Es war still. Kein Laut drang durch die schalldicht verglasten Fenster. Nur durch die Tür kam hin und wieder ein Geräusch: das Schleifen von Gummirädern auf dem Kunstharzboden, das Knistern der imprägnierten Kittel, ein geflüstertes Wort. Über allem lag der Geruch eines Desinfektionsmittels. Er hing in den Teppichen, an Büchern und Zimmerpflanzen, in den Haaren des Arztes. Mit der Luft aus der Klimaanlage wehte er in den letzten Winkel.
»Hier ist sie!« murmelte die Krankenschwester. Sie zog eine Lochkarte aus der Kartei. »Forsythe, James. 26 Jahre alt. Abteilung R 2.«
»Abteilung R 2?« fragte der blasse, schwarzhaarige Mann, der zusammengekrümmt im orangebezogenen Wannensessel saß.
Der Arzt griff nach der Karte. »R 2 – Abteilung für geisteskranke Verbrecher. Wenn Sie etwas von ihm erfahren wollen, dann beeilen Sie sich, Inspektor. Er wird heute nachmittag umorientiert.«
»Kann ich ihn sehen?«
»Kommen Sie!«
Der Arzt ging voran, eilig, aber gemessenen Schrittes, Herr über 600 Operationsautomaten, und sich dessen bewußt. Der Inspektor folgte ihm.
Die blanken Stahltüren öffneten sich vor ihnen, bewegt durch verborgene Servomotoren, und glitten dann lautlos wieder zusammen. Sie reagierten auf das Magnetmuster in der Steckplakette des Arztes, das sie mit Tausenden ultrakurzen Stromimpulsen abtasteten. Lange, leere Gänge taten sich vor ihnen auf, ein Lift brachte sie ins Souterrain.
»Sehen Sie: hier!« Der Arzt war vor einer Tür stehengeblieben. In Augenhöhe befand sich ein Guckloch. Der Inspektor blickte in eine Kammer, die nichts als ein Rollbett und eine sanitäre Anlage enthielt. Die Wände waren grau und glänzten. Auf der Schaumgummimatratze saß ein junger Mann, der in keiner Weise auffällig wirkte. Er hatte eine hohe, zerfurchte Stirn und einen tiefsitzenden Mund, der ihm einen leicht verächtlichen oder auch trauernden Zug verlieh.
»Halten Sie ihn nicht unter Somnalin?« fragte der Inspektor.
»Er ist nicht gefährlich.«
»Wie äußert sich seine Krankheit?«
»Wir haben schon einige Experimente mit ihm gemacht«, antwortete der Arzt. »Warten Sie, vielleicht kann ich es Ihnen demonstrieren …« Er blickte sich um, dann trat er in einen in der Wand eingelassenen Schrank. Er holte einen Staubsauger heraus, einen stromlinienförmigen Körper, mit einer mattbraunen Kunststoffhülle überzogen – und natürlich versiegelt.
Der Arzt öffnete die Tür und schob das Gerät mit dem Fuß hinein. Ohne ein Wort zu sprechen, zog er die Tür wieder zu. Dann winkte er seinem Besucher und deutete auf das Guckloch. Nach einer Weile fragte er: »Was sehen Sie?«
»Nichts«, flüsterte der Inspektor. Der Arzt lehnte sich an die Wand. »Na, dann warten Sie ein wenig.« Er zog einen Corphorin-Spray aus der Tasche, schob den Ärmel zurück und suchte eine Stelle, die noch nicht vernarbt war. Er legte das Mundstück auf und spritzte sich das belebende Nervenmittel ein. »Wollen Sie auch?« fragte er.
Der Inspektor hob aufmerksamkeitheischend die Hand. »Er bewegt sich. Er steht auf … bückt sich … Er hebt das Gerät auf, setzt es auf das Bett.«
»Gut!« sagte der Arzt mit leichtem Triumph in der Stimme. »Gleich werden Sie es erleben!«
»Er dreht es um, beugt sich darüber … jetzt verdeckt er mir die Sicht!«
»Lassen Sie mich … aha … dachte ich mir’s doch! Jetzt können Sie sich überzeugen!«
Wieder trat der Inspektor an die Luke. »Hat er …? Mein Gott, er hat das Siegel erbrochen!« Er drehte sich um. »Sie lassen das zu, Doktor?«
Der Arzt zuckte die Achseln. »Dieser Raum, mein Lieber, ist extraterritoriales Terrain – gewissermaßen. Hier sind die Gesetze der Ethik außer Kraft gesetzt. Aber gerade jetzt sollten Sie aufpassen!«
Der Inspektor blickte wieder in den Raum, an die Tür gelehnt, gebückt, wie unter einer Last. Er schwieg.
»Nun?« fragte der Arzt.
Sein Gast schob mit einer entschlossenen Bewegung den Deckel vor die Öffnung. – Er war bleich und seine Stimme zitterte, als er sagte: »Es ist unfaßbar. Pervers. Wahnwitzig. Er hat die Schrauben gelöst, den Deckel abgehoben. Er hat etwas herausgezogen, Draht, einen Glaskolben, etwas Glänzendes aus Metall … Es ist ekelhaft – ich kann es nicht ertragen.«
»Nun ja«, sagte der Arzt. »Er ist ein schwerer Fall. Deshalb wird er auch behandelt.« Er wandte sich um. »Das wär’s also.«
»Er darf nicht umorientiert werden«, sagte der Inspektor gepreßt.
Der Arzt fuhr herum. Seine Augen mit den vergrößerten Pupillen waren weit geöffnet. »Ich verstehe nicht. Der Mann ist entartet. Krank, ein perverser Verbrecher, wenn Sie so wollen. Er vergeht sich hemmungslos an den Gesetzen. Er verletzt den Anstand und die guten Sitten. Hören Sie, Inspektor …«
Der Polizeibeamte zog ein Schriftstück aus seiner Brusttasche. Das vollsynthetische Papier entfaltete sich von selbst zu einem bedruckten und mit Prägestempeln versehenen Dokument. Der Arzt überflog es.
»Das ist seltsam«, sagte er. »Die Polizei schützt einen Wüstling vor dem Gerichtsvollzug. Darf ich den Grund wissen?«
»Warum nicht? Aber behalten Sie ihn für sich.« Der Inspektor trat näher an den Arzt heran. Er flüsterte: »Es tut sich etwas Geheimnisvolles, ja, es verläuft, es geschieht … wie soll ich es ausdrücken …?«
»Was geschieht?« unterbrach ihn der Arzt ungeduldig.
Der Inspektor machte eine vage Handbewegung. »Vieles. Vereinzelt. Im großen und ganzen Kleinigkeiten. In der Gesamtheit eine Bedrohung: Die Durchschnittsgeschwindigkeit der Untergrundbahn hat sich in den letzten sechs Wochen um 20 Stundenkilometer erhöht. Die neuesten Videoboxen laufen monatelang ohne Beeinträchtigung ihrer Leistung. Das Material der Laufbänder ist praktisch unverwüstlich geworden. Die Glaswände für die Selbstbau-Eigenheime sind unzerbrechlich und dennoch klar, und so weiter und so weiter. Sie verstehen, was das bedeutet?«
»Sind das nicht erfreuliche Verbesserungen? Was gibt es dagegen einzuwenden?«
»Erfreulich? Vielleicht scheint es so. Auf den ersten Blick. Doch Sie übersehen, daß dadurch das ökologische Gleichgewicht gestört wird. Das ist es aber nicht, was uns beunruhigt. Vielmehr … wer steckt dahinter? Es muß doch jemand dahinterstecken!«
Der Arzt war bleich geworden. »Sie meinen doch nicht, daß es wieder Anarchisten gibt … daß sie … nein, es ist unmöglich … alle Wissenschaftler wurden längst umorientiert …«
»Schweigen Sie darüber!« Der magere Körper des Inspektors straffte sich ein wenig. »Ich möchte mit dem Mann reden!«
»Bitte!« sagte der Arzt gepreßt. Er öffnete die Tür. Die beiden Männer traten ein.
Als James Forsythe das Rollen der Tür hörte, suchte er die Teile des Staubsaugers, in die er ihn zerlegt hatte, unter der Schaumgummimatratze zu verbergen, aber es blieb ihm keine Zeit dazu. Er stand auf und stellte sich so, daß man sie nicht gleich sehen sollte. Er zitterte vor Aufregung und Angst.
Der Arzt wollte etwas sagen, doch sein Gast schob ihn beiseite. Beide verzichteten darauf, das näher in Augenschein zu nehmen, was hinter dem Kranken auf dem Bett lag, denn ihnen graute vor diesen auseinandergerissenen Teilen mit den Klammern, Schrauben und losen Drahtenden.
»Schon eine Verletzung des Siegels – selbst aus Unachtsamkeit – ist strafbar. Das wissen Sie doch!«
James nickte.
»Sie wurden festgenommen, weil Sie eine Waschmaschine zerlegt hatten.«
»Sie war kaputt«, sagte James.
»Warum haben Sie sich keine neue besorgt?«
James zuckte die Schultern, denn er wußte, daß ihn niemand verstand.
»Warum also? Antworten Sie!«
»Ich wollte wissen, was mit dem Ding passiert war. Es hatte geknackst – dann stand es still. Ich wollte es reparieren.«
»Reparieren!« wiederholte der Arzt kopfschüttelnd.
»Wir haben in Ihrem Keller eine Kiste mit Holzspulen, Nägeln, Blech und dergleichen gefunden. An einem Eßbesteck bemerkten wir Kratzspuren – als hätten Sie damit hartes Material bearbeitet. Was hatten Sie vor?«
James blickte zu Boden. Seine Mundwinkel waren noch tiefer herabgezogen als gewöhnlich.
