In Gruppen standen sie vor den Kunstglaswänden und blickten hindurch. Sie mußten blinzeln, denn der Innenraum war mit grellem Licht erfüllt – es kam von den Weißlichtstrahlern, die ein regelmäßiges Punktnetz an der Decke bildeten. Die unangenehme Helle lag wie Staub über der Landschaft, die man drinnen aufgebaut hatte und pflegte: Steinwege führten zwischen Gras und Blumen hindurch, dazwischen stand gelegentlich ein Busch oder ein Baum – aber so, daß er die Sicht nicht verdeckte. Da und dort sah man seltsame, behaarte, vierbeinige Tiere; sie kauerten am Boden oder liefen müde die Glaswand entlang. Am unheimlichsten aber waren doch die eigentlichen Bewohner der Anlagen: menschliche Geschöpfe mit blasser, weißlicher Haut, weit geöffneten Augen und Nasenlöchern, schlanken, zerbrechlichen Händen. Sie trugen dieselben Kleider wie die Besucher außerhalb der Wände, aber es sah unpassend aus, ja obszön.
»Sind das wirklich Menschen wie wir?« fragte ein kleines Mädchen und klammerte sich an den Ärmel des Vaters.
»Es stimmt – es sind Menschen. Oder vielmehr: Sie waren es. Sie stammen von denselben Urahnen ab wie wir. Früher waren wir ihnen ähnlicher, es hat viele Generationen gedauert, bis die Unterschiede so groß wurden. Eigentlich weiß niemand, wieso es dazu kam.«
Sie schwiegen wieder und starrten hinein. Manchmal kam eine dieser Karikaturen eines Menschen von der anderen Seite an die Glaswand heran und blickte ihnen ins Gesicht … die draußen Stehenden traten unwillkürlich einen Schritt zurück. Diese Gesichter waren schwer zu beschreiben – menschlich und doch anders. Die Haut sah verletzlich aus, durchsichtig. Man sah das Weiße in den Augäpfeln. Waren sie intelligent? Waren sie gefährlich?
Das Mädchen versteckte sich hinter den Eltern. Es kam erst wieder hervor, als sich keines der unheimlichen Geschöpfe mehr in der Nähe befand.
»Warum sperrt man sie ein? Was geschieht, wenn sie ausbrechen?«
»Sie können nicht ausbrechen«, erklärte der Vater. »Sie atmen eine andere Luft, was sie essen, muß künstlich gereinigt werden. Alles, was sie brauchen, wird sterilisiert; man reicht es ihnen durch luftdichte Schleusen. Nur im Innern sind sie lebensfähig. Außen würden sie umkommen.«
Eine Bewegung ging durch die Gaffenden: Ein ganzes Rudel der fremdartigen Geschöpfe lief durch das Gehege und verschwand in einem der Gebäude, die man für sie gebaut hatte. Sie waren so eng eingerichtet, daß sich ihre Bewohner nicht dauernd darin aufhalten konnten; und doch versuchten sie sich oft lange Zeit hindurch in irgendwelchen Winkeln zu verkriechen – und sich den Blicken der Besucher zu entziehen.
»Kommt, gehen wir! Es ist kein angenehmer Anblick!«
Der Vater zog das Kind mit sich. Noch im Gehen blickte es ins Gehege zurück – hinter einem Busch, halb versteckt, stand ein Junge und zog ihm eine Fratze.
400 Jahre früher
Nun ist eingetreten, was man seit Generationen befürchtet hatte. Die immer wieder erneuerten Verträge, die strengen Verordnungen, die Zusatzklauseln, die strikte Abgrenzung, ja selbst die angedrohten Sanktionen – das alles ist jetzt wertlos. Polizei, Militär und Schutztruppen haben nichts mehr zu bestellen. Ein paar geöffnete Luken, und die Luft würde verpestet sein. Einige niedergerissene Dämme, und das Wasser wäre für immer verdorben. Ob Freiwilliger oder Dienstpflichtiger, wer wollte sich gegen einen Feind wehren, dessen Unempfindlichkeit ihn besser schützte als ein hermetisch abgeschlossener Panzer?
Zunächst war es angenehm gewesen. Die freien Bewohner der Stadt begrüßten den Entschluß der Verantwortlichen, die Areale zu verkaufen. Die düsteren Gestalten waren eingezogen, der Abschaum der Menschheit. Verstohlen hatten die Einheimischen zwischen den Latten ihrer Jalousien hinausgeblickt, als die Fremden in offenen Lastwagen gebracht wurden. Sie sahen häßlich aus, schmuddelig, schleimig. Man konnte sich vorstellen, daß sie schwitzten und stanken. Und dann sprangen sie herab, Männer, Frauen und Kinder, und wimmelten wie Ameisen über den Halden.
Man hatte Luftvorhänge eingerichtet, Mauern, elektrische Zäune, hatte dafür gesorgt, daß alles, was einmal drinnen war, auch drinnen blieb. Durch riesige Kanalröhren, in denen ein ständiger, einwärtsgerichteter Wind aufrechterhalten wurde, warf man die Abfälle hinein – Essensreste, Autowracks, Müll aus Wohnungen, Fabriken, Unterhaltungsstätten. Abfälle aus Desinfektionsanstalten und Spitälern, alte Kleidung, Tierkadaver. Durch Röhren leitete man die Abwässer hinein, aus Wohnbezirken, aus chemischen Werken, eine Brühe voll von Faulschlamm, Nitriten, Arseniden, Antimoniden, Blei- und Quecksilbersalzen, radioaktiven Abfällen, Detergentien, Antibiotika. Das alles wurde aufgesogen, einverleibt wie von einem nimmersatten Tier – und auf irgendeine Weise verdaut.
