Ein Kyborg namens Joe


Ed legte das Mikrophon beiseite. Er hatte das Protokoll diktiert, und es war dürftig genug.

Was gab es auch schon zu notieren? Alle Meßergebnisse wurden von den Instrumenten direkt in die Datenbank geleitet und dort automatisch eingespeichert. Ed brauchte sie nicht einmal abzulesen.

Und außergewöhnliche Ereignisse? Er wäre dankbar gewesen, wäre einmal etwas geschehen, was die tägliche Routine durchbrochen hätte …

Er holte einen Notizblock hervor und kramte in der Schublade nach einem Stift. »Liebe Lori!« schrieb er. Dann stockte er und überlegte. Dabei starrte er, ohne es zu merken, durch die dicke Bleiglasscheibe nach außen: zerbrochene Schieferplatten, Krusten aus matt glänzendem Metall, eine endlose Ebene, leer und unbewegt, über dem Horizont ein schwarzer Himmel ohne Sterne – dieses System lag inmitten einer Wolke von interstellarem Staub, und gerade das machte es zu einem interessanten Forschungsobjekt …

Doch Ed schien es nicht mehr zu interessieren. Er zählte die Kerben, die er in die Kante der Tischplatte gebrannt hatte: 461 Kerben – noch 269 Tage, dann kam die Ablösung. Lange genug!

Er schrieb: ›Es gibt nichts zu berichten. Hier gibt es nie etwas zu berichten. Ich schreibe Dir nur aus Langeweile. Nein – ich schreibe Dir, um Dir zu sagen, wie sehr ich mich freue, wieder bei Dir zu sein. Daß ich es kaum mehr erwarten kann. Ich hätte diesen Job nicht annehmen dürfen – trotz der guten Bezahlung. Die Zeit vergeht unendlich langsam.

Das Schlimmste ist das Alleinsein. Joe zählt nicht. Verzeih, daß ich ihn erwähne. Aber es ist ja nicht mehr Joe … Du weißt, was ich meine. Ich hoffe, Du hast es überwunden.

Ich bin praktisch allein. Allein in einer Unterkunft von zehn mal zehn Metern. Aber davon ist die Hälfte mit Maschinen vollgestopft. Ich bade in dem Wasser, das ich schon unzählige Male getrunken habe, und ich trinke das Wasser, in dem ich schon ebensooft gebadet habe. Und ich … nein, ich will mich nicht mehr beklagen.

Wenn man sich wenigstens ein wenig mehr bewegen könnte! Hier drinnen ist es zu eng, und der Expander hängt mir zum Hals heraus – bildlich gesprochen. Und draußen … diese verfluchte Schwerkraft. Ohne Antigravitationsplatten ist nichts zu machen.

Aber nun zu Dir …‹

Ed blickte auf. Mit schwerfälligen Bewegungen, und doch nahezu lautlos, näherte sich Joe. Er hatte mit dem Joe von früher nichts gemein – außer dem Gehirn. Er war ein Mechanismus mit Servomotoren und Nerven aus Draht. Er war ein Kyborg. Ed hatte den Joe von einst nur flüchtig gekannt, und doch …

»Kann ich dir helfen Ed?« Die Stimme klang bemerkenswert weich, und jetzt war sogar Besorgnis herauszuhören. »Brauchst du etwas, Ed?«

»Nein, danke, Joe.«

»Hast du Hunger oder Durst?«

Jetzt verlor Ed die mühsam bewahrte Geduld. »Nein, Joe, zum Teufel, nein. Laß mich doch in Ruh! Warum rennst du immer um mich herum? Du gehst mir auf die Nerven!«

»Ich bin besorgt, Ed. Dein Herz schlägt ein wenig unregelmäßig – ich kann es hören. Du weißt, man hat mir nur eine Emotion gelassen: die Sympathie zu den Menschen. Es macht mich glücklich, dir zu helfen. Es macht mich unglücklich, dich unglücklich zu sehen. Du bist erregt. Ich werde dir ein Beruhigungsmittel bringen.«