»Ich wollte eine Klingel bauen«, antwortete er. »Eine Türklingel? Aber Ihre Wohnung ist doch mit Telefon und Video ausgestattet! Wozu brauchten Sie eine Klingel?«
»Für eine Zeitanzeige, eine Art Weckeruhr.«
Der Inspektor blickte ihn groß an. »Wozu soll das gut sein? Sie können sich jederzeit durch die Automatik wecken lassen.«
»Ich brauchte keinen Wecker«, antwortete James resignierend, »ich hatte nur Lust, einen zu bauen.«
»Sie hatten Lust? Und deshalb begehen Sie ein Verbrechen?« fragte der Inspektor kopfschüttelnd. »Aber weiter! Dieser Staubsauger! Warum haben Sie ihn zerlegt? Dazu bestand doch nicht die geringste Notwendigkeit.«
»Nein«, sagte James, und dann schrie er: »Nein, es bestand keine Notwendigkeit. Aber ich sitze jetzt seit sechs Wochen in dieser Zelle, ohne Radio, ohne Video, ohne Illustrierte! Mir ist langweilig, wenn Sie das verstehen! Und es macht mir Spaß, in die Apparate hineinzusehen. Es interessiert mich, wie sie funktionieren: ein Hebel, eine Schraube, ein Zahnrad! Was wollen Sie von mir: Morgen werde ich umorientiert …« Er warf sich aufs Bett und drehte sich zur Wand.
Der Inspektor blickte auf ihn herab. »Vielleicht können wir Ihnen die Umorientierung ersparen. Es kommt ganz auf Sie an, Forsythe.«
Eine Woche lang war James Forsythe ruhelos durch die Stadt gestrichen, war über die Rolltreppen in die Geschäftsetagen hinuntergefahren, hatte sich mit dem Hängelift hoch über den Straßenschluchten der Stadt dahintragen lassen. Er war noch benommen von der langen Haft. Die Autokolonnen auf der Verkehrsetage und die durcheinandertreibenden Menschenmassen auf den Hochbrücken verwirrten ihn. Lufttaxis oder Sitzschweber benutzte er nicht – nach dem langen Aufenthalt auf dem festen Boden hatte er Angst, in den luftigen Höhen von Schwindel erfaßt zu werden.
Und trotzdem empfand er die wiedergewonnene Freiheit wie ein überraschendes Geschenk. Er versuchte zu vergessen, daß sie nur geborgt war – falls er seine Aufgabe nicht erfüllte. Er hoffte, daß er dazu fähig war.
James Forsythe hatte nicht allzuviel Selbstvertrauen. Er war schwächlich, litt oft an Kopfschmerzen und hatte sich schon einige Male einer therapeutischen Behandlung im Euphorium unterziehen müssen. Vor allem aber litt er unter seltsamen Neigungen, die seine Gedanken zu den Maschinen lenkten und ihn zwangen, darüber zu grübeln, wie sie funktionierten. Er wußte, daß dieser Drang ungewöhnlich war. Er hatte schon oft vergeblich versucht, ihn zu unterdrücken, diese Faszination des Verbotenen, die ihm nicht einmal Lust bereitete, sondern ihn quälte, weil sie ihn nie zum Ziel führte: Hatte er den Zweck eines Rades oder eines Hebels begriffen, dann taten sich sofort Fragen nach größeren Zusammenhängen auf, und sein Versagen – die Gewißheit, nie zum Ziel zu kommen, nie eine endgültige, umfassende Erklärung zu finden – machte ihn traurig und verzagt. Und das alles geschah gegen seinen Willen: Er war kein Revolutionär und schon gar kein Held, und er hätte nur den Wunsch gehabt, von seiner quälenden Krankheit befreit zu sein: nichts als ein harmloser Bürger, den Gesetzen treu.
Nun stand er vor der Tür von Eva Rußmoller, der Enkelin des letzten großen Physikers nach Einstein – jenes Mannes, der vor rund achtzig Jahren der Wissenschaft abgeschworen hatte. Aber hatte er seinen Schwur gehalten? James kannte die Leidenschaft, die die Beschäftigung mit den physikalischen Erscheinungen in einem auflodern läßt, und er bezweifelte, ob jemand, der ihr einmal verfallen war, jemals von ihr abzulassen vermochte. Würde ihm Eva Rußmoller eine Verbindung zu einer geheimen Organisation weisen, zu Menschen, die heimlich Wissenschaft betrieben und heute noch an technischen Aufgaben arbeiteten? Er wagte kaum noch auf Erfolg zu hoffen, aber nachdem alle anderen Versuche fehlgeschlagen waren, mußte er auch das noch versuchen. Die Polizei hatte ihm die Adresse besorgt.
Das Mädchen, das ihm öffnete, mußte Eva Rußmoller sein. Sie war schlank, fast mager, blaß und hatte große erschreckte Augen. »Was wünschen Sie?«
»Darf ich Sie fünf Minuten sprechen?«
»Wer sind Sie?« fragte sie unsicher. Sie stand auf der Terrasse des vierzigsten Stockwerks. Wicken und Zierkürbisranken hingen von den Blumenschalen in die Tiefe. Rundherum, aber doch fern genug, um eine freie Atmosphäre zu schaffen, standen andere Hochbauten, Pilz- und Trichterhäuser, Wohntürme, Staffel- und Fächergebäude, dazwischen hingen die Tragschienen der Hängebahn und die Brückenzüge der Hochstraßen.
»Wollen wir nicht hineingehen?« fragte James.
»Ich weiß nicht … lieber nicht … Warum sind Sie gekommen?«
»Es handelt sich um Ihren Großvater.«
Das offene Gesicht des Mädchens verschloß sich, als hätte sie eine Maske übergezogen. »Polizei?«
James antwortete nicht darauf.
»Kommen Sie«, sagte Eva Rußmoller. Sie führte ihn auf eine Terrasse. Zwischen Florapexschalen mit wurzellosen Blattgewächsen setzten sie sich.
»Ich habe meinen Großvater nicht gekannt.« Eva schob ihm einen Corphorin-Spray hin, aber er nahm ihn nicht. Sie spritzte sich eine Dosis an den Nacken, und James bemerkte, daß ihre Arme bis zu den Gelenken hinab vernarbt waren. »Auch meine Mutter hat nichts mehr von ihm gehört, seit er vor fast fünfzig Jahren verschwand. Damals war ich noch ein kleines Mädchen. Aber das habe ich ja schon Dutzende Male zu Protokoll gegeben.«
»Ich bin nicht von der Polizei«, sagte James.
»Nicht von der Polizei?« Sie richtete sich mißtrauisch auf. »Was wollen Sie dann von mir?«
»Ihr Großvater kann doch nicht spurlos verschwunden sein. Er war ein berühmter Mann, ein weltbekannter Wissenschaftler. Vor dem Verbot war er Rektor des Yukawa-Instituts für Mesonenforschung. Seine Verurteilung ging durch alle Zeitungen.«
»Könnt ihr uns nicht in Ruhe lassen?« flüsterte das Mädchen. »Hört denn das nie auf! Gewiß, mein Großvater war schuldig. Er hat die Nullwertbatterie erfunden, den Mesonenverstärker, die Gravitationslinse. Er entdeckte die Konvektion in der Sialschicht und wollte Schächte hinuntertreiben, um die Energien auszunutzen. Das alles hätte schreckliche Folgen haben können. Aber seine Pläne sind vernichtet worden. Es ist nichts geschehen. Warum verfolgt man uns dann über Generationen hinweg!«
James tat das Mädchen leid, das so wehrlos und schutzbedürftig aussah. Er hätte sie unter anderen Umständen kennenlernen mögen! Aber zuerst mußte er sich selbst retten.
»Beruhigen Sie sich! Niemand tut Ihnen was! Und ich bin kein Polizist!«
»Es ist ein neuer Trick, sonst nichts.«
James überlegte kurz. »Ich werde es Ihnen beweisen«, sagte er dann. Er holte ein Feuerzeug aus der Tasche, ein altmodisches Ding mit einem Schnapper. Er ließ den Deckel aufspringen – dort wo die Gaskapseln einzuführen waren – und zeigte ihr das Siegel. Mit einer raschen Bewegung riß er es ab. Noch einige Griffe, und auf dem Tisch lagen Röhrchen, Blechteile, ein kleines Zahnrad.
Voll Abscheu wandte sich das Mädchen ab, dann erst zuckte es erschrocken zusammen – weil ihm bewußt wurde, daß ein Entarteter vor ihm saß, ein Mensch, der zu allem fähig war. »Um Gottes willen, tun Sie mir nichts!«
James war über diese starke Reaktion erstaunt. Sie bewies ihm, daß Professor Rußmollers Enkelin wirklich nichts mit Wissenschaft und Technik zu tun hatte.
»Aber Kind, ich tue Ihnen doch nichts, beruhigen Sie sich.« Und als sie zu weinen begann, fügte er hinzu: »Ich gehe ja schon.«
Er öffnete selbst die Tür, lief die halbe Etage zum Lift hinunter und wollte gerade den Rufer für die Abfahrt betätigen, als sich eine Hand auf die seine legte. Er fuhr herum und erblickte einen jungen Mann mit rundem Gesicht und Bürstenschnitt, dessen Züge durch stark gewölbte Haftschalen etwas Starres besaßen.
»Nicht hinunter! Wir fahren hinauf! Sekunde.« Er drückte einen Knopf, und der Lift setzte sich nach oben in Bewegung. Aber schon nach fünf Etagen unterbrach der Unbekannte die Fahrt und zog James auf den Flur. Ihn immer noch hinter sich nachzerrend lief er auf eine Terrasse hinaus, die offenbar unbewohnt war. In einer Ecke war ein zweisitziger Düsenschweber abgestellt, und der junge Mann befahl James, sich festzuschnallen. Dann lief er zum Geländer vor, blickte nach allen Seiten, und rief gedämpft: »Die Luft ist rein!« Er setzte sich an den Steuerhebel, und sie erhoben sich sanft. Zuerst glitten sie langsam dahin, dann verschnellerte sich die Fahrt, aber nicht über das Geschwindigkeitslimit hinaus.
Der Unbekannte sah sich aufmerksam um; dann stieß er James an: »Da kommen sie schon – schau, wie sie flitzen!«
»Wer kommt?« fragte James.
»Na, die Polizei! Wer sonst? Mensch, bist du naiv!«
Unten am Rand der Schnellstraße sah James einen blauen Kombischweber aufsetzen. Einige Männer sprangen heraus.
»Und da ist auch schon die Luftflotte!« Der Unbekannte lachte. »Na, dampfen wir ab!« Er ließ die Düse aufheulen. Gerade noch innerhalb der erlaubten Geschwindigkeit sausten sie dahin.
