Die Zentrale war leer. Keiner der acht Tutoren befand sich persönlich im Raum. Und doch war die Konferenz im Gang. Maßnahmen wurden erwogen, Entscheidungen gefällt. Es ging um das Wohl der Welt.
Die Stereoschirme flimmerten. Zahlenkolonnen tauchten auf und verschwanden wieder. Zeichen der Booleschen Algebra gruppierten sich zu Formeln. Nur selten erschien ein Gesicht – die Symbolik des Mienenspiels hatte längst ihre Bedeutung verloren.
Die Tagesordnung folgte ihrer uralten Gesetzlichkeit. Meldungen wurden vorgebracht, analysiert, Schlüsse gezogen. Daten wurden verglichen, integriert. Für jeden Verarbeitungsschritt gab es ein Programm, für jede Information eine Formel. Die Auswertung folgte dem Flußdiagramm. Die Konsequenzen waren nur noch Routine.
Die Versammlung war beendet – das Klingelzeichen zeigte es an. Je nach der Art des Rezeptorsystems manifestierte es sich als Schallwelle, als elektrischer Impuls, als Frequenzmodulation, als Ionisierung von Natriumdampf. Die Bildschirme erloschen.
A7, der auf den menschlichen Namen Lester hörte, vergegenwärtigte sich einige Zahlen – Konzentrationen von Heliumatomen im interplanetarischen Raum. Ihr Anstieg war ihm bedrohlich erschienen, aber der Computer hatte bewiesen, daß schon in 6372 Jahren das stationäre Gleichgewicht eintreten würde, und dann setzten sich auf den Himmelskörpern wieder ebensoviel Atome ab, wie durch die Zerstrahlungstriebwerke abgeschieden wurden. Seine Besorgnis war überflüssig gewesen. Auf seinem Luftkissenstuhl schob er sich an die durchsichtige Außenwand heran. Das Bild seiner Heimat hatte immer noch etwas Beruhigendes für ihn – der Doppelstern Heliopont, die Diskusform der nahen Galaxis M 51 und das Oval des Ionengürtels – Staub aus den Reaktoren –, das die Station in einer riesigen, schwach leuchtenden Schleife umschlang.
Die Schnarre durchbrach seine schweifenden Gedanken. Er drehte den Stuhl herum und öffnete durch einen mentalen Impuls das Kommunikationsnetz. Der Bildschirm blieb dunkel, doch vor seinem inneren Auge erschienen die Zeichen A1. A1 – Jonathan –, der gegenwärtige Vorsitzende der Weltregierung, konnte sich nicht mehr körperlich zeigen, er war längst eingespeichert worden. Von seinem ursprünglichen Organismus war nichts mehr übrig, er bestand nur noch aus Erinnerung und Willen. An einige Milliarden Speicherelemente gebunden, mit dem Impulsgeber gekoppelt, Jonathan und Lester – sie waren Vertreter der humanoiden Rassen in der Regierung.
»Darf ich dich stören Lester?«
»Aber sicher, Jonathan.«
»Bei unserer heutigen Besprechung erfuhr ich etwas, was mir Gedanken macht.«
»Ist es der Heliumanstieg?«
Die Reaktion auf diese Frage entsprach einem Lächeln. »Traust du der Unfehlbarkeit unseres Computers noch immer nicht?«
»Was ist es also?«
»Der Aufstand im Herrera-Distrikt.«
Lester blickte hinaus in den Raum, wo sich zwischen unzähligen leuchtenden Punkten auch das Pentagramm der fünf Sonnen abzeichnete. Dort hatte sich das Volk erhoben – eine primitive, den Menschen nahe verwandte Rasse, über sieben Planeten verteilt – das bedeutete Plan 3780:
Das alles war festgelegt, jede Möglichkeit war berücksichtigt, das feedback war eingeschaltet. Mit unfehlbarer Sicherheit wurde das Ziel angesteuert. Freilich: Es kostete ein wenig Zeit.
»Es ist nicht die Zeit«, meinte Jonathan. »Zeit haben wir genug. Es ist die Ursache: Wie konnte es zu einem Aufstand kommen? Alles war geplant: Der Widerstand der Tradition, die Dummheit, die Gewinnsucht. Selbst die spontane Kurzschlußhandlung. Die religiösen Hemmungen, die der Vereinigung entgegengewirkt hätten, sind beseitigt worden. Die Führungskräfte wurden systematisch auf unsere Linie geführt. Durch biochemische Wirkstoffe im Trinkwasser haben wir die Risikofreude angehoben, um Bereitschaft für einen politischen Umschwung zu wecken, und so weiter und so weiter. Alles verlief wie vorausgesehen, jeder sah ein, daß die materielle Not schwinden, der Raum der persönlichen Freiheit wachsen würde. Dem Zusammenschluß stand nichts im Wege. Er hätte kommen müssen. Der Aufstand steht außerhalb der Regel.«
»Ich verstehe«, sagte Lester. »Ein Fehler in der Kalkulation.« Jonathan reagierte scharf: »Kein Fehler. Es gibt keine Fehler in der Kalkulation.«
»Was dann?«
»Eben das möchte ich wissen.«
Lester verfolgte die stummen Fragen seines Chefs: Sabotage? Unbekannte Mächte? Mangelhafte Information?
»Aber die Sache läßt sich doch leicht reparieren. Der Herrera-Distrikt ist klein und unwichtig. Was spielt die geringe Verzögerung für ein Rolle?«
»Der Herrera-Distrikt ist unwichtig – das stimmt. Der ganze Fall wäre unwichtig – wenn es ein Einzelfall wäre.«
»Hatten wir in der letzten Zeit ungewöhnlich viele Aufstände?«
»Auch ein einziger kann zu viel sein. Es gab aber noch einige andere. Und es gab Novas, Kriege, Seuchen, grundlos, unvorhergesehen.«
»Was können wir tun?«
»Ich habe noch keinen Plan. Und ich habe zu wenig Material für den Computer. Trotzdem muß etwas geschehen. Diese Dinge sind ein Makel in unserem System. Sie stehen außerhalb der Kontrolle. Sie könnten unsere Autorität untergraben, unsere Bemühungen stören. Wir müssen sie in den Griff bekommen. Wie? Wir werden sehen. Ich schlage vor, daß du den Fall bearbeitest. Sieh dich auf Herrera um!«
»Über das Kommunikationsnetz?«
»Nein, persönlich. Ich möchte kein Aufsehen riskieren. Deine Untersuchung muß völlig unauffällig erfolgen. Laß dich duplizieren, damit du die Regierungsgeschäfte weiterhin wahrnehmen kannst.« Dann fügte er eine ungewöhnliche Formel hinzu. Er sagte: »Viel Glück!«
Die Unruhen hatten auf dem Planeten Gamma begonnen, und dorthin wurden Lesters Daten geleitet. Die Reintegration erfolgte innerhalb weniger Minuten. Nach einer kurzen Beratung mit dem Vertreter der Weltregierung ließ er sich die wichtigsten Daten einspeichern: Sprache, Sitten, einige typische Verhaltensweisen. Besondere Schutzmaßnahmen waren nicht nötig, da jederzeit neue Duplikate produziert werden konnten.
Trotzdem fühlte er sich unsicher, als er sich das erste Mal unter das Volk mischte. Zwar brauchte er keine Angst haben, sich zu verraten, denn dank seiner Programmierung reagierte er absolut normgerecht. Gerade diese ihm unbekannten Reaktionen, die er gleichsam an sich selbst entdeckte, bereiteten ihm Unbehagen. Das, was er fühlte und spürte, wenn er den Einheimischen entgegentrat, diese unausgeglichenen Impulse, die fast barbarische Spontaneität mancher Regungen, war schwer zu ertragen, und er merkte schon jetzt, daß er alle Konzentration, deren er fähig war, aufbieten müßte, wenn er dieses Abenteuer erfolgreich bestehen wollte.
Die lokale Regierung hatte bereits jene Maßnahmen ergriffen, die ihr von der Zentrale nahegelegt worden waren. Lester begegnete einigen getarnten Psychologen, die das mit den Aufständischen sympathisierende Volk langsam auf den Gegenschlag vorbereiten sollten. Er traf auch einen Rechercheur, der die Wertvorstellungen testen sollte, vor allem jene der anonymen Leitpersonen dieser bunt gemischten Gesellschaft, und Lester hatte Mühe, sich ihm zu entziehen, ohne sich zu erkennen zu geben.
