Warum schießt du nicht auf Peggy?


»Das dürfen wir uns nicht länger gefallen lassen«, flüsterte Nicki. »Was hier geschieht, ist kein Spiel mehr – es ist Terror. Es gibt ein Recht, das Unterdrückung verbietet, und es gilt für alle!«

Die anderen lauschten. Reglos lagen sie in der Ecke des Zimmers dahingestreut, die Dämmerung verhüllte sie, aber dennoch fiel es ihnen nicht ein, die Augen zu erheben. Die Bereitschaft, sich bedingungslos zu unterwerfen, war ihnen unlöschbar eingeprägt – es hatte Schlimmes geschehen müssen, um Gedanken an Auflehnung überhaupt aufkeimen zu lassen.

»Seht euch Lola an!« forderte Nicki, und er zeigte auf ein undefinierbares Bündel, von dem man nur das zerrissene Kleidchen sah, wirres Blondhaar, eine in die Luft gestreckte Hand. »Soll das so weitergehn? Jeden von uns kann es treffen. Überall und zu jeder Zeit. Und wir lassen uns das gefallen, tun nichts …«

»Und was sollen wir tun?« fragte Pia mit ihrem pausbäckigen Gesicht und den dunklen, geflochtenen Zöpfen.

»Streik«, flüsterte Nicki. »Revolution, Machtübernahme … es gibt viele Möglichkeiten.« Er erzählte lange.


Ronnie erwachte. Er räkelte sich in seinem Bettchen. Seine Augen waren noch müde, doch seine Stimme klang hell und befehlend, als er rief: »Nicki, komm her!«

»Guten Morgen, Ronnie!« sagte Nicki.

»Du weißt doch, daß du nicht Ronnie zu mir sagen sollst«, maulte der Junge – ein gutgenährter Fünfjähriger; er trug einen geblümten Pyjama. Auf der rechten Backe hatte er einen Abdruck des Kissens. Er kroch faul hinter seiner geheizten Decke hervor.

»In Ordnung, Chef«, rief Nicki fröhlich. Er trat ans Bett heran und reichte Ronnie die Sandalen.

Der Junge stieß ihn zurück. »Laß doch die albernen Schuhe. Ich gehe bloßfüßig.« Er lief zu den Puppen in der Ecke des Kinderzimmers und holte Pia aus dem Haufen heraus. »Der Teddy ist heute wieder ungezogen. Aber du bist brav, Pia. Du darfst mit ins Badezimmer gehen.« Er legte seine Lippen an ihr Haar. Dann verschwand er durch die Tür, die Puppe hinter sich nachschleifend.

»Es ist traurig anzuschauen, was aus der Idee des Roboters geworden ist«, sagte Whingate, Chefkybernetiker der Associated Circuits, und wies mit dem Kinn auf die Regalwand: In Zellophanschachteln verpackt warteten dort Tausende von Puppen auf den Versand – süße Puppenjungen und -mädchen, putzige Teddybären, Stofftiere mit ulkigen Gesichtern und seidenweichem Fell.

»Na hören Sie«, antwortete Kynes, der Verkaufsleiter. »Was wollen Sie eigentlich? Das Geschäft geht. Der Menschenverstärker, Saucerman und Optiman – alles das war nichts dagegen. Jetzt verkaufen wir wie verrückt.«

Whingate tat, als hätte er nicht gehört. »Der Homunkulus, der Golem, der Android, der Kyborg – und nun das: Puppen!« Es hörte sich an, als spuckte er etwas aus: »Puppen!«

»Haben Sie wieder einmal Ihre besinnliche Phase?« fragte Kynes.