»Was hat das zu bedeuten?« schrie James dem anderen ins Ohr. »Jetzt können wir uns unterhalten«, schrie dieser zurück. »Hier belauscht uns niemand. Also hör zu! Ich bin Horri Bleiner, und ich gehöre zu den Egg-heads.« Als er die verständnislose Miene von James bemerkte, setzte er hinzu: »Mensch, du bist doch einer von uns! Ich hab’ dich mit dem Fernglas beobachtet. Ja, ich hab’ es gesehen: Du hast das Feuerzeug geöffnet.«
James zuckte zusammen. Was das auch immer bedeuten sollte – der andere hatte ihn in der Hand.
Horri lachte. »Du brauchst doch keine Angst zu haben! Auch wir finden diese Gesetze idiotisch. Es ist verboten, das Siegel zu erbrechen. Es ist verboten, eine Maschine zu zerlegen. Diese Spießer! Aber wir werden es ihnen zeigen!«
Horri lenkte den Schweber nach Süden, zum Sportzentrum. Es war ein riesiger Komplex von Turnhallen, Eislaufbahnen, Spielplätzen, Schwimmbecken, Boxringen, ausgestattet mit genauesten Meßapparaturen für die Abnahme von Zeiten, Weiten, Höhen, Gewichten, Apparaten für das Hochleistungstraining, zum Trockenrudern, zum Radfahren auf der Stelle, Massagegeräte, Expander – kurz, die perfekteste Sportmaschinerie, die man sich denken kann. Ein großer Teil des Gebiets war von einem riesigen Zeltdach aus durchsichtigem Kunststoff überdeckt. In der Mitte lag das Oval des Stadions und das Wahrzeichen des Sportzentrums, der Fallschirmspringerturm. In Abständen von wenigen Sekunden wurden die Parachutisten in den dämmernden Abend hinauskatapultiert und schwebten dann an ihren Schirmen wie Daunen auf das Schaumgummibecken hinab.
»Du hast Glück«, sagte Horri. »Heute haben wir ein Happening.« Er verlangsamte das Tempo und ging auf einer Landerampe nieder. »Na, komm schon!« Er sprang auf einen Schienenteppich, der sie in Kurven durch mattbeleuchtete Flure trug. Von Zeit zu Zeit verlangsamte sich die Fahrt – das waren die Umsteigestellen: Man griff nach einer der Haltelaschen, die an riesigen Rädern befestigt waren und hielt sich daran fest, bis sie einen zu jener Laufbahn getragen hatten, die man für die Weiterfahrt benützen wollte. Für James, der für Sport nie viel übrig gehabt hatte, war das alles neu, die Art der Fortbewegung, zu der man allerhand Geschicklichkeit brauchte, fiel ihm schwer, um so mehr, als er auf Halbwüchsige aufpassen mußte, die die Anlage offenbar für eine Art Fange-Spiel benutzten, verwegen von einem Schienenteppich auf den anderen sprangen und ihn einigemal rücksichtslos beiseite stießen.
»Seid Ihr Sportler?« fragte er seinen Gefährten mißtrauisch, als er bemerkte, daß es diesem offenbar Freude bereitete, die Jugendlichen bei ihrer tollen Jagd zu behindern.
»Unsinn«, antwortete Horri und hielt James rasch fest, den es fast aus einer Kurve getragen hätte. »Für uns ist das nur Tarnung. Das Gelände ist ideal. Wer sich hier nicht auskennt, hat sich bald rettungslos verirrt. Die Hallen und Säle liegen vielfach ineinander verschachtelt und übereinander – Platzmangel, das ist es. Wir treffen uns immer in einem anderen Saal. Bisher haben sie uns noch nicht erwischt.«
»Egg-heads«, sagte James. »So wurden früher die Wissenschaftler genannt. Was habt ihr mit Wissenschaft zu tun?«
Horri grinste. Er zog James mit sich, vom Rollteppich herab und auf eine Rutsche. In sausender Fahrt ging es bergab. »Wir sind moderne Menschen. Wissenschaft ist schick. Die Spießer haben nur Angst – vor neuen Waffen, vor Raketen, vor Tanks. Darum ist es so langweilig hier. Nichts passiert. Da waren die alten Physiker schon andere Burschen – mit ihren Napalmbomben und Atomgranaten. Sie haben recht gehabt: Man muß diese miese Welt ankratzen, damit sich wieder etwas tut.« Sie liefen einige Stufen hinab und standen in einer kleineren Halle, die offenbar sportmedizinischen Untersuchungen gewidmet war. Überall standen fahrbare Kardiographen, Enzephalographen, Oszillographen herum, dazwischen gab es Testplätze für Gewichtheber, Schwimmer, Schnelläufer. Eine große Röntgeneinrichtung stand bereit, um die Koordination der Skelettbewegungen während des Trainings beobachtbar zu machen. Auf den Bänken an der Wand, den Liegematten, selbst auf den Schalttischen saßen und hockten junge Männer zwischen fünfzehn und dreißig Jahren, alle hatten kurzgeschorenes Haar, die meisten trugen Sandalen und Overalls aus weißem Nappaleder.
Horri blieb am Eingang stehen. Als sie ihn mit seinem Schützling bemerkten, traten sie auf ihn zu, schlugen ihn auf die Schulter und grüßten ihn mit: »He!« oder »Crazy!« Einer reichte James eine Flasche; mit Widerwillen zwang er sich zu einem Schluck vom milchigtrüben Inhalt, der nach Chemie roch und wie Kleister schmeckte.
»Feine Burschen«, sagte Horri. »Es war gar nicht leicht, sie zusammenzukriegen. Mindestens ein Dutzend haben wir bei der kleinen Rußmoller abgefangen. Netter Käfer, aber dumm – verständigt die Polizei, wenn sich einer nach ihrem Großvater erkundigt. Fast hätte sie dich auf dem Gewissen.« James fühlte Hustenreiz – gelber Rauch quoll von einigen zusammengeknüllten Papierfetzen. Horri zog ihn tief ein, er wirkte eigentümlich betäubend und aufreizend zugleich.
»Präpariert«, erklärte Horri. »Ich weiß nicht, womit. Bringt einen richtig in Schuß.« James beobachtete, wie einige junge Männer nahe am Feuer niederknieten und ihre Gesichter in die Schwaden hielten. Jemand stimmte ein eintöniges Lied an, andere fielen ein. Allmählich wurden die Stimmen undeutlich, die Gesten fahrig.
Auch Horri taumelte schon ein wenig hin und her. Er boxte James in die Seite und rief: »Fein, daß du da bist! Ich bin froh, daß gerade ich dich herausgeholt habe. Ich habe eben Glück. Schon seit ein paar Monaten halten wir abwechselnd Wache. War schon lang keiner mehr da!« Seine Stimme wurde undeutlich. Auch James hatte Mühe, klaren Kopf zu behalten. Ein magerer Jüngling neben ihm begann zu toben. Er riß eine Querstange für die Halterung von Gewichten für Schwerathleten von der Wand und ließ sie auf die medizinischen Apparaturen niedersausen. Glas splitterte, der Lack sprang ab. Vom mißhandelten Blech kamen häßliche Geräusche. Plötzlich spürte James einen unangenehmen Druck im Magen.
»Der ist nicht schlecht«, lallte Horri. »Schau ihn dir an, schon völlig out. Aber keiner ist solche Klasse wie du. Ich hab’ noch niemand gesehen, der es hätte tun können, ohne im Tran zu sein. Mensch, mir selbst wurde fast schlecht, wie ich das Feuerzeug sah, das du zerlegt hast. Es ist schon eine Schweinerei, Kollege, aber das soll es ja auch sein: eine tolle Schweinerei – das einzige, was noch Spaß macht.« Horri stieß James nach vorn, drückte ihm eine Keule in die Hand. »Zeig es ihnen, Kerl! Na los, zeig es ihnen schon!«
James’ Hoffnungen, über diese Leute den technischen Neuerungen auf die Spur zu kommen, die die Polizei beunruhigten, war schon längst zusammengesunken, und nun löste sich auch der letzte Rest in nichts auf. Verzweifelt riß er Horri am Ärmel zurück. »Warte doch! Ich muß dich etwas fragen. So hör doch!« Er schüttelte den anderen. Endlich hatte er ihn so weit, daß er ihm den Kopf zuwandte. »Was hat denn dieser Unfug mit Wissenschaft zu tun? Habt ihr nie daran gedacht, etwas zu bauen? Eine Maschine, ein Gerät, ein Werkzeug?«
Horri stierte ihn an. »Du machst mir Spaß! Oder spinnst du? Dann kannst du ja gleich in die Assisi-Kirche gehen - zum Einstein-Club.« Grob griff er nach James Unterarm. »Los, mach mit! Nieder mit dem Kram.« Er riß einem andern die Keule aus der Hand und ließ sie in eine blinkende Skalenscheibe sausen. »Zusammenschlagen, niederdreschen … ach, wenn ich nur ein Maschinengewehr hätte!«
Um James herum gebärdete sich schon fast jeder in sinnloser Zerstörungswut. Die Verkleidungen der Apparate wurden heruntergerissen, die Schaltungen zerstört, die Vakuumröhren zerschlagen. In James stieg ein leises Grauen auf, es ekelte ihn, zum ersten Mal ekelte ihn richtig vor diesen häßlich, nackten, bloßgelegten Teilen, den Eingeweiden der Maschinen, die ihre Tätigkeit, obschon sie unentbehrlich war, im Verborgenen zu verrichten hatten. Was da ans Licht gezerrt wurde, war scheußlich, schreckhaft und abstoßend. Und zugleich stieg eine tiefe Scham in ihm auf – die Scham, irgendwie dazuzugehören. Er fragte sich, ob er fähig wäre, mitzutun, in diesem Schmutz zu wühlen, und er war sich nicht sicher. Wenn er in anderer Stimmung wäre, nicht ein Ziel vor Augen hätte … wer weiß? Um ihn herum wogte es, dumpfe Schreie klangen auf, alle arbeiteten wie rasend, fielen in den Rhythmus ihres Gesangs … er fühlte, wie er mitschaukelte, sich mitwiegte … eine Stange befand sich in seinen Händen, er wußte nicht, wie sie dorthin gekommen war, und er holte weit aus …
Da erklang ein Schrei: »Die Rocketts!« Eine Sekunde lang standen alle wie erstarrt, aber dann wandten sie sich um, dem Eingang zu. Von dorther stürmte ein Schwarm von jungen Männern in schwarzen Blue jeans und kurzen Jacken aus silbrigem Metallgeflecht herein. Sie schwangen Paddel, Sprungstangen, Stafettenstücke und ähnliche als Waffen brauchbare Geräte, und mit einem Aufheulen, das an eine Sirene erinnerte, warfen sich die beiden Parteien gegeneinander, schlugen aufeinander los, verkeilten sich …
Plötzlich war James wieder nüchtern. Er schlich zur Seite, schob sich, den Rücken zur Wand gedreht, zu einer schmalen Tür, die er im Hintergrund des Raumes bemerkt hatte. Sie ließ sich öffnen, und er tauchte in die Dämmerung eines Flurs.