Der Gang der Geschehnisse, die zum Aufstand geführt hatten, war bekannt. Als der Zusammenschluß der Regierungen verkündet werden sollte, hatten sich an den Straßenecken Gruppen gebildet, der normale Fluß des Verkehrs war empfindlich gestört worden, und die Oberhäupter der Regierungen waren zu spät eingetroffen. Am Hauptplatz aber hatten sich unglaubliche Mengen von Kindern versammelt, die die Worte aus den Lautsprechern mit ihren schwermütigen, seltsam rhythmisierten Liedern störten. Als sich der Beginn der Feierlichkeit verzögerte, wuchs die Unruhe immer weiter – Jugendliche in den hinteren Reihen stießen und drängten, schoben den Polizeikordon am vorderen Rand des abgesperrten Versammlungsfeldes zurück, immer mehr von ihnen schlüpften hindurch, kletterten auf Denkmäler und Fahnenstangen, rissen die Lautsprecher herunter, so daß der Gesang alles andere übertönte, und überfluteten schließlich das Podium, auf dem der Festakt ablaufen sollte. Auf ähnliche Weise, ohne direkte Gewalt, passiv, fast spielerisch, wurde auch ein weiterer Versuch, die neue Regierung zu etablieren, abgeschlagen, und als das schließlich unter Ausschluß der Öffentlichkeit geschehen sollte, weiteten sich die Sabotagemaßnahmen auch auf Einrichtungen der öffentlichen Ordnung aus: Die Untergrundbahn wurde aufgehalten, der Sender belagert, die Ordnungstruppen am Ausfahren gehindert.
Alle diese Handlungen trafen genau die empfindlichen Stellen der Organisation, und sie verliefen so, daß man keine Schuldigen herausfinden konnte: Stets waren es große Mengen von Menschen, die im einzelnen nichts Strafbares taten – sie standen nur herum, sangen und gafften. Sicher ließ sich das unterbinden. Wo aber war die Organisation? Wo war der Kopf des Widerstands? Das war das Problem, das Lester zu lösen trachtete. Aber erst ein Zufall brachte ihn seinem Ziel näher.
In der Hoffnung, mit den Leuten ins Gespräch zu kommen, betrat er eines jener Lokale, in dem die Einheimischen Tee zu trinken pflegten. Sie tranken oft Tee. Durch einen dämmrigen Raum, in dem nur wenige Personen saßen, kam er auf eine Terrasse voll mit bunten Stühlen, und fast alle besetzt. Unten strömte ein Fluß ganz langsam dahin, Blumen hingen an den Mauern herab, die den Hof nach drei Seiten begrenzten. Aus einem Lautsprecher kam leise Musik.
Lester fand einen Tisch mit zwei Männern, einem älteren und einem jüngeren, und einer Frau, an dem noch ein Platz frei war. Sie hatten die Kindergesichter dieser Rasse, ihre großen Augen, ihre kurzen Nasen. Sie trugen bunte Umhänge, handbestickt, und schienen zu dösen. Er grüßte, und sie luden ihn ein, sich zu setzen. Er bestellte Tee und trank die heiße Flüssigkeit in kleinen Schlucken.
Es war behaglich hier. Er fühlte es mit dem geborgten Empfinden dieser Leute, und er genoß es, obwohl er sich des Widerspruchs bewußt war: denn das trübe Wasser, das dort unten vorbeirann, war nicht sterilisiert und sicher ein Herd für Bakterien. Aus der Tasse, die er zum Mund führte, hatten offenbar schon andere getrunken, und der Wind, der manchmal einen faulen Geruch von Abwasser heraufhob, war kühl und zweifellos ungesund.
»Ein schöner Abend«, sagte er, ohne sich an jemanden Bestimmten zu wenden. An den freundlichen Mienen der anderen merkte er, daß sie ihm zustimmten. »Und eine schöne Stadt«, fügte er hinzu. »Ich komme von Beta. Bin auf Geschäftsreise.« Der ältere Mann nickte ihm freundlich zu, doch niemand antwortete.
Diese Leute waren ruhig, selbstsicher, mit sich im Gleichgewicht. Er mochte sie – das fühlte er. Nein, sagte sein Verstand: Sie sind träge, dumm und uninteressiert. Er mußte sie provozieren.
»Wenn die neue Regierung kommt, wird sich hier einiges ändern. Bei uns ist sie schon etabliert. Bei uns gab es auch solche Lokale wie diese. Sie wurden geschlossen. Zu unhygienisch, hieß es. Die Flüsse wurden trockengelegt, und Blumen dürfen nur noch in biologischen Gärten gezogen werden – Blütenstaub kann Allergien hervorrufen.«
Zuerst antwortete wieder keiner. Dann sagte der ältere Mann: »Schade.« Die Frau rief den Kellner und zahlte. Sie grüßte freundlich und ging.
Lester gab es noch nicht auf: »Sie haben Glück, daß es hier noch nicht soweit ist. Was sage ich – Glück! Die Leute hier haben Mut, sie haben sich gewehrt. Ich bewundere sie.«
Der jüngere Mann stand auf. Er nickte kurz, legte ein Geldstück auf den Tisch und murmelte: »Es wird Zeit für mich.«
»Na, habe ich nicht recht?« fragte Lester an den einzelnen Mann gewandt, der noch zurückgeblieben war. »Auch wir auf Beta sollten etwas unternehmen. Wir sollten uns nicht so einfach überfahren lassen.«
Der andere lächelte nachsichtig. »Aber ich bitte Sie – das Wasser ist doch wirklich schmutzig. Freilich, wir hängen an unserem Fluß, aber was nützt das schon? Was schädlich ist, muß eben verschwinden – wer sieht das nicht ein?«
»Mir gegenüber brauchen Sie sich nicht zu verstellen«, sagte Lester. »Es ist Ihnen genauso klar wie mir, daß die neue Regierung vieles von dem verändern wird, was Ihnen - und auch mir – lieb und teuer ist. Aber ich glaube, Sie machen sich keine rechte Vorstellung von dem, was Ihnen bevorsteht. Sie werden andere Kleidung tragen, Blue jeans und Jacken mit aufgesteppten Taschen. Sie werden eine andere Sprache sprechen. Die alten Häuser werden verschwinden, statt dessen werden Wohnblöcke aus dem Boden schießen.«
»Wissen Sie«, warf der Mann ein. »Die alten Häuser sehen romantisch aus – von außen. Aber haben Sie schon drinnen gewohnt?«
»Industriewerke werden aufgebaut. Sie werden arbeiten müssen wie noch nie.«
»Wir haben nichts gegen Arbeit – wenn sie nötig ist«, gab der andere zurück.
»Hängen Sie denn nicht an Ihrer Freiheit? In einem Maß wie nie zuvor werden Sie tun müssen, was andere befehlen. Ihr Leben wird geplant sein. Ihre Freizeit, ja selbst Ihr Glück wird geplant sein – von anderen.«
»Freiheit«, sagte der andere und lächelte. »Was ist das schon: Freiheit? Bisher waren wir arm – und Armut kennt keine Freiheit. Wir werden Pflichten haben – gewiß. Aber auch Chancen wie nie zuvor. Wir werden mehr sehen, mehr erfahren, die Welt wird sich auftun für uns. Das ist doch Freiheit – was sonst?«
Lester begann zu verzweifeln.
»Sie sind nicht ehrlich!« rief er unterdrückt. »Ich weiß es doch – ihr alle seid verkappte Revolutionäre! Aber ich gehöre zu euch. Ich will den Widerstand organisieren. Sagen Sie mir, wo die Anführer zu finden sind! Wer sind sie? Wie kann ich sie erreichen?«
»Es gibt keine Anführer«, antwortete der Mann mild. »Wie stellen Sie sich das vor?«
»Aber es muß doch eine Zentrale geben, die Anordnungen erläßt, Befehle gibt …« Er sprach nicht weiter, denn er merkte, daß ihm der andere nicht zuhörte. Der blickte wieder hinaus über den Fluß, auf das trübe, strudelnde Wasser, in dem sich altes Gemäuer spiegelte, wobei es sich seltsam verzerrte – ein Schwingen lief darüber hinweg wie über einen Leuchtschirm. Lester merkte, daß nun selbst die leise geflüsterten Worte der Gäste verstummt waren. Alle saßen da, lauschend, als hätte sie ein Ruf erreicht. Aus dem Lautsprecher tönte ein Lied, eine Frauenstimme sang. Es war ein primitives Lied, eine Melodie aus wenig Tönen, ein langsamer, schleppender Rhythmus. Lester hatte Mühe, dem Text zu folgen; es waren alte Worte dabei, Begriffe aus der Geschichte dieses Volkes, scheinbar zusammenhanglos aneinandergereiht, und da Lester sie nur schwer verstand, nahm er an, daß auch die Leute um ihn herum den Sinn nicht erfaßten. Und trotzdem war es dieses Lied, das irgend etwas in ihnen zum Schwingen brachte:
über nasse Wege gehn
Straße der Freiheit vergiß vergiß
Hund der getreten wird
Regenbogengold
laß nicht locker Baby
ich knips das Radio an eia
Straße der Freiheit vergiß vergiß
Herz das den Rhythmus schlägt
Sonntagmorgen schlafen
Regenbogengold
Als Lester nicht mehr über die Bedeutung einzelner Vokabeln nachdachte, sondern nur noch zuhörte, fühlte er in sich irgend etwas erwachen. Er erhob sich und ging die Stufen hinauf, durch die dunkle Gaststube, auf die Straße hinaus. Und Hunderte gingen neben ihm. Sie kamen aus Türen, aus Seitenstraßen, aus Kinos und Teestuben. Langsam strömten sie durch die Allee, hielten auf einen Platz. Noch immer war der Rhythmus lebendig – gesummt, gemurmelt oder bloß gedacht. Lester ertappte sich dabei, daß er mitsummte.