Er ging weg, Ed zuckte die Schultern. Dieser beschäftigte sich wieder mit seinem Brief, aber nur noch mit halber Konzentration. Er schloß ihn schnell ab: ›… in Liebe Dein Ed.‹ Floskeln, dachte er – was bedeuten sie schon, hier …

Der Kyborg kam zurück, brachte eine Tablette und ein Glas Wasser. Ed hatte sich beruhigt und schluckte sie ohne Widerspruch. Von der Seite blickte er dabei das metallene Zerrbild eines Menschen an, das neben ihm stand – hilfsbereit vorgebeugt. Ein williger Diener … oder ein Despot? Er wußte alles, nahm alles wahr, kannte alles – viel besser als Ed. Er hatte unmittelbaren Zugriff zur Recheneinheit, zu den gespeicherten Daten. Er besaß Sinnesorgane, die Infrarot und Ultraviolett, Schall aller Frequenzen, radioaktive Strahlung aufnahmen. Er war stärker und intelligenter, und er beobachtete ihn ununterbrochen.

Zerstreut riß Ed die beschriebenen Blätter vom Block und reichte sie Joe. »Gib das durch – bei der nächsten Peilung.«

Der Kyborg blickte kurz darauf.

»Wer ist Lori?« fragte er.

Zu spät erinnerte sich Ed daran, daß er bisher alle Briefe selbst durchgegeben hatte.

»Weißt du es nicht?« fragte er.

»Nein«, antwortete Joe.

»Warum willst du es wissen?«

»Ich brauche die Adresse.«

Ed gab sie ihm. Joe drehte die Blätter unschlüssig in der Hand.

»Wer ist Lori?« fragte er.

»Sie ist mein Mädchen«, antwortete Ed. »Wir werden heiraten. Ich kann es kaum mehr erwarten, sie wiederzusehen. Aber das wirst du kaum verstehen.«

»Nein«, sagte der Kyborg. »Nicht ganz. Oder doch … Der Name sagt mir etwas. Nicht, daß ich mir darunter jemand vorstellen könnte. Es sind nur Assoziationen … seltsam …«

Peinlich berührt schaukelte Ed in seinem Stuhl. Sein Blick fiel durch das Fenster, und da sah er die Staubfontäne. Erst Sekunden später kamen die Vibrationen. Zu hören war nichts.

»Ein Meteorit«, rief Ed, dem die Unterbrechung willkommen war. »Du mußt hinaus. Wir haben schon lange darauf gewartet.« Joe legte den Brief auf den Tisch zurück und ging zur Schleuse. Kurz darauf sah ihn Ed über den krustigen Boden gehen, plump und geschmeidig zugleich. An der Auffallstelle bückte er sich, schob einen Teleskoparm heraus, legte die Sonde auf den kleinen Krater, die einzige Spur des Ereignisses. Dann richtete er sich wieder auf.

»Komm heraus, Ed«, scholl es aus dem Lautsprecher. »Ich habe etwas gefunden, das mußt du selbst sehen.« Ed zögerte nicht. Er legte den Anzug mit den schweren Antigrav-Platten an. Sie summten, als sich der Strom hochregelte. Fünf Minuten später stand er neben Joe.

»Was gibt es?« fragte er verständnislos. Außer der aufgeworfenen Grube war nichts zu sehen.

»Wer ist Lori?« fragte Joe.

Ed erstarrte. »Wie kommst du jetzt darauf?« fragte er.

»Gib Antwort!« forderte der Kyborg.

»Doch nicht hier! Nicht jetzt! Komm, wir gehen in die Unterkunft!«

»Hier und jetzt!« forderte Joe.

»Kommt nicht in Frage. Geh jetzt in die Unterkunft. Du mußt meinen Befehlen folgen.«

»Ich muß dich schützen«, sagte Joe. »Nicht nur vor äußeren Gefahren, auch vor bitteren Gedanken, Sorgen, Schuldgefühlen.«

»Wieso Schuldgefühlen?« fragte Ed.

»Ich weiß nicht, wie ich darauf kam«, antwortete Joe. »Antworte jetzt!«

»Nein«, sagte Ed.