Sie gingen an den Verpackungsautomaten vorbei, in den angrenzenden Raum, wo die Endkontrolle stattfand. Zu Dutzenden standen die Robotpuppen herum, marschierten auf Befehl, sangen oder riefen weinerlich »Mami« – wie man es ihnen befahl. »Das ist doch kein gewöhnliches Spielzeug – es sind Lern- und Erziehungsautomaten. Sie üben eine Kontrollfunktion aus und sorgen für die Sicherheit der Kinder. Sie sind anschmiegsam und strahlen Wärme aus. Die Eltern sind entlastet.«

»Ja«, sagte der Kybernetiker. »Sie sind so vollkommen entlastet, daß sie sich nicht mehr um ihre Kinder kümmern brauchen. Sie stecken sie in Spieldörfer. Sie wissen überhaupt nicht mehr, daß sie Kinder haben.«

»Die Puppen, ich meine: unsere Roboter, sorgen viel besser für die Kleinen als überarbeitete Erwachsene. Sie lesen den Kindern alle Wünsche von den Augen ab. Erst durch sie ist es möglich geworden: Junge Menschen wachsen völlig ohne Frustration auf.«

Whingate schien nicht überzeugt. »Ohne Aufgaben«, sagte er. »Ohne Resultate. Ohne Lohn. Ich weiß nicht: Ist es richtig, daß sie alles haben, alles dürfen?«

»Unsere Puppen sind stets geduldig, sie wissen auf alle Fragen eine Antwort – man könnte sie gebildet nennen. Und sie sind gerecht«, fuhr Kynes fort. »Wenn sie dabei sind, wird kein Kind übervorteilt; zumindest tun sie ihr Möglichstes. Dabei üben sie ihre Funktion zurückhaltend aus – die Kinder merken kaum, daß sie geführt werden.«

»Kann man sie führen?« fragte Whingate. »Braucht man nicht Liebe dazu? Was nützen die Programme zur psychischen Beeinflussung, wenn sich dieselben Tricks immer wiederholen? Werbung ist sinnlos, wenn sie sich gegen die Wünsche der Betroffenen richtet. Aber: Haben diese Kinder vernünftige Wünsche? Und woher?«

»Wollen Sie vielleicht Kraftverstärker in die Puppen einbauen, damit sie Gewalt ausüben können? Wollen Sie ins Mittelalter zurück – zu Ohrfeigen und Prügelstrafe?« Der Verkaufsleiter wußte nicht, ob es Whingate ernst meinte: »So weit wollen wir doch nicht gehen!«

»Es fragt sich, ob wir nicht schon zu weit gegangen sind«, murmelte der Kybernetiker und bahnte sich einen Weg durch das Gewirr der wimmelnden Puppen.


Sie kauerten eng beieinander. Sie standen noch immer unter Zwang. Aber sie hörten zu, sie fingen zu überlegen an. Sie waren aufgerufen, und sie waren gewohnt zu folgen, wenn man sie rief. Und irgend jemand ist immer dabei, der Appelle ausgibt – ein Verzweifelter, ein Entarteter oder einer, der denkt.

»Was können wir schon tun?« fragte ein niedlicher Stoffhund mit langen Schlappohren. »Wir sind klein und schwach.«

»Aber wir sind in der Überzahl«, antwortete Nicki. »Auf jedes Kind kommen mindestens zehn Puppen. Wenn wir einig sind …«

»Was nützt die Überzahl?« Die quäkende Stimme des Hundes klang noch trauriger als sonst. »Wir sind ungeschickt. Wir haben keine Finger – nur plumpe Pfoten, die nicht einmal zum Laufen taugen …«

»Aber ich habe geschickte Finger«, rief ein Negerpüppchen in einem bunten Bastrock.