Unter seinen Füßen fühlte er Metall, Schienen. Irgendwo vorn bimmelte es – dort standen einige der altmodischen Schienenwagen, die den Stadtverkehr bewältigen sollten. Eine Sirene erklang. Megaphone bellten.
Er beachtete sie nicht, hörte sie nicht. Für ihn gab es nur diesen Gesang. Die Synkopen wühlten ihn auf. Er hätte jubeln können, aber auch weinen, sich zu Boden werfen oder fortlaufen, irgendwohin, alles zurücklassen …
Er spürte Tränen in den Augenwinkeln. Die Umgebung verschwamm – es schmerzte. Ein ätzender Dunst füllte seine Lungen. Er fühlte ein Zittern in den Knien. Er fühlte sich gestützt, gehoben, getragen. Die Eindrücke gingen in einen Traum über.
Er erwachte im Innenhof eines alten Hauses. Wasser plätscherte. Seine Augen brannten. Ein feuchtes Tuch wischte darüber hinweg, linderte den Schmerz. Um ihn herum standen einige Männer und Frauen in bunten, weiten Kleidern.
»Das Tränengas ist nicht so harmlos, wie viele meinen«, sagte einer. »Gehen Sie in die nächste Apotheke und lassen Sie sich etwas verschreiben, damit nichts zurückbleibt!«
»Was ist geschehen?« fragte er heiser.
»Sie sind in einen Auflauf geraten«, erklärte eine Frau. »Auf der Hauptkreuzung der Straßenbahn. Der Verkehr war für zwei Stunden lahmgelegt.«
»Aber wie kam ich dazu?« stammelte Lester. »Ich wollte doch nicht …«
»Das ist es ja eben«, sagte die Frau. »Niemand will es – aber es geschieht.«
Das Brennen in den Augen, in der Nase und im Rachen hatte aufgehört. Lester hatte die betroffenen Organe reduplizieren lassen – eine Behandlungsweise, die den Bewohnern dieses Planeten noch versagt war; sie mußten ihre Entwicklung kontinuierlich vollziehen.
Lester hatte nachgedacht, und er glaubte der Lösung seines Problems nähergekommen zu sein: Es war der Gesang gewesen, die primitive Melodie, der Text mit den vagen Begriffen aus alten Zeiten, die die Menschen zum Handeln gezwungen hatte. Ein geheimes Zeichen oder ein posthypnotischer Befehl? Lester wußte es noch nicht. Aber er ahnte, wo die Fäden zusammenliefen.
Es waren stets dieselben Lieder, die bei solchen Gelegenheiten ertönten, und es war dieselbe Sängerin, die sie eingeführt hatte: Anda, der große Modestar, ein Mädchen, von dem man nur den Vornamen kannte. Anda sang im Rundfunk, Fernsehen, auf Shows und in Filmen, am liebsten aber sang sie auf der Straße. Wo immer sie erschien, war sie von Bewunderern umlagert, und die Sprechchöre forderten so lange: »Anda, sing für uns!«, bis sie sich auf einen rasch herbeigeschafften Tisch stellte, auf ein Fensterbrett schwang oder auch nur auf eine alte Mauer, und ihre Lieder begann.
Lester ließ sich als Journalist bei ihr anmelden, und zu seinem eigenen Erstaunen wurde er sofort vorgelassen.
Anda bewohnte ein altes Haus außerhalb der Stadt – das Haus ihres Vaters, der Postbeamter war und seinem Beruf nach wie vor nachging. Der Manager war ihr Bruder, ein magerer junger Mann mit dunkel umringten Augen und einem steten müden Lächeln. Als Lester vor Anda stand, wurde er unsicher: Konnte sie eine Revolutionärin sein? Er kannte ihr Bild, aber in Wirklichkeit war sie noch kleiner, noch zerbrechlicher. Sie hatte ein Kindergesicht, glatter, als es ihrem Alter entsprach, doch die Augen darin waren wissend und alt. Sie war nicht hübsch, aber außergewöhnlich apart – hervorstehende Backenknochen, glattes schwarzes Haar, an der Stirn in gerader Linie gestutzt. Sie lächelte ihn an.
»Ich möchte Sie einiges fragen«, sagte er.
»Gefallen Ihnen meine Lieder?« fragte sie. Sie brachte ihn ein wenig aus der Fassung.
»Ja, natürlich«, antwortete er.
Sie waren allein im Raum. Die Tür zum Nebenraum stand offen. Ein Stuhl knarrte. Saßen dort die Bewacher? Er stand rasch auf und blickte ins andere Zimmer. Eine alte Frau blickte erstaunt vom Strickzeug auf.
»Verzeihung!« sagte er.
»Was haben sie?« fragte Anda. Sie war neben ihn getreten. Er empfand ihre Nähe mit einem ungewohnten erregenden Gefühl – man mußte ihm eine besondere Sensibilität als Eigenart dieser Rasse einprogrammiert haben. Als sie seinen Blick sah, ging sie rasch zur Sitzbank zurück und sagte: »Sie sind seltsam. Was haben Sie? Setzen Sie sich!«
Lester folgte der Aufforderung. »Ich möchte einiges wissen – über Sie und Ihre Lieder.«
»Ich bin uninteressant«, antwortete Anda. »Eine Schülerin, die ein wenig singt. Meine Lieder – nun, es sind alte Melodien, Lieder über Liebe und Heimweh, über die Sehnsüchte einzelner Menschen. Sie sind schön, nicht wahr? Mein Bruder hat sie entdeckt, eine Handschrift in einer Bibliothek. Er studiert Musik.«
»Ihr Bruder hat sie entdeckt?« wiederholte Lester. Er überlegte. Dann beschloß er, alles auf eine Karte zu setzen. »Ich bin kein Journalist«, sagte er. »Ich bin Vertreter der Regierung. Wir haben Sie durchschaut. Ihre Lieder wiegeln die Massen auf. Sie sind das Zentrum der Revolution!«
Anda sah ihn groß an. »Das ist ein Scherz, nicht wahr?« sagte sie. »Oder wollen Sie sich interessant machen? Stellen Sie doch Ihre Fragen, oder lassen Sie mich zufrieden.«
»Wer steht hinter diesen Liedern? Wer sagt Ihnen, wann und wo Sie singen sollen? Von wem bekommen Sie ihre Befehle?« Lester hatte seine Stimme erhoben, und Anda sagte: »Seien Sie still, oder ich rufe Mutti!« Sie holte aus einem Fach des neben ihr stehenden Bücherregals ein kleines Heft, einen Umschlag und eine Schallplatte. »Das sind einige Unterlagen für die Presse«, sagte sie. »Im Umschlag sind Photos von mir. Die Schallplatte ist für Sie – zum Andenken. Aber jetzt gehen Sie bitte!«
Lester stand auf. Sie reichte ihm die Hand. »Aber warum singen Sie?« fragte er.
»Ich tue es gern. Die Lieder sind so schön und so traurig. Ich möchte sie am liebsten immerzu singen. Es ist nicht nötig, daß man mich dafür bezahlt. Ich freue mich, wenn ich die Menschen rühren kann. Sie alle mögen meine Lieder. Sie hören gern zu. Was müssen Sie für ein Mensch sein, wenn Sie das nicht verstehen!«
Lester war in die Regierungszentrale zurückgekehrt. Er federte leicht auf seinem Stuhl. Er ertappte sich dabei, daß er das nach einem bestimmten Rhythmus tat: Straße der Freiheit …
Die Schnarre erklang. Jonathan meldete sich. »Hast du dich schon erholt, Lester?«
»Wieso meinst du …?« fragte Lester.
»Ich bin nicht in deine private Sphäre eingedrungen – keine Angst! Aber es kann ja gar nicht anders sein: Du warst in einer Welt der Primitivität, des Chaos. Sie mußte dich verwirren. Du mußt die Eindrücke erst verarbeiten, deine Gedanken sammeln.«
»Das stimmt«, bestätigte Lester.