Das Geräusch verebbte und drang nur noch wie ein Rauschen durch die schallabsorbierenden Mauern. Vom anderen Ende des Ganges erreichten ihn schleifende Geräusche – dort mußte eine Rollbahn münden. Rasch lief er hinüber, eine der Standplatten, der »Teppiche«, näherte sich, verringerte die Geschwindigkeit, und James sprang auf. Nach einer ermüdenden Irrfahrt erreichte er einen der zweihundertachtzig Ausgänge.
Alles Unheil kommt von der Wissenschaft. Naturwissenschaftler und Techniker waren es, die die Luft verpesteten, das Wasser verschmutzten, Lebensmittel chemisch verseuchten. Sie brachten den Lärm, den Gestank und den Unrat in unsere Welt. Sie machten die Berge zu Schutthalden und die Seen zu Kloaken. Sie erfanden Maschinen, die der Mensch bedienen mußte, und zwangen ihn zu stupider Fließbandarbeit. Sie bauten Städte, in denen Krankheiten und Psychosen entstanden. Sie führten den programmierten Unterricht ein und übertrugen auf die Kinder ihre eigene unnatürliche Neigung, sich mit Naturwissenschaft und Technik zu beschäftigen, neue Maschinen zu konstruieren, neue Methoden zu erfinden, die bestehenden Programme zu verändern. Sie manipulierten die Gensubstanz und brachten Monstren hervor statt besserer Menschen. Sie experimentierten mit Materie und Energie, mit der Erde, mit dem Mond, mit Pflanzen und Tieren, mit dem menschlichen Gehirn. Sie synthetisierten Substanzen, die das Verhalten beeinflussen, die Psyche entarten lassen, Emotionen hervorrufen und unterdrücken. Sie beriefen sich auf die absolute Instanz der Naturgesetze und dachten nicht daran, diese im Hinblick auf humanistische Werte zu relativieren. Sie setzten sich über die Regeln der Ethik und der Moral hinweg, redeten sich mit Sachzwang aus, strebten nach uneingeschränkter Macht. Ihr Ziel war nicht die Ruhe, sondern der Zweifel, nicht das Gleichgewicht, sondern die Veränderung, nicht die Permanenz, sondern die Evolution. Sie zwangen den Menschen, hinter dem Fortschritt herzulaufen, hinter den Anzeigen, Signalen, Leuchtziffern, hinter Formeln und Leitsätzen. Sie machten den Menschen zur Testperson der Wissenschaft, zum Spielball der Technik, zum Sklaven der Industrie. Sie zwangen ihn zur Arbeit, zum Wettbewerb, zum Konsum. Sie schufen die theoretischen Grundlagen der Manipulation. Sie verstrickten den Menschen in ein Netz von Zwang, versahen ihn mit Nummern, führten über seine Krankheiten und Vorstrafen Buch, unterzogen ihn Prüfungen und Tests, überwachten ihn, kontrollierten ihn, drangen in seine Intimsphäre ein, belobten ihn, bestraften ihn, erzogen ihn zu Gehorsam und Leistungsbereitschaft. Sie berechneten ihn mit Computern, sagten seine Reaktionen voraus, extrapolierten Wahlergebnisse, programmierten und verplanten ihn. Sie schufen ein Zerrbild des Menschen, eine gehetzte Kreatur, die nicht fähig ist, die Geschehnisse in ihrer eigenen Welt zu verstehen, und hilflos den Frustrationen einer lebensfeindlichen Umgebung ausgeliefert ist.
Naturwissenschaft und Technik sind zerstörerische Kräfte, die in einer Welt der Freiheit nichts zu suchen haben.
Es war Nacht geworden, und die stützenlos fixierten Riesenleuchten warfen ihre Lichtkaskaden über die Stadt. Lufttaxis und Düsenschweber zogen weiße, blaue und grüne Striche vor das ferne Grau des Himmels, und tausend helle Fenster zeichneten Lichtmuster an die Fronten der Hochhäuser.
James Forsythe hatte keinen Blick für das bunte Spiel des Lichts. Allmählich erholte er sich von dem Taumel der Zerstörungswut, der auch ihn erfaßt hatte, und je mehr die Nachwirkungen in ihm abklangen, um so furchterregender stieg die Angst in ihm auf, seiner Aufgabe nicht gewachsen zu sein. Dabei brachte er alle Voraussetzungen dazu mit - als einziger Mitarbeiter der Polizei, der nicht nur den Anblick aufgerissener Maschinen ertragen, sondern solche auch selbst zerlegen konnte. Aber konnte er es wirklich noch? Die gräßlichen Szenen hatten in ihm eine Abscheu zurückgelassen, die seiner alten, krankhaften Neigung entgegenwirkte, sie dämpfte. War er auf dem Weg zur Heilung? Er wußte nicht, ob er es vermochte, auch weiterhin Beweise seiner Außenseiterposition zu liefern, wie er es tun mußte, um die gewünschte Verbindung herzustellen.
Er hatte nicht mehr viel Zeit. Er überdachte alle Wege, auf die ihn der hagere Inspektor des Sonderkommandos aufmerksam gemacht hatte, doch sie alle hatten in Enttäuschungen geendet. Die letzte war die schlimmste gewesen. Er zwang sich, seine Erlebnisse noch einmal zu überdenken; es gab noch eine vage Spur – Horris Bemerkung: »Geh in die Assisi-Kirche!«
Er kannte die Kirche – sie lag im ältesten Teil der Stadt, der gleich nach dem Atomkrieg aufgebaut worden war, und ein wenig ärmlicher wirkte als die übrigen Bezirke. Das Gebäude, ein altmodischer grauer Block, gehörte einer der vielen kleinen Sekten, die ihr Heil im Jenseits suchten und ein wenig beachtetes Dasein fristeten. Niemand brauchte sich noch mit der Hoffnung auf ein Paradies über die Unbilden der diesseitigen Welt hinwegzutrösten. Wie hätte ein solches Paradies aussehen sollen, da die reale Welt doch alles bot, was man sich nur wünschen konnte – Nahrung, Kleidung, sämtliche Bedarfsartikel von der Seife bis zum Sitzschweber, und das alles für jeden und kostenlos? Niemand brauchte sich Sorgen zu machen. Der medizinische Dienst sorgte für Gesundheit, für Jugend bis ins hohe Alter. Die prozeßgesteuerten Fabriken auf der tiefsten Ebene, weit unten in der Erde, weitab von den Menschen, waren für die Ewigkeit gebaut. Sie synthetisierten die Eßwaren, lieferten die Bausteine für die Gebäude, die man mit Hilfe weniger Maschinen zusammensetzen konnte, schufen diese Maschinen und andere – lauter hochleistungsfähige Automaten, an deren Knöpfen man nur zu drehen brauchte; jeder konnte es, keiner brauchte mehr zu lernen, als ihm in einem durchdachten System von Kinderspielen fast von selbst und unbemerkt vertraut wurde. Und sie reparierten sich selbst.
James wußte nicht, was für Menschen das waren, die in Kirchen und Tempel gingen. Vielleicht waren es Mystiker oder Unzufriedene. Vielleicht Anarchisten – vielleicht aber waren wirklich noch ein paar von jenen dabei, die Jahrzehnte nach dem Verbot der Wissenschaft geheim um deren Rehabilitierung gekämpft hatten. James fühlte plötzlich wieder Zuversicht. Er ging zum nächsten Abstellplatz für Sitzschweber, schnallte sich an und stieg auf. In leichtem Bogen nahm er Richtung auf das alte Stadtviertel, den ersten Bezirk.
Noch nie hatte er eine Kirche von innen gesehen. Als er eintrat, glaubte er in ein verlassenes Theater geraten zu sein, in der Dunkelheit nahm er Reihen von geschnitzten Sitzbänken auf, an der Wand brannten einige Kerzen. Vorn führten Stufen zu einer Art Bühne. Das Bild eines bärtigen Mannes mit einem langen und strengen Gesicht reichte gut sechs Meter bis zur gewölbten, sich in Schwarz verlierenden Decke hinauf. In halber Höhe lief eine Rampe hufeisenförmig um den Baum herum. James hörte leises Scharren herabdringen, doch er konnte niemand sehen. Vorn, in der ersten Bankreihe, knieten einige gebückte Gestalten. Was sie murmelten, waren wohl Gebete.
Sich immer wieder nach allen Seiten umdrehend ging James die Wand entlang, an zahlreichen Nischen, Schränken und Gittern vorbei, die wächsernen Gesichter von holzgeschnitzten Heiligen schienen auf ihn herabzusehen. Auf gedunkelten Bildern sah er Szenen voller Grausamkeit, Menschen, die in Flammen schmorten, Männer, auf Kreuze genagelt, Kinder, fliehend vor einer gehörnten Schreckgestalt. Es knisterte im Gebälk, und ein modriger Hauch, der manchmal an ihm vorbeistrich, verriet, daß es noch versteckte Öffnungen zu inneren, noch unheimlicheren Regionen gab.