Der Kyborg stand regungslos da und blickte Ed mit seinen überdimensionalen Linsenaugen an. »Nun gut. Dann muß ich dich zwinge. Ich schalte die Antigrav-Platten aus.«

Ed spürte einen Ruck durch seinen Körper gehen. Seine Glieder wurden schwer, eine Zentnerlast drückte ihn hinunter.

»Du darfst mir nicht schaden«, ächzte er.

»Ich schade dir nicht.«

Der Andruck wurde stärker, Ed sank zu Boden. Durch die Hülle seines Schutzanzuges hindurch hörte er, wie die Krusten der Schieferplatten knirschten. Es schmerzte nur wenig, doch plötzlich hatte er Angst.

»Ich will dir alles sagen«, preßte er zwischen den Lippen hervor. Und er dachte: Warum auch nicht?

Sofort ließ der Druck nach, aber nicht ganz.

»Gut«, sagte Joe. »Sprich!«

»Du hast Lori früher gekannt, damals, du weißt …«

Er stockte.

»Weiter«, befahl Joe.

»Lori war deine Braut«, sagte Ed. »Man hat in deinem Gehirn die Erinnerung gelöscht. Um es dir leichter zu machen, du verstehst. Man hat alle Gefühle in dir gelöscht, die … nach deinem Unfall war es ja nicht mehr möglich …«

»Ich verstehe«, sagte Joe, sanft und tonlos wie immer.

»Du warst ein erfahrener Astronaut, Joe«, fuhr Ed fort. Jetzt kniete er vor Joe. »Man wollte nicht auf dich verzichten. Und du warst einverstanden. Du wolltest weiterleben, so oder so.«

»Ja, ich wollte weiterleben«, sagte Joe.

»Du nimmst es mir doch nicht übel, Joe. Wir haben uns früher kaum gekannt. Ich habe auch Lori erst kennengelernt, als man dich … als der Unfall schon passiert war. Du mußt mir verzeihen, Joe …« Ed brach ab.

Joe blickte unbewegt auf Ed herab. »Du verstehst mich völlig falsch. Ich will nur dein Bestes. Heute nacht hast du mehrmals nach Lori gerufen. – Komm, steh auf. Wir gehen zurück!«

Der Andruck ließ nach. Ed konnte sich aufrichten. Er atmete befreit. Wortlos gingen sie zur Unterkunft zurück.


Es war Nacht, oder, richtiger, Ruhezeit. Die Sonne ging hier nie unter. Sie schien schräg auf die Ebene hinab – ein erstarrtes, totes Licht. Ed schlief. Er schlief fest, denn Joe hatte ihm ein Schlafmittel in den Kaffee getan.

Die Tür zu Eds Kammer öffnete sich, der Kyborg kam herein. Er schob ein Rolltischchen vor sich her, darauf stand eine unförmige Apparatur – eine Halterung mit einer haubenförmigen Metallplatte, von der viele Leitungen herunterliefen. Joe schwenkte den Mechanismus aus und setzte die Haube über Eds Kopf – vorsichtig, so daß sie ihn nicht berührte. Er arbeitete im Dunkeln, er brauchte kein Licht.

Durch einen mentalen Impuls schaltete er ein, die Sondierung begann. Er brauchte zwei Stunden, bis er sich an die bewußte Speicherstelle herangetastet hatte, und eine weitere, um alle Assoziationsbahnen festzustellen. Dann justierte er den Fokus und schaltete das Wirbelfeld ein. Es dauerte nur eine Sekunde. Am nächsten Morgen, als Ed ins Labor kam, konstatierte er, daß er sich überraschend wohl fühlte. Falls ihn etwas bedrückt hatte – jetzt war er davon befreit.

Joe erwartete ihn schon. Sie mußten die üblichen Messungen vornehmen. Auf dem Tisch lagen einige beschriebene Blätter. Der Kyborg hob sie auf.

»Soll ich den Brief an Lori absenden?« fragte er.

Ed sah ihn groß an. »Wer ist Lori?«

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