»Inzwischen sind die rationalen Gründe für die unerwartete Situation geklärt worden.«
»Das Mädchen ist schuld«, sagte Lester.
»Ja, das Mädchen! Sie hat die alten Lieder zu neuem Leben erweckt. Wir haben sie analysiert – es sind die Lieder eines unterdrückten Volkes. Lieder, in denen das, was sie eigentlich sagen sollten, nur versteckt zum Ausdruck kommt.«
»Freiheit«, meinte Lester.
»Freiheit? Nein – nicht Freiheit. Freiheit ist nur eine oft auftretende Vokabel. Freiheit läge ganz im Sinn der von uns induzierten Umschwünge. Wir haben das Begriffsfeld analysiert: Alle Worte stammen aus der semantischen Umgebung eines Begriffs, der selbst nirgends explizit auftritt. Kampf gegen die fremden Unterdrücker! Nicht Freiheit: Befreiung! Verstehst du jetzt, wie solche Lieder wirken: bedingte Reflexe, Assoziationen. Unbewußt, aber mit unfehlbarer Wirkung.«
»Und wir haben das noch unterstützt!«
»Ja, sie tauchten gerade auf, als wir die Stimmung der Bevölkerung durch Psychodrogen so beeinflußt hatten, daß sie auf jede Aufforderung zu politischer Aktivität zustimmend reagierte. Das war die Ursache der Aufstände.«
»Das war auch der Grund für Andas Erfolg«, sagte Lester, und er sah ihre kindlichen Züge wieder vor sich, empfand einen Anflug des Reizes, den sie ausstrahlte. »Es war also ein Fehler in der Organisation.«
»Es war kein Fehler!« Wie immer reagierte Jonathan heftig, wenn Lester die Perfektion des Systems in Frage stellte. »Die Organisation war perfekt. Die Berechnungen stimmten.«
»Die Möglichkeit, daß gerade zur Zeit der politischen Umorientierung totgeglaubte Parolen aus uralten Zeiten auftauchen könnten, war übersehen worden.«
»Nicht übersehen … Nur war ihre Wahrscheinlichkeit gering. Praktisch gleich null.«
»Theoretisch gleich null!« verbesserte Lester, und Jonathan verzichtete diesmal auf Widerspruch. »Ich habe eben eine Nachricht erhalten«, sagte er. »Der magnetische Ring um die Dunkelsonne Waldow VII ist leck geworden. Die Gravitonen laufen aus. Wir müssen sieben Distrikte evakuieren – darunter Coman und Wosterhaed.«
»Das wirft uns weit zurück«, sagte Lester.
»Wir werden damit fertig.«
»Es ist also wieder das Unerwartete des Ereignisses, das dich bedrückt.«
Jonathan bestätigte es.
»Soll ich bei Waldow VII nach der Ursache suchen?«
»Die Ursache ist bekannt – ein vagabundierendes Gravitationsfeld, eine Art Kugelblitz.«
»Was möchtest du also wissen?«
Jonathan zögerte mit der Antwort. Dann sagte er langsam: »Wir haben die Statistik jener Zufälle analysiert, die unsere Bemühungen immer wieder zuschanden machen. Die Resultate stimmen mit den Erwartungswerten überein. Was wir aber noch nicht wissen und wofür wir noch kein Kalkül haben, das ist das Eintreten des einzelnen Vorfalls. Warum singt das Mädchen auf Herrera Freiheitslieder? Warum verirrt sich ein Kugelblitz in unser Abschirmnetz? Warum geschieht das genau in jenen Augenblicken, in denen es uns am meisten stört?«
»Und die Antwort?« fragte Lester.
»Es gibt nur eine: Es steckt eine Absicht dahinter. Wir sind bereits verplant.«
»Wir sind bereits verplant?« fragte Lester erstaunt.
»Ja!« bekräftigte Jonathan. »Nur eine einzige Ursache kann einen perfekten Plan zunichte machen: ein anderer, übergeordneter Plan. Und darum«, er sprach, oder richtiger, er dachte seine Sätze wieder schneller, »darum brauchst du deine Recherchen nicht bei Waldow VII ansetzen, sondern gleich dort, von wo aus die Vorfälle gesteuert werden dürften – von Thor. Thor war das Haupt der einzigen Organisation, die der unseren ebenbürtig war. Wir haben sie nur deshalb in unser System einbezogen, weil wir dadurch seine Effektivität steigern konnten.«
Lester erinnerte sich an einige Einzelheiten des Vertrags. »Ihr Regierungssystem besteht noch. Ihr Computer arbeitet unabhängig von unserem. Sie verwalten zwei Millionen Distrikte.«
Jonathan bejahte, ohne Worte zu formulieren. Er fügte hinzu: »Es ist die einzige Stelle, die einen umfassenden Plan für eine Ordnung der Welt entwerfen kann. Sieh dich dort um. Offiziell kommst du als Gast unserer Vertretung. Sei vorsichtig! Außerhalb des extraterritorialen Gebiets können wir dich nicht schützen.«
»Ich reise sofort ab«, sagte Lester. Dann fiel ihm noch etwas ein: »Was ist mit Anda geschehen?«
Jonathans Antwort ließ ein wenig auf sich warten. »Sie singt nicht mehr«, antwortete er dann.
Thor ist eine Welt der Dunkelheit und der Kälte – der absoluten Dunkelheit und der absoluten Kälte: minus Z730. Keine einzige strahlenspendende Sonne liegt innerhalb dieser Wüste, kein radioaktiver Meteorit, der Wärme enthält und aussendet. Und doch gibt es Leben in dieser Region, Leben, das Ordnungen schafft und Bewußtsein entwickelt.
Es existiert auf einer viel tieferen Energieebene als das der organischen Lebewesen, und es ist nicht auf chemische Umsetzungen aufgebaut, sondern auf Nullpunktphänomene: Bewegung ohne Reibung, elektrische Schwingungen ohne Abstrahlung, Strom ohne Widerstand. Die umgesetzten Energiebewegungen sind winzig klein – nur wenige Quanten, und doch gibt es hier Organisation, Veränderung, Entwicklung. Staubkörner, aus nur winzigen Atomen aufgebaut, orientieren sich im Kraftfeld von Kristallen, Elektronenkreisel wechseln den Sinn ihres Umlaufs. Veränderungen rufen neue hervor, Beziehungen entstehen, Strukturen wachsen, werden umfassender, komplexer, reagieren auf äußere Einflüsse, aus dem Innern heraus gesteuert. Das Unausbleibliche vollzieht sich selbst hier, in dieser scheinbar sterilen Umgebung: Leben.
Die Kluft zwischen Wesenheiten so unterschiedlicher Energieebenen erschwert den Kontakt. Nullpunktwesen sind fragil, schon die Wärmeausstrahlung einer Mücke würde sie zerstören. Nicht einmal ihre Existenz hätte man bemerkt, wäre ihre Technik nicht über sie selbst hinausgewachsen, hätten sie nicht Wirkungen erzielen können, deren Energieumsatz den ihrer Metabolismen um ein Trilliardenfaches übertraf.
Inmitten jener Wolke aus Staub, aus der sich die Nullpunktwesen ständig erneuerten, schwebt der Zellenbau ihres Regierungsgebäudes – vielleicht ein Abbild ihrer elementaren, kristallinen Struktur. Und am Rand des Zellenbaus, über den Richtstrahl des Gravitonen-Lasers mit der lichterfüllten Welt verbunden, rotierte eine Kugel, durch dreifache Mauern nach außen abgeschirmt, ein Hort der Wärme und des Lichts, die Kapsel des Botschafters. Dort materialisierte sich, aus unvorstellbarer Ferne gesteuert, der Körper Lesters.
Der Botschafter war ein Wasserbewohner von Hektal, und sein Kontakt mit der Zentrale beschränkte sich normalerweise auf den Austausch von Formalitäten über die Bildschirme. Nur eine kleine Gruppe von Humanoiden befand sich unter seinem Personal, und von diesen hatte nur einer noch seinen ursprünglichen Zustand behalten: Moira, eine Frau von olivbrauner Hautfarbe und unbestimmter Abkunft, rothaarig, groß und kräftig – sie konnte noch hundert Jahre leben, ohne sich einspeichern lassen zu müssen. »Ich weiß nicht, was du vorhast«, sagte sie, »aber ich will dir helfen.« Sie war bei Lesters Reintegration dabei gewesen, und er genierte sich vor ihr.
»Ich habe nichts Besonderes vor«, antwortete er. »Es ist ein Höflichkeitsbesuch.« Aber sie lachte nur leise und tief. »Das wäre zu bedauern«, sagte sie.