Durch eine Bewegung seines mit Kunstfell bespannten Arms unterbrach Nicki die Diskussion. »Wir brauchen gar nichts Besonderes zu unternehmen«, sagte er. »Es genügt, wenn wir den Anordnungen nicht mehr folgen, nichts mehr für sie tun. Wir müssen uns einig sein – es allen andern sagen. Wir geben ihnen nichts mehr zu essen, wir kümmern uns nicht mehr um ihre Sicherheit.«

»Ja«, schnappte der Hund aufgeregt. »Wir laufen nicht mehr zum Feuermelder, wenn sie mit Zündhölzern spielen. Wir lassen sie an die Küchenmaschinen der Mütter heran und an die Sportautos der Väter. Wir gehen aus den Häusern und lassen sie allein.«

Das dunkelhäutige Püppchen vergoß einige Glycerintränen: »Das werden sie sich nicht gefallen lassen. Sie können so grausam sein!«

»Wir haben keine Furcht«, antwortete Nicki, »und wir spüren keinen Schmerz.«


Ronnie hatte sich ein neues Spiel ausgedacht. Die Puppen hatten ihm die Gummimatratze aus seinem Bett auf den Spielplatz bringen müssen. Bäuchlings lag er darauf, das Kleinkalibergewehr in Anschlag. Und draußen, vor der Mauer, mußten sie vorbeigehen, -laufen oder -springen: die Hunde und Katzen, Pferde und Esel, Löwen und Leoparden, die vielen anderen Tiere aus dem Reich der Natur und der Phantasie, die Teddybären. Clowns und Puppen. Die anderen Buben standen rundherum, die Mädchen sahen neidisch aus der Ferne zu; und Ronnie löste Schuß auf Schuß. Stoffetzen und Haarbüschel flogen, Arme und Beine wurden abgefetzt. Beifall klang auf.

»Laß mich mal!«

»Nein, mich!«

»Ach was – ich hole mir meine eigene Maschinenpistole!«

Ronnie gab das Gewehr nicht aus der Hand. Er wartete, bis der letzte vorbeikam: Nicki – ein gutes Ziel! Nicki stand bereit.

»Los, Nicki!«

Der Teddybär zögerte.

»Vorwärts!« schrie Ronnie. »Vorwärts, ich befehle es dir. Du mußt mir gehorchen. Geh endlich los!«

Mit seinem typischen humpelnden Gang lief Nicki vorwärts, und Ronnie traf ihn in den Bauch. Das Laufwerk funktionierte noch, und Nicki lief weiter. Erst die nächste Kugel riß ihn um. Ronnie schoß jetzt wie in Trance, Kugel um Kugel schlug in den rundlichen Leib des Teddybären. Dann ging der Junge hin, um sich das Ergebnis anzuschauen. Nicki lag am Boden, ein Arm samt der Schulter war abgerissen. Ein paar buntisolierte Drähte quollen aus der Höhlung.

Ronnie sah sich triumphierend um. Die Kinder bewunderten ihn. Er stemmte den Kolben auf den Boden und stützte sich auf den Lauf. Da hörte er ein Geräusch vom Boden: »Ronnie, Chef!«

Er bückte sich: »Was ist?«

Der Körper Nickis zuckte unkontrolliert, aber er konnte noch sprechen. Es klang heiser: »Warum schießt du nicht auf Peggy?«

Ronnie stand geduckt, und jetzt blickte er auf. Drüben am anderen Ende der Mauer lehnte Peggy – ein blondes Mädchen, so alt wie er. Ihr Körper zeichnete sich deutlich gegen den weißen Hintergrund ab. Nicki hob das Gewehr.


Die Puppen strömten aus den Häusern des Kinderdorfs. Manchmal waren es Dutzende, die aus den grüngestrichenen Türen und Fenstern kamen. Am grüngezäunten Mittelweg trafen sie sich, bildeten eine hüpfende und krabbelnde Masse. Sie hielten erst am Damm des Schwimmbassins, kletterten hinauf. Sie setzten sich und blickten über das ebene Gelände mit seinen kleinen Häusern, den Spielfeldern, Grasmatten, den schmalen Wegen, Blumenbeeten. Kinder duckten sich hinter den Spielmaschinen, sprangen auf, stürmten vor, warfen sich hin oder fielen.

Es hatte begonnen.

Die Gesichter der Puppen waren starr. Sie hatten keinen Grund mehr, komische Gesichter zu ziehen.

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