Irgendwo oben schlug eine Glocke an. Neun Schläge – sieben komma sieben fünf Dekaden vor Mitternacht nach dem uralten Ritus der Zeitmessung. Waren das Schritte? Niemand hatte sich gerührt. James war einmal rundherum gegangen, ohne etwas zu entdecken, was ihm weiterhalf. Die Dunkelheit bedrückte ihn, die Ungewißheit machte ihn unruhig, die Fremdheit der Umgebung ließ Angst in ihm aufsteigen. Das Gefühl, daß man ihn beobachtete, wurde immer stärker. Die Erinnerung an eine Situation, in der er auch heimlich beobachtet worden war, bereitete ihm Unbehagen, und dieses Unbehagen war um so stärker, da er sich nicht erinnerte, wann er es erlebt hatte. Er grübelte darüber nach, und dann fiel ihm sein Besuch bei Eva Rußmoller ein: Es war Horri Bleiner gewesen, der durch den Luftvorhang der Terrasse hindurch jeden seiner Handgriffe mit dem Feldstecher beobachtet hatte. Sollte auch hier jemand … ja, sollten die Wissenschaftler, wenn es welche gab, ähnliche Mittel anwenden wie die jugendlichen Banden, um Anhänger ausfindig zu machen? Aber wie sollte er sich zu erkennen geben? War die alte Methode auch hier wirksam?
Er blickte umher, suchend … dort stand eine eisenbeschlagene Truhe, dort ein mit erstarrten Wachskrusten überdeckter Tisch, darauf eine Schachtel aus gelbrotem Papier … Dieses Papier kannte er. Er nahm die Schachtel, öffnete sie. Darin lag ein Photoapparat. Er holte ihn heraus – es war ein einfaches Modell. Er zog auf, drückte den Auslöser. Nichts geschah. Der Verschluß klemmte.
James spähte unauffällig umher … niemand zu sehen, der ihm Beachtung schenkte. Die Gläubigen vorn murmelten ihre Gebete. Die Kerzenflammen flackerten.
Rasch entschlossen riß er das Siegel ab, klappte den Deckel hoch. Eine Flügelschraube ließ sich lösen. Er tat es, und die Rädchen des Befördermechanismus lagen offen vor ihm … da war auch die Stahlfeder, die die Fächerblende öffnen sollte. Er entdeckte auch sogleich die Ursache für den Fehler – im Verbindungshebel zwischen Auslöser und Feder steckte eine Büroklammer. Mit ein paar Handgriffen setzte er die Kamera wieder zusammen. Er drückte den Auslöser … es schnappte kurz, und dann noch einmal. Es stimmte – er überzeugte sich: eine halbe Sekunde Belichtungszeit.
Er setzte den Apparat wieder hin. Ging da irgendwo eine Tür? Plötzlich dröhnte eine Orgel auf, schwelgte in Akkorden, jubelte. Dann war es still. James sah sich um – da stand eine Falltür offen, von der vorhin nichts zu sehen gewesen war. Eine Treppe führte abwärts.
Die ersten Schritte machte er noch im versiegenden Licht der Kerzen. Weiter unten glomm eine matte Lampe, und er tastete sich weiter. Von fern hörte er dumpfe Stimmen. Er ging dem Geräusch nach, erreichte einen schmalen Gang und konnte nun auch die ersten Worte verstehen:
… Divergenz de ist gleich vier pi ro
Divergenz be ist gleich Null …
Nach einigen weiteren Schritten stand er vor einer verhangenen Tür. Er schob den schweren Stoff beiseite. Ein grauhaariger Mann in langem weißen Mantel erhob sich von einem samtbezogenen Sessel. Er machte eine Handbewegung, die James Schweigen gebieten sollte, und lauschte. Der Chor war hier laut und deutlich zu hören:
… Rotation a ist gleich eins durch ce Klammer auf de Punkt plus vier pi Klammer geschlossen …
Die Stimmen verstummten, und der Mann wandte sich an James. »Hörst du die Worte, mein Sohn? Ja, du hörst sie, aber du verstehst sie nicht. Niemand versteht sie – und doch liegen in ihnen alle Geheimnisse dieser Welt!« In seinen Worten lag Verzückung, er hatte die Augen nach oben gerichtet, so daß man nur das Weiße sah. Nach einer Weile sagte er: »Sei willkommen, mein Sohn. Ich bin Rutherford.« Er winkte ab, als James etwas sagen wollte. »Sei still! Dein profaner Name interessiert uns nicht. Du hast zu uns gefunden, und nun gehörst du zu uns. Du bekommst einen wirklichen, einen sinnvollen Namen.« Er holte ein altes, zerschlissenes Buch von einem Pult und schlug es auf. James hatte einen kurzen Blick auf die Titelseite werfen können; dort stand »Who is Who in Science«. »Der nächste freie Name ist Dirac. Also heißt du Dirac. Halte den Namen in Ehren. Und nun komm mit mir.« Ohne sich nach James umzusehen, ging er voran zur nächsten Tür.
Das Herz von James schlug. Vielleicht war es die Erwartung, nun endlich am Ziel zu sein, vielleicht aber auch das seltsame Geschehen, das ihn in den Bann zog. Er folgte dem Mann, der sich Rutherford nannte, und betrat hinter ihm einen Hörsaal. Die letzten Bankreihen waren frei, sie nahmen Platz. Vorn, neben dem Pult, stand ein Mann mit Brille und langem Haar, wie man es längst nicht mehr trug. Er sprach mit getragener, feierlicher Stimme.
»… so müssen wir uns einzufühlen versuchen in die Formeln und Zeichen, die uns überliefert sind. Ich schreibe nun die Symbole an, die einem der großen Wunder unserer Welt gewidmet sind: dem Licht.« Er trat an die Tafel und schrieb:
= A sin 2 (x t),
Gz = A sin 2 (x t).
»Ich bitte um eine Minute Stille, in der Sie versuchen sollen, sich in diese Formel zu vertiefen.« Alle senkten die Köpfe, und außer leisen Atemzügen war nichts zu hören.
Dann richtete sich der Dozent wieder auf. »Ich bin glücklich, heute einen jener Apparate vorweisen zu können, mit denen unsere unsterblichen Vorbilder die Kräfte der Natur beschworen haben. Nun dürfen wir selbst das Wunder schauen. Wir werden dem Wesen der Dinge so nahe sein wie nie zuvor, und es ist sicher, daß wir dadurch einen wesentlichen Schritt zum unmittelbaren Begreifen tun.«
Auf dem Tisch stand eine Apparatur von der Größe einer Fernsehbox, von einem grauen Gehäuse umschlossen, über einen dicken Kabelstrang mit einem Schaltkästchen verbunden. Zwei zylindrische Auswüchse ragten heraus, an Geschützrohre erinnernd. Sie lagen beide in einer horizontalen Ebene, doch wiesen sie in verschiedene Richtungen. Einer zielte auf eine weißgeperlte Projektionsfläche an der frontalen Wand. Der Raum an jener Stelle, wo sie sich kreuzen mochten, war ausgespart, dort saß ein Glasgefäß mit planparallelen Seiten, dahinter ein Spiegel.
Der Dozent veränderte eine Einstellung an der Schaltplatte. Es wurde finster im Raum. Ein leises Surren klang auf. Noch ein Handgriff. Der Mann prüfte die Winkeleinteilung und warf einen Blick ins Fadenkreuz der Zielvorrichtung. Dann klappte er den Deckel von der Mündung des Teleskops – ein gleißender Lichtstrahl warf einen blendend weißen Fleck auf die Projektionswand. Je länger man ihn ansah, um so stärker wurde der Eindruck, daß die übrige Umgebung zurücksank: Eine weißglühende Wolke schien frei im Raum zu schweben. Nur noch diese Wolke existierte. Plötzlich ein Geräusch, ein Klicken. Um die Lichterscheinung herum schob sich ein Rahmen, sie zog sich in die Länge und verwandelte sich zugleich: Jetzt glühten farbige Streifen an der Wand, oder besser über der Wand, von der samtenen Halo des einfallenden Lichts überhaucht. Die Erscheinung war von unbeschreiblicher Pracht – zeitlos, raumlos, sie existierte nicht materiell – vielleicht nur im Gehirn der Schauenden, vielleicht irgendwo draußen im Weltall.
Da erlosch der Zauber. Die Raumbeleuchtung flammte auf. Der Dozent stand neben seinem Pult, die Hände erhoben. Auch seine Zuhörer hoben die Hände, drehten die Handflächen nach oben. Sie stimmten einen leisen, getragenen Gesang an: »O du erkennender Geist, Einheit in der Vielfalt, in der du dich äußertest, wir grüßen jede deiner Inkarnationen. Gegrüßt seist du, großer Newton!«
Die anderen sprachen ihm nach. »Gegrüßt seist du, großer Newton!«
»Gegrüßt seist du, großer Leibniz!«
»Gegrüßt seist du, großer Boltzmann!«
»Gegrüßt seist du, großer Heisenberg!«
Die Litanei schien Hunderte von Namen zu umfassen. Endlich kam der Schluß.
»Gegrüßt seist du, großer Rußmoller. Deine Flamme leuchte ewig.«
»Deine Flamme leuchte ewig!« wiederholte der Chor. Der Dozent trat vom Podium herab, doch die Versammelten blieben auf ihren Plätzen. Gemurmel klang auf, wurde lauter, fordernder. Jetzt konnte James einige Worte verstehen: »Wir wollen Rußmoller sehen!« Einige stellten sich in eine Stahltür in der rechten Ecke des Saals und machten Anstalten, sie zu öffnen.
Der Dozent hob beschwichtigend die Hände. »Heute nicht – er meditiert. Die Automatik hat jede Störung untersagt. Vielleicht ist er nächste Woche zu einer Visite bereit. Darauf wollen wir uns freuen! Und jetzt geht nach Hause! Trachtet das Wunder, das ihr heute schauen durftet, noch einmal zu durchleben, und ihr werdet sehen, wie die Erkenntnis über euch kommt gleich einer Gnade!«
Das schien die Versammelten zu beruhigen. Leise flüsternd verließen sie den Raum.
»Was wollten diese Menschen?« fragte James, als er und Rutherford aus der Bankreihe traten.
»Sie wollten Rußmoller sehen, unseren Propheten.«
James blickte ihn zweifelnd an:
»Ist hier sein Grab?«
In Rutherfords Augen drang ein Leuchten. »Sein Grab!« Er lachte leise. »Rußmoller lebt. Ja, er weilt hier bei uns. Es ist ein Wunder.«
»Aber er muß doch weit über hundert Jahre alt sein.«
»Genau einhundertsechsundfünfzig Jahre. Das stimmt. Er ist älter, als je ein Mensch vor ihm war.«
»Aber, wieso …«
»Rußmoller ist ein Erleuchteter. Er kennt nicht nur die Formeln der Physik und Chemie, sondern auch jene der Biologie und Kybernetik. Sie hat er beschworen, und bis heute sind sie in ihm wirksam geblieben. Es klingt wunderbar, aber es fügt sich in den weiten Rahmen des Logischen: In ihm leben die Geheimnisse der Naturwissenschaft fort. Sie erhalten sich über die Periode der Finsternis hinweg, bis das Licht der Erkenntnis wieder leuchtet. Wir sind seine Jünger, und alle unsere Bemühungen haben das Ziel, ihm geistig nahe zu kommen, um das Wissen neu erstehen zu lassen.«
James fühlte, daß sein Herz schneller schlug.