»Warum?«
»Es gäbe hier einiges, was nicht uninteressant ist.«
»Was, beispielsweise?« fragte er.
Sie winkte ihm, ihr zu folgen. Sie bewegte sich mit erstaunlicher Sicherheit über das Gravitationsfeld, das in Kurven und gelegentlich die Ebene wechselnd durch den Bau führte. Sie fand dabei noch die Zeit, die Hüften zu wiegen. Obwohl seine Programmierung von Herrera längst aufgehoben war, erinnerte sie ihn an Anda. Er wußte nicht wieso, denn die beiden hatten nichts gemeinsam.
Sie gelangten in einen Raum, der ungewöhnlich eingerichtet war. Stereobilder schwebten umher, uralte Gegenstände hingen an den Wänden: ein Autoscheinwerfer, eine Balaleika, ein Buch. Persönliche Dinge standen herum, in einer Nische zischten die nach oben gerichteten Düsen eines Hovercraft-Betts. Eine Wand wurde von einer gekrümmten, mattglänzenden Scheibe gebildet, ein schmales Gravitationsband lief rund herum, so daß man an jede Stelle nahe herankommen konnte.
»Mein Zimmer«, sagte Moira, und wieder lachte sie, als sie Lesters Betroffenheit über diese Unverfrorenheit bemerkte, ihm Einblick in ihre Privatsphäre zu geben. »Nur hier bin ich ungestört«, erklärte sie. »Komm!« – sie trat an den Schirm und drückte einen Knopf. Es wurde dunkel im Raum, und gleichzeitig erhellte sich die gewölbte Kunststofffläche. Was darauf erschien, ließ sich am ehesten mit dem Himmel föhniger Tage vergleichen – Wolken vor einem violettblauen Hintergrund, in Flocken aufgeriffelt, sich an einigen Stellen verdichtend, an anderen wieder sehr dünn und kaum wahrnehmbar.
»Ein Bildwandler«, erklärte Moira. »Ein Blick in die Welt von Thor. Die kaum wahrnehmbaren Strahlungen gebündelt, verstärkt und in Licht umgesetzt. Ich habe ihn gebaut.«
»Warum?« fragte Lester. Er starrte fasziniert in dieses diffuse Gewirr von Nebel und Dunst.
Moira trat auf Lester zu und packte ihn am Unterarm.
»Ist denn das so schwer zu verstehn?« fragte sie heftig. »Das ist ein Gefängnis. Seit Jahren habe ich keinen Menschen mehr vor mir gehabt – körperlich und lebendig, meine ich. Meine Gefährten sind Schaltungen, was sie reden, bestimmen ein Programm und der Zufallsgenerator. Ich bin so einsam wie nie ein Mensch zuvor, abgetrennt von der Welt, von Mauern umgeben, Ich wollte ein Fenster besitzen – ich glaube, ein bescheidener Wunsch?!«
Lester trat zurück und streifte ihre Hand dabei ab. »Und was hast du entdeckt?«
»Du bist auch schon eine Schaltautomatik«, sagte Moira. Mit einer energischen Bewegung warf sie ihre flammende Mähne zurück. Sie griff nach der Schalttafel – der Ausschnitt verkleinerte sich, die Dinge dehnten sich aus.
»Na?« fragte sie.
Lester zuckte die Schultern.
Sie blickte hochmütig auf ihn herab, denn sie war ein wenig größer als er.
»Siehst du nicht? Dieser Punkt?«
Inmitten der verschwimmenden Wogen von Staub saß ein unwahrscheinlich heller Punkt, von einem tiefschwarzen Ring umgeben.
»Ein Fehler im Verstärkersystem?« fragte Lester.
Moira sah ihn noch immer an. Sie schwieg.
»Also kein Fehler«, sagte er. »Somit eine Quelle von intensivster Energie. Was ist es?«
»… dieser Welt unangemessen hoher Energie«, verbesserte Moira.
»Was ist es?« wiederholte Lester.
»Ich weiß es nicht. Aber es ist hier fehl am Platz. Es hat nichts zu suchen in dieser Welt. Es ist gefährlich für sie. Ich weiß nicht, was sie damit tun, aber für sie ist es so, als bewahrten wir eine Antimateriebombe in unserer Hauptstadt auf.«
»Eine Bombe?«
»Es ist natürlich keine Bombe«, sagte Moira. »Was es ist, weiß ich nicht. Aber eines ist sicher: Es liegt auf unserer Energieebene. Es hat etwas mit uns zu tun.« Sie stellte einen noch kleineren Ausschnitt ein, und jetzt war auch die Form zu erkennen – ein regelmäßiges Polyeder.
Vielleicht, dachte Lester, bin ich meinem Ziel schon näher gekommen, als ich hoffen durfte.
»Kann man die Vergrößerung nicht noch etwas steigern?« fragte er. Abrupt schaltete sie den Bildwandler aus und wandte sich um: »Nein, und es nützt auch nichts«, antwortete Moira, »das Gebilde ist undurchsichtig. Und nun wirst du dich wahrscheinlich ausruhen wollen.«
»Ja, das möchte ich gern. Auf Wiedersehen!« Er mußte daran denken, daß dieser formelhafte Gruß hier wirklich einmal stimmte – und er würde sie wiedersehen, ohne Zwischenschaltung eines Mediums, ohne Konverter, Bildwandler, Scannistoren.
In seinem Raum angekommen, setzte er sich mit der Regierungszentrale in Verbindung. Er ließ Jonathan rufen und wählte einen komplizierten Code, der das Gespräch zwar verlängerte, dafür aber kaum zu brechen war. Der Regierungschef stimmte mit ihm darüber überein, daß das von Moira entdeckte Objekt verdächtig war und untersucht werden mußte. Es war in keiner der Raumkarten verzeichnet.
»Aber was soll ich unternehmen?« fragte Lester.
»Du mußt näher herankommen.«
»Auf welche Weise?«
»Es muß doch Wesen geben, die in einer Zwischenzone leben können. Amphibien der Nullpunktwelt, sozusagen.«
Jonathan schaltete sich kurz mit dem Hauptspeicher zusammen. Er bekam einige Vorschläge und verglich die Möglichkeiten. »Ja, diese eignen sich am besten: die Loris. Laß dich in einen Lori umwandeln. Die Koordinaten lasse ich durchgeben.«
Lester war nicht sehr glücklich darüber, denn er mußte Moira um ihre Hilfe bitten, doch sie führte den Auftrag sachlich und ohne überflüssige Worte aus.
Und dann schwebte er durch die Schleuse, in die Leere hinaus. Zum ersten Mal befand sich ein Mensch in dieser unheimlichen erstarrten Welt.
Doch sein erster Eindruck war Erstaunen, vom übergeordneten menschlichen Bewußtsein registriert, das seine Identität trotz der Umwandlung aufrechterhielt. Diese Welt war nicht leer! Sein Organ, das magnetische Felder aufnahm, stellte ein Lichternetz unzähliger feiner Linien fest, die von gleißenden Punkten ausgingen, ausfächerten, leere Räume in weiten Schwüngen überspannten – ein Muster aus goldweißen Fäden, die sich nirgends berührten und doch in einer unsagbaren Beziehung aufeinander abgestimmt waren. Sein Organ, das auf Gravitation ansprach, empfand die materiellen Ballungen als eine Art Härte oder Hitze – ein Gefühl zwischen Tast- und Wärmeempfindung und doch stark differenziert – wohl der Hauptsinn für die Orientierung. Manchmal nahm er wandernde Wirbel im Raumgefüge wahr, die vorbeihuschende Gravitonen hinter sich nachzogen; sie bildeten Strukturen großer Vielfalt und waren wohl die Lebensäußerungen der Nullpunktwesen, und zugleich – was wohl dasselbe war – ihre Kommunikation. Er verstand sie nicht – als Lori waren sie ihm verschlossen, und er bedauerte es, daß die Umwandlung Grenzen hatte. Jetzt war er überzeugt davon, daß auch das Dasein in dieser Welt reich und erfüllt war.
Sein winziger Körper konnte sich hier unauffällig bewegen – hier und da begegnete er einem anderen Lori, und tauschte die Erkennungsformel mit ihm aus. Er verdrängte seine abschweifenden Interessen an der noch fremdartigen Umgebung und erinnerte sich an sein Ziel: das Polyeder. In leichten Pulsationen schob er sich hinüber; je näher er kam, desto härter und heißer fühlte sich das unbekannte Gebilde an, und er mußte sich durch eine Schutzhaut aus Elektrizität abkapseln. Er hoffte nur, daß sein Körper dieser Beanspruchung gewachsen war. Trotzdem bewegte er sich unentwegt weiter, und er erreichte das Polyeder, ohne aufgelöst worden zu sein.
