene Form, die dem gestaltenden Eingriff in die Welt am besten angepaßt ist. Es liegt nun an euch, was ihr vorziehen wollt – ein sorgenfreies, glückliches Leben in ewiger Jugend, oder eine Existenz mit einer unabmeßbaren Freiheit des Handelns, freilich der Verantwortung unterworfen, die die Möglichkeit zur Entscheidung mit sich bringt.«
Erst allmählich begriffen wir die Möglichkeiten, die sich hier boten – doch keine entsprach dem, was wir uns als Lebensziel vorstellten.
Der Junge gab uns Zeit zur Beratung. Wir zogen uns ins Raumschiff zurück, Mara blieb draußen. Wir brauchten uns nicht lange zu beraten – unsere Entscheidung stand fest: Wir wollten Menschen bleiben, die wir bisher gewesen waren – Geschöpfe, die vielleicht auf einer tieferen Entwicklungsstufe standen als die Einwohner dieses Planeten, beschränkt in ihren Möglichkeiten, gefährdet von innen und von außen … aber doch im Gleichgewicht zwischen Körper und Geist, Stationen auf einer Entwicklung, der wir nicht vorgreifen wollten.
Wir verließen das Raumschiff, um einige Fragen zu stellen. Es gab keine Schwierigkeiten, man war bereit, uns zu helfen, uns mit Nahrung. Wasser und Energie zu versorgen.
Der Abschied war kurz. Maras Gesichtsausdruck war noch immer leer. Wir merkten, daß sie sich verändert hatte – wahrscheinlich schon während der letzten Tage. An ihren Augenwinkeln erschienen Falten, in ihrem Haar graue Strähnen. Ich griff in die Tasche und zog Maras Plakette heraus. Ich nahm ihre Hand und legte ihr das Band um, an dem das dunkle Scheibchen befestigt war.
Wir ließen den Gleiter in den Laderaum einfahren und stiegen dann selbst ins Innere. Als wir aus den Luken blickten, waren Mara und der Junge verschwunden.
Nach einer Viertelstunde lieferte ein automatischer Lufttransporter die Vorräte an, wir luden sie ein und waren bereit zum Start. Es wird zwei Jahre dauern, bis wir die äußeren bewohnten Distrikte erreichen – Zeit genug, um unsere Lage noch einmal zu überdenken.
Nach ein paar Minuten lag der Planet als weiße Kugel hinter uns, und noch etwas später tauchte er im Dunkel des nachtschwarzen Abgrunds unter, der uns von der Erde trennt.