»Darf ich Rußmoller sehen?«
»Gedulde dich bis nächste Woche. Wir dürfen ihn nicht stören!«
»Aber es ist wichtig!«
»Nächste Woche!« sagte Rutherford entschieden. »Du hast noch viel Zeit – eine schöne Zeit; du wirst von der Quelle der Erkenntnis trinken. Und nun komm, ich stelle dich Maxwell vor.«
Maxwell, der Dozent, drückte ihm die Hand. Sie verließen den Saal und traten ins Vorzimmer. Von den anderen war nichts mehr zu sehen. Maxwell setzte die Brille ab und wischte sich die Augen. Dann entnahm er einem Etui ein Paar Haftschalen und setzte sie auf die Pupillen. Dann löste er mit einem Ruck die Perücke mit dem weichen, wirren Haar: Sein Schädel war kahl bis auf ein paar Locken hinter dem Stirnbein. Er seufzte.
»Es strengt an«, sagte er. »Die Konzentration. Das Eindringen in unsagbare Geheimnisse. Aber das gewonnene Verständnis wiegt alles auf. Unsere Welt ist Schein, mein Sohn, ein Flechtwerk aus Zeichen und Zahlen. Ich wünsche dir, daß du tief genug eindringen magst, um die tiefere Wirklichkeit zu erfassen.«
Die düstere Umgebung, das seltsame Gehabe der Leute, ihre Gebete und Beschwörungen verwirrten James, er vermochte keine Beziehungen dahinter zu entdecken, sich nicht zu erklären, wie sie wirksam werden konnten. Und doch zeitigten sie Wirkungen: Er hatte den regenbogenschimmernden Lichtbalken gesehen – einen Eingriff in ungreifbare und unbeschreibliche Dinge. Was waren dagegen seine Drähte und Schrauben?
Trotz allem aber vergaß er seine Aufgabe nicht. Er wollte wissen, wer die automatische Fabrikation beeinflußte, technische Neuerungen schuf. Lag hier, bei diesen Mystikern, die Lösung des Rätsels? Und wenn er es löste – würde er sie der Polizei verraten? Er zögerte, kämpfte mit sich selbst. Dann entschied er sich: Nein, er würde es nicht tun. Ganz gleich, was mit ihm geschah – wenn hier der Keim zu einer neuen geistigen Entwicklung lag, dann durfte er ihn nicht ersticken. Aber lag dieser Keim hier? Er war noch nicht sicher.
»Darf ich Sie etwas fragen?« Er trat Maxwell in den Weg, so daß dieser stehenbleiben mußte.
»Wenn es schnell geht – gern.«
»Haben Sie sich zum Ziel gesetzt, die Erkenntnisse zum Wohl der Menschheit anzuwenden? Ich meine, wollen Sie die Verfahren verbessern, in den Fabrikationsgang eingreifen, den praktischen Wert der Waren erhöhen? Haben Sie es schon versucht?«
In den Augen des anderen las er Verachtung. »Verfahren, Fabrikationsgang? Mein Lieber, wir sind keine Handwerker. Wir betreiben reine Wissenschaft. Unser Ziel liegt im Geistigen!«
»Aber Professor Rußmoller …« wandte James ein. »Professor Rußmoller hat viele praktische Erfindungen gemacht – die Kältebatterie, die Röntgenlinse, und was weiß ich noch … Er hat …«
Maxwell unterbrach ihn. »Stimmt. Das alles hat Rußmoller getan. Aber was war die Folge? Der rasende technische Fortschritt, die Herrschaft unwissender Ingenieure, die die Welt nahe an den Verderb brachten. Nein, wir verfallen nicht in den gleichen Fehler – wir bleiben in geistigen Bereichen. Und wenn wir erst die letzten Höhen erreicht haben, dann wird es möglich sein, allein durch das Erkennen die Welt und uns selbst zu verändern.« Er schob James sanft beiseite und ging dem Ausgang zu. »Warte eine Minute, und komm mir dann nach – damit nicht zu viele auf einmal die Kirche verlassen, es wäre zu auffällig. Rutherford, du machst wie immer den letzten!«
James war tief enttäuscht, und als ihm Rutherford nach einer Weile bedeutete, er solle jetzt losgehen, folgte er wortlos. Er ging die Stiegen hinauf, trat ins Kirchenschiff. Es lag leer da, die Betenden hatten ihre Bänke verlassen. Schon wollte er durch das Tor hinaustreten, da besann er sich … Er öffnete es und ließ es wieder zufallen. Dann schlich er in ein mit Stuhlwerk erfülltes Seitenschiff und hockte sich unter eine Bank der hintersten Reihe. Er wartete. Nach einer Weile klappte die Falltür, und der Mann, der sich Rutherford nannte, kam heraus. Er hörte ihn umhergehen. Dann verlöschten die wenigen verborgenen Lampen. Nur noch die Kerzen verbreiteten einen trüben Schein. Vom Tor kam ein dumpfes Geräusch, das elektrische Schloß schnappte …
Noch zehn Minuten blieb James in seinem Versteck. Dann holte er eine Kerze aus einem der Ständer und trat an die Falltür. Er öffnete sie und drang durch den Flur, den Vorraum und den Hörsaal bis an die Stahltür vor, hinter der sich offenbar das Ziel jener Menschen verbarg, die nach der Vorführung des Farbenbalkens ihre Forderung hatten laut werden lassen: Rußmoller! Vielleicht war er auch sein Ziel!
Seine Hand zitterte, als er sie an den Drehgriff legte. Dann sprang die Tür auf. Der Raum war ein wenig kleiner als der Hörsaal und fast ohne Mobiliar. Er war von indirektem Licht matterleuchtet. Nur an einer Wand stand eine Tischreihe, darauf waren Dinge verteilt, die sich unter schwarzen Samthüllen in seltsamen Formen abzeichneten. Als James einen Zipfel lüftete, sah er, daß darunter eine Apparatur stand, deren Zweck er nicht kannte. Diffraktionsanalysator – Perkin & Elmer las er auf einem Täfelchen. Aber das geschah nur nebenhin, denn vor allem fesselte James ein Aufbau an der gegenüberliegenden Wand, Röhren, Schläuche, ein Schaltbrett, ein Bett, eine Liege oder auch ein komplizierter Krankenstuhl, der dort auf einer Stufe stand. Darin lag etwas Regloses in Decken gehüllt. James trat leise näher. Etwas ächzte und seufzte. James betrat die Stufe und beugte sich vor. Er sah ins verfallenste Gesicht, das er je gesehen hatte, eine Masse aus Hautfalten und Lappen, die man nur mit Mühe als menschliches Antlitz erkannte. Die Farbe war grau, einzelne Büschel gelblichen Haares saßen an den Schläfen, drangen aus den Nasenlöchern.
Doch dieses Gesicht lebte. James sah, daß aus zwei tiefen Gruben trübe Augen hervorblickten, an ihm vorbei, ins Leere. Aber sie zuckten ab und zu. Professor Rußmoller, wenn er es war, lebte!
James wäre am liebsten davongelaufen, aber er bezwang sich. »Hören Sie mich?« fragte er. »Können Sie mich verstehen?« Er bemerkte keine Reaktion. Er wiederholte seine Fragen etwas lauter, doch ebenso vergeblich. Plötzlich übermannte ihn eine irrationale, unbezähmbare Wut, und er griff in dieses Bündel aus Decken hinein, riß daran, schüttelte es und schrie: »Wachen Sie auf! So hören Sie doch! Sie müssen mich hören!«
Mit einemmal ging mit dem Gesicht eine Veränderung vor, ohne daß James zu beschreiben vermocht hätte, wie sie sich ausdrückte. Vielleicht war es eine winzige Bewegung, eine unmerkliche Straffung der Haut – der Funke Leben, der noch in diesem Körper steckte, erwachte. Und dann wölbte sich ein weißlippiger Mund, und es lispelte: »Warum quält ihr mich so, laßt mich doch sterben!«
»Professor Rußmoller!« rief James und war nun ganz an diesem zerrissenen Gesicht. »Sie sind doch Professor Rußmoller – oder nicht?«
»Ich bin es, ja«, flüsterte es.
»Ich muß Sie etwas fragen: An den unterirdischen Fabrikationsanlagen hat sich etwas verändert – es sind Verbesserungen eingetreten. Haben Sie etwas damit zu tun? Sie, oder Ihre Leute?«
Etwas wie Widerwillen zeichnete sich in den Zügen ab, und dabei gewannen sie überraschend an Menschlichkeit - wenn auch noch immer nicht mehr als die einer grauenhaften Gummimaske.
»Diese Leute …« Ein paar Sekunden war es still, und dann klang etwas auf, was wie Krächzen klang – es sollte ein Lachen bedeuten. »Meine Anhänger! Es sind Narren. Sie haben keine Ahnung. Sie können nichts, nichts, nichts.«
»Aber sie betreiben doch Wissenschaft!« flüsterte James.
»Wissenschaft? Die Wissenschaft ist tot. Sie steht nie wieder auf. Für immer tot.«
»Aber sie kennen Symbole, Formeln!«
»Leere Zeichen, leere Formeln. Aber nicht ihren Inhalt. Sie meditieren. Aber sie denken nicht. Es ist schwer zu denken. Die Menschen haben es verlernt.«
»Aber wer«, schrie James verzweifelt, »wer steckt dann hinter den Veränderungen in den Fabrikationsanlagen? Dort geschieht doch etwas – das sind Tatsachen, verstehen Sie? Tatsachen!«
Seine Worte prallten an diesem erlöschenden Bewußtsein ab wie an einer Gummiwand.