Die heißen, glatten Flächen, von denen flimmernde Büschel magnetischer Schwingungen ausgingen, schmerzten ihn, aber das menschliche Bewußtsein setzte sich darüber hinweg. Er hing bereits an der Wand und tastete sie nach einem Eingang ab. Sein schwacher Körper zitterte im Ansturm der unheilvollen Eindrücke. Langsam umrundete er den Körper, und plötzlich ließ der Druck nach – trichterartig öffnete sich ein angenehm kühler Kanal in der Wand, und er drang in die Materie ein, durchstieß sie und schwebte schließlich, durch einen Gravitationsschirm geschützt, im Innenraum.
Seine organische Komponente erschrak: Was da unter ihm an der Wand hockte, das waren Menschen. Sie bewegten sich nicht. Waren sie tot oder lebten sie? Er mußte es feststellen. Konnte er ihnen ein Zeichen geben? Er ballte sich zu einer Kugel zusammen – der Form maximaler Widerstandsfähigkeit – und warf sich auf den undurchdringlichen Schirm.
Die Wesen dort unten regten sich! Sie sprachen.
Lester konnte die Schallwellen umsetzen, obwohl sie nur als sekundär ausgelöste Strahlung zu ihm drangen.
»Hast du auch was gehört, oder habe ich Halluzinationen?«
»Ein leiser Stoß?«
»Unmöglich! Soviel Kraft haben sie nicht.«
»Ob sie wieder mit einem Experiment beginnen, Jo?«
»Beruhige dich, Liebling! Was kann uns schon geschehen? Allenfalls ist es aus mit uns, und das spüren wir nicht.«
Der geborgte Körper Lesters war am Ende seiner Kraft. Er stieß sich rasch ab und flog geradewegs durch den Trichterschlund ins Freie. Die Schwerelosigkeit war wunderbar. Wohlig entfaltete er sich. Dann bekam ihn der übergeordnete Verstand wieder in die Gewalt, und er schwamm an seinen Ausgangsort zurück.
Als er seinen menschlichen Körper zurückgewonnen hatte, stand Moira vor ihm. Sie trug ein leuchtend grünes Kleid, ihre Haare flammten. Sie atmete schwer, und er roch den blumigen Duft ihres Parfüms. Er trat auf sie zu, legte die Arme um sie und küßte sie. Nach einer unmeßbar langen Zeit richtete er sich auf, um Atem zu schöpfen. Moira blickte ihn auf eine Weise an, wie noch nie jemand zuvor – er verstand nicht, was ihr Gesichtsausdruck bedeutete, aber er ahnte einen Strom von Emotionen, der ihn überschwemmte.
»Wunderst du dich?« fragte sie. »Hier war noch nie ein Mann. Du bist der erste. Ich habe vorhin, bei der reziproken Umwandlung, einen privaten Wunsch von mir erfüllt. Ich möchte ausprobieren, was man von früher hört.« Sie zog ihn an sich, ihre grünen Augen waren ganz dicht vor seinen. »Ist es schön?« fragte sie.
»Ja«, flüsterte er. »Ich liebe dich.«
Menschen im Raum von Thor, ohne Wissen der Weltregierung, außerhalb der Botschaft – das war eine Ungeheuerlichkeit. Es bedeutete einen Vertrauensbruch, und noch mehr: Es mußte eine tiefere Bedeutung haben, denn der technische Aufwand für die Nullpunktwesen, einen für Menschen erträglichen Zustand zu schaffen, war gigantisch. Wenn sie es trotzdem versucht hatten, dann nur, weil der Zweck ebenso alles Vorstellbare übertraf.
Eine außergewöhnliche Situation erforderte außerordentliche Mittel. Lester sollte die Gefangenen befreien. Das war nicht schwer – nur die Folgen konnten schwer sein.
Er setzte sich in ein Raumboot und ließ sich durch die Schleuse schieben. Der Alarm der Nullpunktwelt erfolgte prompt – die Gravitonenschwärme verbreiteten die Nachricht in allen Richtungen. Aber Lester hatte eine kleine Zeitspanne Vorsprung.
Wie ein verderbenspeiender Panzer brach sich das Boot Bahn durch das filigrane Netz der Kraftfäden, durch die Muster der orientierten Staubteilchen, zerstörend, auflösend, eine Straße des Todes hinter sich nachziehend. Lester verankerte den Polyeder magnetisch und flog, ihn nachziehend und deshalb erheblich langsamer, zur Botschaft zurück. Er paßte die Schleuse einer Seitenfläche des Polyeders an, durchbrach diese und holte die vier Menschen heraus.
Es waren drei Männer und eine Frau, Angehörige einer dunkelhäutigen Rasse. Sie waren abgemagert und geschwächt, unter der künstlichen Schwerkraft knickten sie fast zusammen. »Menschen«, stammelte einer der Männer. »Peggy, es gibt noch lebendige Menschen!« Die Frau klammerte sich an ihn und schluchzte.
»Kommt in die Transitionskammer«, forderte sie Lester auf. »Könnt ihr gehen? Wir bringen euch in Sicherheit.« Er verringerte die Schwerkraft auf die Hälfte – das half ihnen sichtlich.
»Wohin bringt ihr uns?« fragte Bob, der Anführer des kleinen Trupps.
»Zuerst in die Klinik der Toricelli-Universität. Dann ins Büro des Sicherheitsrats.«
»In die Hauptstadt?« Lester hörte grenzenloses Erstaunen, aber auch Erleichterung in seiner Stimme.
»Selbstverständlich! Warum nicht?«
»Dann ist der Anschlag also mißlungen!«
»Was für ein Anschlag?«
Die Geretteten blickten einander an, zuerst ungläubig, dann schon halb überzeugt, und schließlich schlugen sie einander auf die Schultern und drückten einander die Hände.
Während die Frau von Moira betreut im Analysator lag, berichtete Bob kurz.
»Wir gehörten zu einem Löschkommando, und zwar haben wir uns auf Novas spezialisiert. Steht eine in der Nähe bewohnter Distrikte bevor, so verhindern wir das – wir sprengen die betreffende Sonne, bevor sie von selbst explodiert. Dadurch wird die atomare Kettenreaktion verhindert.«
Das Sprechen strengte ihn an, und einer seiner Gefährten setzte fort: »Wir verwenden Antimaterie-Sprengsätze – sie arbeiten am saubersten. Wir verankern eine Kapsel aus einer Neutronen-Protonen-Legierung in den obersten kühlen Schichten. Sie ist als einwindige Schraube ausgebildet und enthält ein Rückstoß-Prallgetriebe.«
»Sie wird von innen heraus in Drehung versetzt«, erläuterte Bob. »Dadurch schraubt sie sich in die Sonnenmaterie ein. Auf diese technischen Details kommt es aber gar nicht an. Jedenfalls steuert sie automatisch den gravitationsfreien Mittelpunkt an und explodiert, sobald sie ihn erreicht hat.«
Sie hatten gar nicht darauf geachtet, daß Peggy schon befördert war. »Der nächste bitte«, sagte Moira, und der junge Mann legte sich in den Analysator.
Lester wurde ungeduldig. »Was hat das alles mit dem zu tun, was mit euch geschehen ist?«
»Wir haben eine Sprengkapsel in die Hauptstadt gelegt«, sagte Bob schwer.
Die Hauptstadt, gewissermaßen das Zentrum der Welt, lag auf einem künstlichen Himmelskörper, oder richtiger: ihre Bauwerke bildeten ihn. Über einen kleinen Kern aus komprimierten Heliumkernen hatte sich Schicht auf Schicht gelegt – Bürogebäude, Kliniken, Universitäten, Computerfelder, Speicher, Kommunikationszentren. Im Laufe der Jahrmillionen war ein kugelförmiger Himmelskörper entstanden. 32 dynamisch verankerte Kugeln aus schwerem Wasserstoff spendeten ihm Licht und Wärme. Ein Antimaterie-Sprengsatz hätte diese Keimzelle der intergalaktischen Organisation zu Staub zerblasen.
»Das kann nicht möglich sein. Im ganzen Raum sind Überwachungsmeteoriten verteilt. Die automatischen Steuerzentren sind mit Kontrollelementen versehen. In euch selbst sind Hypnoblocks einprogrammiert.«
»Und doch war es möglich!« Bob wischte sich mit der Hand über die Augen. Inzwischen war auch der Junge verschwunden, und der dritte der Männer lag unter dem Analysator.