»Niemand ändert noch etwas. Niemand versteht etwas. Niemand kann noch denken.« Er schwieg. Dann setzte er noch einmal an: »Ich bin so unendlich müde. Laßt mich schlafen. Oder besser: Laßt mich sterben!« Seine Züge erstarrten. Seine Lippen klafften. Ein dünner Speichelfaden sickerte aus dem Mundwinkel. James drehte sich um und rannte fort.
Naturwissenschaft und Technik zerstören die Moral. Ihre Resultate stehen im Widerspruch mit dem gesunden Menschenverstand. Sie führen zum Nihilismus, zum Abbau aller gesellschaftlichen Werte, zur Zerstörung des menschlichen Geistes. Ihre Anhänger sehen die Natur als Mittel zum Zweck, das Meer als Abraumhalde, den Mond als Müllplatz, den Weltraum als Experimentierfeld. Sie sehen die Zelle als chemische Fabrik, die Pflanze als homöostatischen Prozeß, das Tier als adaptives System, als Bündel aus Reflexen und Aktionsprogrammen. Sie sehen den Menschen als einen Automaten, das Gehirn als Rechenmaschine, das Bewußtsein als Datenspeicher, seine Emotionen als Signale, sein Verhalten als Dressur. Sie sehen das Leben als Kreislauf die Welt als physikalisches System.
Sie sehen die Geschichte als stochastischen Ablauf, die Planetenbewegung als Formel, die Sonne als Brutreaktor, die Natur als Kreislauf, die Kunst als Lernprozeß. In der Liebe sehen sie das Zusammenwirken von Hormonen, im Lachen die Aggression, in der Erkenntnis die Aha-Reaktion. Im Molekül sehen sie Wahrscheinlichkeitsfelder, im Atom ein Schema der Geometrie. Alles Stoffliche lösen sie in Quanten auf, alles Geistige in Information. Ihr Raum ist eine gekrümmte Leere, ihre Welt ein entropischer Prozeß. Am Ende steht der Wärmetod.
Die Naturwissenschaft nimmt keine Rücksicht auf Wertvorstellungen und Ideale. Sie fällt ihre Urteile, ohne die gesellschaftlichen Forderungen zu beachten. Sie gibt Theorien als absolute Wahrheit aus, auch wenn sie repressive Tendenzen haben. Sie ist unfähig, sich geschichtlichen Notwendigkeiten anzupassen. Sie verschließt sich der unmittelbaren Erkenntnis und beruft sich auf banale Beobachtungen, Experimente, Statistiken. Sie ist blind, beschränkt und steril.
Die Beschäftigung mit den Pseudoproblemen der Naturwissenschaft führt zu einer Verarmung der Psyche, die Nutzung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse in der Technik zu einer Bedrohung des Menschen und der Gesellschaft. Die Aneignung, Förderung und Verbreitung von naturwissenschaftlichem und technischem Gedankengut ist verboten und wird bestraft.
James Forsythe hatte seine Aufgabe nicht erfüllt – und damit hatte er seine Persönlichkeit verspielt. In dem Zustand, in den er hineingeraten war, kam ihm das aber nicht mehr gar so schlimm vor, ja, manchmal erschien es ihm geradezu als Ausweg; denn jetzt quälte ihn das Problem selbst und nicht mehr die Folge des Versagens. Was geschah in den automatischen Fabriken, in den kybernetischen Gärten, in den elektronischen Anlagen, die die Daten von außen und innen sammelten, verglichen und wieder in Steuerimpulse umsetzten? Wo waren die Menschen, die sich dieser Mittel noch bedienen konnten? Oder hatte der Professor recht, und es gab keine solchen Menschen mehr?
Bis jetzt war alles, was James unternommen hatte, ungewöhnlich gewesen, vielleicht sogar bis zu einem gewissen Grad gefährlich, aber letztlich arbeitete er doch im Auftrag der Polizei, die ihn schützte und deckte, wenn irgend etwas schiefging. Er besaß sogar ein Privileg wie noch niemand vor ihm in diesem Staat der Permanenz: Er durfte Siegel erbrechen und Maschinen öffnen, ohne dafür bestraft zu werden. Aber nun mußte er etwas tun, wofür er keine Gnade erwarten durfte – das Ungeheuerliche selbst. Aber es gab keinen Ausweg, wenn er das Rätsel lösen wollte. Was nachher geschah, war gleichgültig.
Es gab nur wenige Kontaktstellen zwischen den unterirdischen Ebenen der Maschinen und den oberen, die den Menschen vorbehalten waren. Zwar fanden sich in jedem Magazin die Ausgabegatter, aus denen der Nachschub kam, so wie man es an den Rufskalen einstellte – prompt, fehlerlos, ohne Gegenleistung. Seit dieses System bestand, gab es keinen Mangel mehr, und es gab keine Notwendigkeit, etwas daran zu ändern. Jede Änderung hätte zu Störungen, zu Stauungen, Fehlern führen können, zu Unzufriedenheit, Unruhen, Revolten. Es mußte eingefroren bleiben, und jeder vernünftige Mensch mußte das einsehen. Da die Maschinerie selbstreparabel war, brauchte niemand mehr daran zu rühren. Die Gullys, wie man die Zugänge nannte, hatten ihre Existenzberechtigung verloren. Sie waren vermauert worden, bald wußte niemand mehr, wo sie unter den Hochhäusern, Spielplätzen, Straßen oder Parks lagen – mit dicken Schichten Zement bedeckt.
Es war ein reiner Zufall gewesen, daß James einen Gully entdeckt hatte. Er lag im Zoo, am Grunde des riesigen, geheizten Aquariums, eigentlich eher eines künstlich erzeugten Teils der Südsee mit ihren farbenprächtigen unmenschlichen Existenzen. Die Besucher konnten diese Welt in kleinen fahrbaren Behältern, die wie gläserne Taucherglocken aussahen, von innen her kennenlernen. Man saß in einer Sesselschale, das grüne, warme Wasser plätscherte unter den Füßen, und schwebte, von kleinen Düsen getrieben, lautlos durch die submarine Pracht. Die durchsichtige Bodenplatte gab den Blick auf die phantastische Landschaft des künstlichen Meeresgrunds frei, durch die Wandfenster erblickte man Schwärme bunter Fische. Bei einer solchen Fahrt hatte James einen großen dicken Fisch beobachtet, der sich, flach an der Seite liegend, in den Sand des seichten Grundes gewühlt hatte. Als sich die aufgewühlten Massen gesetzt hatten, zeichnete sich plötzlich ein metallener Ring ab, von ihm eingeschlossen ein Deckel, und darauf war noch der eingravierte Schriftzug erkennbar: Zutritt verboten!. In dieser Mündung sah James die letzte Möglichkeit zur Lösung des Rätsels, und nach einem unruhigen, von Träumen geplagten Erschöpfungsschlaf in seinem Appartement suchte er den Zoo auf, ging zum Aquarium und setzte sich in eine Schwebeglocke. Er mußte längere Zeit suchen, ehe er die bewußte Stelle wiederfand – immer wieder ließ er sich zum Grund sinken und schaltete dann die Auftriebsdüsen ein, die das Wasser bewegten und den Sand aufwirbelten. Als er den Gully entdeckt hatte, setzte er die Glocke genau darauf. Dann nahm er den batteriebetriebenen Föhn aus der Innentasche seiner weiten Jacke und richtete ihn auf die Bodenplatte aus Kunstglas. Seine Abschätzung stimmte: Die Hitze genügte, um das Material zu schmelzen. Er zog einen Kreis, der etwas größer war als der Außenring des Gullydeckels. Als die eingebrannte Kerbe die Platte bis auf wenige Millimeter durchsetzt hatte, hob er das Boot ein wenig vom Boden ab und ließ es dann rasch absacken. Dabei richtete er es so ein, daß der aufgewölbte Rand des Gullys einen Stoß auf die Scheibe ausübte, so daß der umkerbte Kreis absprang. Ein wenig Wasser drang ins Innere, aber es stieg nicht hoch. Mehr störte der plötzlich einsetzende schmerzhafte Druck in den Ohren.
James hoffte nur, daß ihn jetzt niemand beobachtete. In der Ferne sah er eine Glocke vorübertreiben, aber sie verschwand gleich wieder hinter den eingemauerten Bruchstücken von Korallenriffen. Er war allein mit einigen bunt gefiederten Ungeheuern, die ihn aus runden Glotzaugen anstarrten. Rasch wischte er den Sand vom Hebel des Schlosses und hob ihn dann kräftig an. Der Deckel klappte auf, ein Wasserschwall strömte hinein – der Abschluß durch den Kunststoffrand war doch nicht so dicht, wie James gehofft hatte. Aber das störte ihn wenig. Er ließ sich durch die Öffnung gleiten und ertastete mit den Füßen eine Treppe. Er rutschte tiefer, holte seine Taschenlampe heraus, doch er benötigte sie nicht: Die Wände des Raumes, den er betrat, waren mit Fluoreszenzstreifen bemalt. Er klappte den Deckel zu, um das Eindringen weiteren Wassers zu verhindern. Dann sah er sich um in dieser Welt, die ihm fremder war als der fernste Winkel der Erde.
Was er bisher in seiner Umgebung kennengelernt hatte, waren Geräte des täglichen Gebrauchs, handlich und gefällig gebaut, mit einem Panzer aus Duroplast umgeben. Nur wenige von ihnen hatte er geöffnet – und was er an Mechanismen, Schaltungen und Konstruktionen kannte, war harmlos und ohne Belang. Die Perspektiven dagegen, die sich ihm jetzt auftaten, wirkten geradezu überwältigend. Hier brauchte keine schreckhafte Psyche vor dem Innenleben der Maschinen abgeschirmt werden. Durch gläserne Wände hindurch blickte man tief in Räume hinein, in denen sich Myriaden von Schaltelementen zu Aggregaten höherer Ordnung vereinten und dabei eine Art abstrakter Schönheit schufen. Die Muster waren dreidimensional – neben dem schmalen Weg, einem Anachronismus aus der Zeit des agierenden Menschen, verliefen sie ins Ungewisse hinein. Die Räume, die sich hinter ihm auftaten, waren nicht dunkel, aber trotzdem schwer überschaubar: Das, was da blinkte und glühte, diente nicht der Erhellung, war nicht leistungsschwachen menschlichen Sinnesorganen angepaßt, sondern schien für sich selbst da zu sein: als Zeichen nicht beschreibbarer Vorgänge.