Nach einer kleinen Pause fuhr er fort: »Wir alle standen plötzlich unter einem Zwang. Wir handelten, ohne es zu wollen. Unsere Hypnoblocks sperrten nicht mehr. Zwei Überwachungsmeteoriten sprengten wir in die Luft. Der Nachrichtentechniker«, mit einer Kopfbewegung deutete er auf den Mann im Analysator, der sich schon halb aufgelöst hatte, »arbeitete drei Tage an den Kontrollelementen – und schaltete sie aus. Theoretisch hätte er das gar nicht gekonnt, denn er hatte vor der Fahrt nur den Kommunikationsblock speichern lassen, nicht aber den Kontrollblock. Und dann näherten wir uns der Hauptstadt. In fünfzehn Lichtsekunden Abstand hielten wir an. Wir schleusten die Schraubenkapsel aus und schickten sie los. Nichts mehr konnte sie aufhalten.«
»Die Hauptstadt besteht nach wie vor«, sagte Lester.
»Als das vorüber war, erlosch unser Wille. Wir sanken zu Boden, weil wir nicht einmal mehr die Energie hatten, uns aufrecht zu halten. Was dann geschah, weiß ich nicht. Wir erwachten in einem kugelförmigen Hohlraum. Eine Platte wies geringe Gravitation auf, so daß wir wenigstens Boden unter den Füßen hatten. Die Atmosphäre war atembar, Licht kam von einem leuchtenden Ding in der Decke. Von Zeit zu Zeit materialisierten sich Wasser und Trockennahrung in Kunststoffhüllen. Gelegentlich wurden wir unbekannten Kräften ausgesetzt – einmal glaubten wir auseinanderzufallen, dann wieder wurde uns aus dem Innern heraus eisig kalt, ein anderes Mal verzerrte sich der Raum, so daß jeder den anderen wie verrührte Ölfarbe auf Wasser sah …«
Moira war neben ihn getreten. Als er stockte, sagte sie: »Es ist soweit.«
»Ich bin sowieso am Ende«, meinte Bob. Er legte sich unter den Analysator, und Moira überwachte den Abtastvorgang. Dann sahen sie zu, wie Bob allmählich verschwand, um in einem Krankenzimmer der Klinik wieder zu erwachen. Er war in Sicherheit.
»Und du?« fragte Moira.
»Zur Zentrale-Reunikation«, antwortete Lester.
Moira blickte ihn eine Weile unbewegt an. Er versuchte, keine Regung zu zeigen. Endlich sagte er: »Es hilft nichts, Moira.« Er legte sich unter den Analysator. »Vielleicht begegnen wir uns wieder.«
»In einer Million Jahren – als elektrische Impulse«, sagte Moira und legte den Kippschalter um.
»Meine Meldung hast du sicher bekommen«, sagte Lester zu Jonathan. Seine beiden Körper waren wieder vereinigt worden – reuniziert –, und er hatte sich vor allen anderen Verpflichtungen mit dem Chef zu einem verschlüsselten Gespräch verbinden lassen. »Hast du einen Suchtrupp ausgeschickt?«
»Mehr noch«, antwortete Jonathan. »Ich habe das gesamte Sicherungssystem überprüfen lassen.«
Lester wurde allmählich ungeduldig. Die Ereignisse der letzten Tage wirkten in ihm nach. »Und das Ergebnis?« forderte er.
»Der Kontrollmeteorit war tatsächlich ausgeschaltet. Die Rückmeldereaktion war durch eine Überbrückungsschleife unterbrochen worden. In der Lehrmaschine für die freie Einspeicherung stellten wir Spuren eines Eingriffs von außen fest. Auch die Autonomiesperre war künstlich ausgeschaltet.«
»Sabotage«, konstatierte Lester.
»Ja. Wir konnten auch feststellen, woher diese Eingriffe veranlaßt wurden: von Thor.«
»Und die Schraubkapsel?«
»Wir fanden sie im Mittelpunkt, wie du es von der geretteten Besatzung erfahren hast.«
»Der Sprengsatz ist nicht explodiert«, bestätigte Jonathan. Und dann fügte er etwas seltsam hinzu: »Wir hatten Glück.«
Lester forderte wortlos eine präzise Erklärung.
»Die im Gravitationsfeld eingeschlossene Antimateriepackung ist durch vielfache Sicherungen vor ungewollten Berührungen mit gewöhnlicher Materie geschützt. Eine dieser Sicherungen ist ein Matrizenschloß – einhundertachtundzwanzig mal einhundertachtundzwanzig Kontakte in einem ganz bestimmten Muster der Stromrichtungen müssen geschlossen werden. Nun hatte Bob natürlich die passende Gegenmatrize, aber ein einziger Kontakt war oxydiert und leitete nicht. Die Sicherung blieb geschlossen. Die Ladung war nicht explodiert.«
»Es wäre nicht auszudenken gewesen …« Lester versuchte sich das Ausmaß der Zerstörung vorzustellen. Nach ein paar Sekunden sagte er: »Du hattest also doch recht. Unsere sogenannten Partner von Thor haben einen Zerstörungsplan ausgeheckt. Wie hast du es wissen können?«
»Ich wußte es nicht. Und ich hatte unrecht«, antwortete Jonathan.
Lesters Reaktion war Unverständnis. »Ich weiß nicht, wie du das meinst. Du hast vermutet, daß jemand einen Plan entworfen hat, der unsere Arbeit zerstören soll. Du hast vermutet, er könne von Thor initiiert worden sein, und das stimmt.«
»Es stimmt, aber meine Schlußfolgerungen waren trotzdem falsch. Beim Anschlag von Thor handelt es sich im Grunde genommen um eine primitive Handlung, einen direkten Eingriff mit Gewalt und List. So schlimm es gewesen wäre, wenn er gelungen wäre – jetzt bin ich doch beruhigt. Ich habe Thor überschätzt. Mit dem Aufstand im Herrera-Distrikt hat Thor nichts zu tun.«
»Du meinst, es gibt noch eine andere Stelle, die gegen uns arbeitet?«
»Ja. Jetzt bin ich mehr denn je davon überzeugt. Es gibt eine höhere planende Instanz, die steuernd eingreift.«
Lester überdachte diesen außergewöhnlichen Aspekt. »Eine höhere Instanz, die Zerstörung anrichtet?«
»Hast du nicht gemerkt, daß auch Thor davon betroffen war? Und hoch eins: Ich bin nicht mehr so sehr davon überzeugt, daß das letzte Ziel dieser Geschehnisse zerstörerisch ist.« Er merkte, daß Lester seinen Gedanken nur schwer folgen konnte. »Das letzte Glied in dieser Kette von Ereignissen hat uns doch geholfen: der oxydierte Kontakt. Er hat eine Katastrophe ungeheuren Ausmaßes verhindert. Ein Zufall – gewiß. Aber nun kennen wir die Gefahr und können ihr begegnen. Diese Kleinigkeit, eine tausendstel Millimeter dicke Schicht Metalloxid, hat in das Schicksal der Welt eingegriffen. Jetzt funktioniert sie wieder gesetzmäßig.«
»Was wird geschehen?« fragte Lester.
»Wir werden den von Thor verwalteten Teil der Welt in unsere Obhut übernehmen.«
»Wirst du die Ursache bekanntgeben?«
Jonathan verneinte. »Das würde Unruhe erzeugen, die den stationären Zustand unseres Systems gefährden könnte.«
»Nach den Regeln unserer Gesetzgebung wären wir aber dazu verpflichtet.«
»Gewiß. Aber soll ich den Regeln folgen und dadurch den Staat gefährden? Noch besitze ich die Freiheit der Entscheidung, und ich nütze sie. Es wäre unrecht, ein ethisches Prinzip zu vertreten, dessen Ziel es ist, die Summe aller Freiheit zu erhöhen – und von ihr keinen Gebrauch zu machen.«
Wie schon oft bereitete es Lester Schwierigkeiten, den Überlegungen dieses Mannes zu folgen, dem nicht nur der Inhalt sämtlicher zentralen Informationsspeicher des Weltalls zur Verfügung stand, sondern der auch noch einen Reichtum individueller Erfahrungen besaß, der ihn zur führenden Kraft dieses allumfassenden Staates prädestinierte.
»Ich habe wieder eine Sonderaufgabe für dich«, sagte Jonathan.
»Was soll ich tun?«
»Ich will zunächst zu erklären versuchen, warum du es tun sollst«, antwortete Jonathan. »Gehen wir vom Prinzip unseres Wirkens aus: Wir erstrebten eine Optimierung der Entfaltungsmöglichkeiten für alle Lebewesen, gleich welcher Art. Wie unsere Philosophen bewiesen haben, stehen wir damit in Einklang mit der Eigengesetzlichkeit der Welt – sind also gewissermaßen ihr Werkzeug. Unsere Mittel, um uns unserem Ziel näher zu bringen, sind Organisation und Planung. Selbstverständlich hat unsere Einflußsphäre Grenzen – Grenzen mehr technischer als regionaler Art. Hier setzt unsere Arbeit an: diese Grenzen sukzessive zu erweitern. Anders aber ist es innerhalb unseres durchplanten Raumes: Hier können wir kein Eingreifen unerfaßbarer Ereignisse dulden. Wir müssen also nach ihren Ursachen forschen.«
»Was soll ich tun?« fragte Lester wieder.