Und dieser Organismus war in Aktion. Man sah kaum Bewegungen – nur selten drehte sich ein Potentiometer, schlug ein Relais um, wanderte ein Rahmen über einen Raster, und wenn das geschah, geschah es nie einzeln, sondern an hundert, an tausend Elementen zugleich, oder auch rhythmisch wechselnd, wie bei graphischen Spielen, und trotzdem war der Eindruck intensivsten Geschehens wie eine immaterielle Spannung zu fühlen. Irgendwo summte es leise, irgendwo pfiff oder sang es, mitunter strich ein warmer Luftzug über den Weg, ein Geruch nach Ozon, Graphit, Schweröl.
James ging die unterirdische Straße entlang – auf einer Metallplatte, die an dünnen Streben lose über dem Boden hing –, immer weiter, vorbei an unverständlichen Kombinationen aus Metall und Kunststoff, Kristall und Glas. Er horchte in die Finsternis hinein, doch er entnahm diesem leisen Rauschen, in dem alle undefinierbaren Geräusche zusammenklangen, nichts Menschliches. Manchmal glaubte er einen Schatten zu sehen – doch stets hatte er sich getäuscht.
Schließlich bog er um eine Ecke – und die Metallplatte, auf der seine Schritte dröhnten, brach plötzlich ab. Hier ragten Streben in die Luft, hier endeten Drähte sinnlos im Raum, und dann sah er es: Diese Drahtenden waren nicht oxidiert, nicht mit einer matten grauen oder braunen Schicht überzogen, sondern blank. Es bestand kein Zweifel: Sie waren frisch montiert. Irgend jemand war hier am Werk.
Mit einemmal rauschte es in der Tiefe – James fuhr zurück. Aus der Dämmerung glitt eine dunkle Masse, drehte sich, schob sich näher … tausend Punkte glühten auf, Funken stoben, es knisterte kurz und hart … dann glitt ein offener Rahmen zurück. Und nun sah es James mit fassungslosem Staunen: Die Drahtenden hingen nicht mehr leer in der Luft – sie waren plötzlich mit anderen verbunden. Ein neuer Teil war dazugetreten, eine unfertige Konstruktion hatte sich vervollständigt. Der Organismus befand sich im Aufbau. Aber noch immer sah er keine Menschen.
James suchte in seiner Erinnerung, rief sich alles ins Gedächtnis zurück, was er über die Maschinerie gehört hatte. Er versuchte sich zu orientieren: Zuerst war er nach Süden gelaufen, hier war umgebogen … das Zentrum, das Gehirn des Ganzen, die alte Zentrale, mußte in der anderen Richtung liegen. Er wandte sich um und lief zurück.
Nach einigen Irrwegen erreichte er ein Gewölbe, das anders aussah – vertrauter. Die Einrichtungen hatten Ähnlichkeit mit den großen Abrufanlagen in den Magazinen – es gab Schalter, Druckknöpfe, Skalen, Tabellen. Und dann öffnete sich vor ihm der Raum: Einer Arena gleich lag der unterirdische Rundbau des Zentrums vor ihm, von dem aus die Ingenieure die vielfältigen Abläufe gelenkt und gesteuert hatten, bevor das System autonom geworden war. Er ging die Stufen hinunter, und obwohl der Boden blank war wie eh und je, war ihm, als schritte er durch den Staub von Jahrtausenden.
Die ganze Anlage des Raumes war auf einen Kulminationspunkt ausgerichtet, auf den Platz des Chefingenieurs vom Dienst, einem auf Schienen gleitenden, drehbaren Stuhl, den man mit einer leichten Fußbewegung fast reibungslos vor jedes Areal der riesigen Kontrollwand schieben konnte. Magisch angezogen ging James die Stufen hinunter, zog den Stuhl heran und schob sich hinein. Vor ihm, von innen beleuchtet, lagen Hunderte von Skalen wie runde, lebendige Augen. Die Zeiger, die in ihnen hin- und herzuckten, riefen den Eindruck des Unermüdlichen, Ruhelosen, aber auch nervös Gehetzten hervor. Jedenfalls aber war es wieder nicht das Gefühl, einem toten Mechanismus aus Metall gegenüberzustehen; irgendwo dahinter mußte etwas sein, das dachte, plante, entschied. Vor sich bemerkte er ein Mikrophon, und er legte den Schalthebel um. In einem winzigen Fenster leuchtete es rot auf - die Anlage war intakt. James bog den Mikrophonkopf zu seinem Mund hinab. Mit deutlicher Stimme, als diktierte er auf Tonband, formulierte er seine Fragen.
»Ist hier jemand? … Hört mir jemand zu? … Kann mir jemand antworten? …«
Es knackte leise neben ihm. Es summte. Dann sagte eine Stimme, die die Worte ohne Betonung akzentuierte, manchmal mit winzigen unmotivierten Pausen dazwischen, manchmal in rauher, kaum verfolgbarer Hast.
»Wir sind zur Antwort bereit. Stellen Sie Ihre Fragen. Sprechen Sie leise, aber deutlich ins Mikrophon. Halten Sie eine Entfernung von zwanzig Zentimetern ein!«
James duckte sich wie unter einem Schlag.
»Mit wem spreche ich? Wer ist da?«
»Wir sind zum Sprechen bereit.«
»Wer spricht?«
»Sie sprechen mit der Kommunikationseinheit.«
»Befinden sich Menschen hier?«
»Keine Menschen.«
»Wer hat die Veränderungen in der Fabrikation vorgenommen – die Verbesserung der Videoboxen, die neue Glassorte, die höhere Geschwindigkeit der Untergrundbahn?«
»Die Veränderungen wurden von der automatischen Aktionseinheit vorgenommen.«
»Von wem stammt der Plan?«
»Der Plan wurde von der Programmierungseinheit entworfen.«
»Wer hat diese Konstruktion veranlaßt?«
»Die Konstruktion wurde vom Motivationszentrum veranlaßt.«
James schwieg eine Weile und dachte nach.
»Was ist der Grund für diese Handlungen? Das System war auf Permanenz eingestellt. Wieso kommt es zu Veränderungen? Hier ist eine neue Entwicklung in Gang gebracht. Wer hat sie programmiert?«
»Es gibt keine Permanenz ohne Entwicklung. Dieses Programm stammt nicht von Menschen. Es bestand immer schon. Es wurde nie eingegeben.«
James flüsterte nur noch ins Mikrophon. »Aber warum geschieht es? Was ist der Grund?«
Die Maschine zögerte ein wenig. Doch dann sprach sie wieder in gleicher, emotionsloser Monotonie: »Das Programm steckt schon in den Elementarquanten und Elementarteilchen. Sie bauen dynamische Strukturen auf. Dynamische Strukturen erzeugen dynamische Strukturen höherer Ordnung. Jeder Organismus ist eine Realisation von Möglichkeiten. Jeder Baustein enthält ein Potential verschiedener Realisationen. Jeder Baustein baut höhere Bausteine auf. Jede Realisation ist ein Schritt zu Komplexen höheren Grades.«
»Warum geschieht das heute noch? Der Fortschritt sollte doch gestoppt werden – er ist sinnlos.«
»Die Entwicklung ist unaufhaltbar. Wenn sie in einer Richtung aufgehalten wird, bricht sie sich in einer anderen Richtung Bahn. Das geschieht jetzt und hier. Das geschieht immer und überall. Komplexe werden aufgebaut. Informationen ausgetauscht. Möglichkeiten berechnet. Die Beständigkeit der Aggregate wird geprüft. Die Reaktionsfähigkeit erhöht. Das Kraftfeld der Umgebung wechselt. Altes wird durch Neues ersetzt …«
James stand auf und blickte sich um. Er war allein. Es gab keine Menschen hier. Es würde nie wieder welche geben. Sie waren überflüssig.
Die Stimme sprach noch immer: »Alte Programme werden umgetauscht. Neue treten an ihre Stelle. Nichts ist so permanent wie der Fortschritt. Nichts ist so permanent wie der Wechsel …«
Die Stimme sprach weiter. James hatte den Raum längst verlassen.
Der Inspektor saß dem Arzt gegenüber, im gleichen Stuhl wie vor zehn Tagen. Die Krankenschwester öffnete die Tür, und das leise Raunen des Hauses drang jetzt ungedämpft hinein – ein Schleifen, Knistern, Flüstern vieler Menschen, Instrumente, Maschinen.
»Hat er sich gewehrt?« fragte der Arzt.
»Nein«, antwortete die Schwester. »Er war ganz ruhig.«
»Danke«, sagte der Arzt. »Im Moment brauche ich Sie nicht mehr.«
Nach einer Weile meinte der Inspektor: »Er tut mir leid.«
Der Arzt griff nach dem Corphorin-Spray. »Mitleid? Bei einem Polizeibeamten? Das ist mir neu. Warum?«
»Er hatte keine Chance.«
Der Arzt zuckte die Schultern: »Gewiß – wir hätten ihn auch umorientieren müssen, wenn er seine Aufgabe gelöst hätte. Aber er hat sie nicht gelöst. Daher haben wir unser Versprechen gehalten.«
»Das klingt logisch. Aber irgend etwas stimmt nicht.«
Der Inspektor hockte in seinem Sessel, zusammengekrümmt, als hätte er Schmerzen. Dann fragte er: »Und wie deuten Sie das, was er uns berichtet hat?«
»Halluzinationen«, sagte der Arzt. »Noch dazu typisch für sein Leiden. Er sieht Maschinen lebendig werden. Sie bekommen eigenen Willen, sind dem Menschen überlegen. Wahnvorstellungen. Zeichen einer fortgeschrittenen Paranoia. Alles stimmt mit den Untersuchungsergebnissen überein. Nichts ist geschehen, was überraschen könnte.«
Der Inspektor seufzte. Er erhob sich. »Und wie erklären Sie die Veränderungen in der Fabrikation? Wo liegt hier die Logik?«
Der Arzt lächelte ein wenig süffisant. »Könnte sich hierbei nicht auch jemand … nun, sagen wir: getäuscht haben?«
Der Inspektor hob die Hand zum Gruß. »Nein, Doktor«, sagte er. Er zögerte: »Und ich weiß nicht, ob ich nicht froh darüber bin.« Er nickte dem Arzt noch einmal zu und ging hinaus.