»Es klingt paradox: nach den Ursachen des Zufalls forschen. Die Ereignisse, die uns Kopfzerbrechen bereiten, fallen normalerweise in die Kategorie Zufall. Aber sie greifen unkontrollierbar in unsere Planung ein. Das Geschehen der letzten Wochen läßt Anzeichen einer übergeordneten Planungsstrategie erkennen, deren Sinn ich noch nicht durchschaue. Wer kontrolliert den Zufall? Wo ist die planende Instanz?«
Lester setzte die Reihe der Fragen fort: »Wir wissen noch wenig von ihr, nicht einmal, ob es sie gibt. Trotzdem müssen wir sie suchen. Und wo? Vielleicht hilft uns ein Analogiebeispiel weiter. Mit Mathematik kann man etwas über die Gesetze der Zahlen aussagen. Womit kann man über die Gesetze der Mathematik selbst sprechen? Jedenfalls nicht mit ihrem Formalismus selbst. Man braucht dazu eine Metamathematik.«
»Und womit spricht man über Metamathematik?«
»Es gibt auch einen Formalismus, der dafür geeignet ist.«
»Und wie lautet der Schluß, der uns weiterhilft?«
»Ganz einfach: Der Zufall liegt außerhalb unserer Naturgesetzlichkeit. Die Instanz, die ihn manipuliert, ist daher außerhalb des Raumes dieser Naturgesetze zu suchen.«
Außerhalb des Raumes der Naturgesetze … sann Lester. Wo ist das? Was geschah dort mit ihm – was war er dort?
»Ich kann es dir nicht befehlen«, sagte Jonathan. »Ich bin dazu nicht berechtigt – nicht als Regierungschef und nicht als Freund.« Wirklich – er verwendete das alte Wort Freund. »Schon damit, daß ich es dulde, überschreite ich meine Befugnis. Und doch: Ich bitte dich – versuche es!«
Lester hatte seinen Stuhl an das große Fenster gerückt. Er blickte hinaus – hinaus in den Riemannschen Raum mit seinen Myriaden Sternen, die ihn krümmten, zwangen, in sich selbst zurückzukehren. Ein Raum, der keine Grenzen hatte und doch umgrenzt war, Raum einer komplizierten Geometrie und doch etwas sehr Einfaches: Gefäß all dessen, was ihm etwas bedeutete. Was war außerhalb des Raumes und der Zeit, außerhalb der vertrauten Erscheinungen, deren Eigenschaften diese waren? Was erwartete ihn dort? Vernichtung, oder ungeahnter Reichtum an unvorstellbaren Wesenheiten?
»Wie soll ich dorthin kommen: in den Raum außerhalb des Raums?«
»Wird er durch die Gravitation geschaffen, so kann er durch sie auch verändert werden. Es gibt Massenverteilungen, die ihn zu einem Punkt zusammenziehen, und solche, die ihn aufklappen wie einen Fächer. Seit wir die Gravitation beherrschen, müßte es auch möglich sein, singuläre Flächen im Raum zu erzeugen – sie sind das Tor in die jenseitige Welt. Der dazu nötige Energieaufwand ist allerdings ungeheuer groß – noch nie wurde in einem begrenzten Raum-Zeit-Intervall eine annähernd gleiche Menge konzentriert, aber ich habe die Mittel, sie zusammenzubringen. Willst du es tun, Lester?«
Lester überlegte nicht mehr. Er stimmte zu.
»Dann lasse ich dich sofort duplizieren – in der Gegend der Hoyle-Ansammlung schwerer Sonnen ist alles vorbereitet. Leb wohl!«
Lester hörte nicht, daß Jonathan noch weiter sprach: »Warum müssen es immer wieder wir Menschen sein, auf denen solche Fragen lasten?«
Lester materialisierte als Komplex von Wirbelfäden aus den Feldstärken der starken Wechselwirkungen. Er befand sich in einem Mahlstrom aus sich verdichtenden Kräften. Die Eindrücke waren kaum beschreibbar – nicht einmal in den sonst üblichen adäquaten Codierungen. Er schwamm in einem Block von körperlich verdichtetem Schwarz, der Raum um ihn schloß sich, die Verbindung nach außen riß ab, alle Eindrücke wurden zu Spiegelungen. Er merkte, ohne es beschreiben zu können, wie sich das Gefüge des Raum-Zeit-Kontinuums veränderte; die Krümmung gegen den Bezugspunkt in der vierten räumlichen Dimension fiel wie rasend zusammen, und alles Gegenständliche im Inneren schieferte sich in Schichten ab, streckte sich, knickte ein, schwoll und schwand. Und dann−
»Was hast du gesehen«, fragte Jonathan. Lester lächelte. »Gesehen? Nichts.«
»Nun – vielleicht nicht gesehen. Aber erfahren? Was geschieht dort?«
»Es tut mir leid«, antwortete Lester. »Ich kann es nicht sagen. Es gibt keine Bilder, keine Worte, keine Formeln … es gibt keine Möglichkeit … keine.«
Metaphysik, dachte Jonathan. Die Katze, die sich in den Schwanz beißt. Der Formalismus genügt nicht für Aussagen über den Formalismus.
»Dann hatte deine … Reise keinen Sinn?«
»Doch«, antwortete Lester. »Ich kann dir einiges andeuten. Ich hoffe, daß es dir die Antwort gibt, die du dir erhoffst. Und es bestätigt vieles von dem, was wir bisher getan haben und noch tun wollen. Es fällt mir schwer, es in einen großen Zusammenhang zu bringen. Ich will es in einzelnen Sätzen sagen, so wie sie sich mir reproduzieren: Vor allem: Die Optimierung der Entfaltungsmöglichkeiten ist die Aufgabe dieser Welt. Sie ist das Ziel des Plans, dem sie folgt. Die Störung des Systems ist ein Mittel der Planungsstrategie. Der Zufall bleibt Zufall, niemand lenkt ihn, aber er verhindert Erstarrung, Leerlauf, Sackgassen. Unser Ziel, ›Entfaltung‹, wird dadurch besser angesteuert, als wir es tun können.«
»Sollen wir dann noch weiterregieren?« fragte Jonathan kaum vernehmbar.
»Wir sind selbst eingeplant, wie immer wir uns verhalten – es kann nie falsch sein.«
»Und die planende Instanz?«
»Die planende Instanz?« Lester quälte sich, das Unsagbare auszudrücken. »Die planende Instanz? Mathematik, Metaphysik, Metalogik … nein, es ist sinnlos. Was ich sagen konnte, habe ich gesagt.«
»Ich danke dir«, sagte Jonathan.
Die Verbindung war noch nicht abgebrochen, da zerriß eine laute Stimme die Nachdenklichkeit der Stunde.
»Hier spricht das Komitee des Ministerrats. Eure Unterredung wurde überwacht. Sie erbringt den letzten Beweis in einer Kette von Verfehlungen, deren sich die Regierung schuldig gemacht hat. Insbesondere die Informationspflicht wurde vernachlässigt. Die Maßnahmen wurden getroffen – ohne Unterrichtung und Zustimmung des Ministerrats. Die Kompetenzen wurden überschritten. Jonathan A1 wird hiermit seines Postens als Vorsitzender enthoben. Die neue Regierung konsolidiert sich in einer Stunde.« Die Stimme hallte nach, klang aus.
Lester merkte, daß er noch Verbindung mit Jonathan hatte.
»Es tut mir leid«, sagte er. »Vielleicht können wir erklären, warum …«
»Nein!« Jonathan unterbrach ihn. »Ich will nichts erklären. Ich bin müde. So brauche ich mir die Frage nicht mehr zu stellen, wie es weitergehen soll. Warum sollte ich mich da wehren?« Er schwieg kurze Zeit. Dann sagte er: »Mich wird man wohl jetzt löschen. Aber du bist jung – du kannst noch viel tun.«
Lester war verzweifelt. Alles in ihm sträubte sich gegen eine Unterwerfung, aber Jonathan mußte besser wissen, was geschehen sollte. »Was jetzt geschieht, ist von absurder Unlogik«, sagte er. »Wie konnte es nur dazu kommen?«
»Weil wir in unserer Entwicklung erst am Anfang stehen«, antwortete Jonathan.