Biologen und Ärzte hatten ein baldiges Ende jener entarteten Menschen vorausgesagt, die sich freiwillig in eine lebensfeindliche Umgebung begeben hatten, und manche hatten sogar dagegen protestiert. Sie sahen aber schließlich ein, daß das Problem der Übervölkerung nicht anders zu lösen war, und gaben ihren Widerstand auf. Doch wie schon so oft hatten die Fachmänner unrecht gehabt. Die Leute schienen sich wohl zu fühlen, sie blieben gesund und gediehen. Und sie erfüllten ihre Aufgaben. Sie brachten Ordnung in das Chaos, schufen Raum für neue Abfälle, halfen zur besseren Ausnutzung des Platzes. Aber sie bauten auch Wege, Wohngebäude, züchteten Algen und Pilze, verschmolzen Metalle … Kommissionen, die sich von Zeit zu Zeit ins Innere wagten, berichteten darüber.
Ja, sie gediehen – und vermehrten sich; niemand hätte das für möglich gehalten, aber es geschah. Das Problem ihrer Fruchtbarkeit stellte sich erneut und nachhaltiger. Sie wurden immer mehr, der Platz wurde ihnen zu klein. Und nun kamen ihre Forderungen: Sie verlangten eine Erweiterung der Areale, sie verlangten mehr Müll!
Es blieb nichts übrig, als ihnen nachzugeben – um so mehr, als sie ja dem Zuge der Entwicklung entgegenkamen. Die Müllagerplätze dehnten sich aus, der bewohnbare saubere Raum wurde kleiner, und schließlich kam das Gesetz, das die weitere Abtrennung von Ablagerungsplätzen verbot …
Aus der Ferne ertönt Geschrei. Über den grauen Blöcken der Kompostierungsanlage steigen braune Dämpfe auf. In der Luft liegt ein ekliger, dumpfer Geruch. Es kann nicht mehr lange dauern …
300 Jahre früher
»Wir machen Ihnen ein faires Angebot«, sagte der Botschafter. »Wir kaufen alle fraglichen Areale. Unser Angebot liegt nicht hoch, aber das Land ist für Sie sowieso nicht nutzbar. Sie haben das Recht, Ihre Abfälle weiterhin dort hinzubringen. Dazu übernehmen wir die Verpflichtung, sämtliche Arbeiten durchzuführen, die in diesen Gebieten anfallen. Dieses Angebot ist sehr vorteilhaft für Sie – denken Sie an die Gesundheitsschäden, die sich Ihre Leute dort bisher zugezogen haben! Diese Sorge wären Sie jetzt los.«
Die Gruppe von Politikern, mit der er sprach, hatte sich so weit von ihm zurückgezogen, wie es die Höflichkeit zuließ. Zwar unterschied sich der Botschafter äußerlich nicht allzuviel von ihnen, aber jeder wußte um die Besonderheiten jenes Volkes, das er vertrat und dem er schließlich auch angehörte. Man ekelte sich vor diesen Leuten und zeigte es auch, wenn der Zufall einmal eine der seltenen Begegnungen herbeiführte. In diesem Fall allerdings war die Situation ein wenig anders. Das Angebot, das er ihnen machte, war so verlockend, daß sie es einfach annehmen mußten – wertloses Land für teures Geld verkaufen, und dazu noch beachtliche Vorteile einhandeln. Freilich – auch die andere Seite stand unter Druck: Ihr kleines Land platzte aus den Nähten – und die Leute konnten nicht auswandern. Wohin hätten sie gehen sollen?
Und nun war diese Idee mit den Enklaven aufgetaucht; niemand wußte, von wem sie eigentlich stammte. Aber sie war bestechend. Auch ein politischer Vorteil lag darin: Der Vertrag würde dazu beitragen, daß in der freien Welt ein Unruheherd verschwand, daß die Gefahr einer kriegerischen Expansion verringert würde …
Nach kurzer Beratung wurde das Angebot angenommen.
200 Jahre früher
»Ich sehe keinen Ausweg«, sagte der Wirtschaftsminister. »Ein Land wie unseres, ein lächerliches Fleckchen Erde, zwischen großen Nachbarn eingezwängt, kann auf die Dauer nicht unabhängig bleiben. Ich sehe keinen Weg, um die finanzielle Situation zu retten, um so mehr, als der Herr Gesundheitsminister gerade heute mit absolut utopischen Forderungen für die Finanzierung des Umweltschutzes hervorgetreten ist …«
Ein rundlicher, grauhaariger Mann sprang auf. »Meine Herren, Gesundheit ist wichtiger als Geld! Wir dürfen nicht zulassen, daß unser Wasser vergiftet wird, daß die Luft …«
»Das bedeutet Millionen!«
Der Vorsitzende hob die Hand: »Bitte beruhigen Sie sich! Der Fachausschuß für Environtologie hat das Ergebnis einer Studie vorgelegt, das geradezu frappierend ist – nicht nur, weil es alle unsere Probleme mit einem Schlag löst. Ich schlage vor, wir informieren uns aus erster Hand! Wenn Sie einverstanden sind, treffen wir uns nach dem Mittagessen im biologischen Institut der Universität.«
Der Vorstand des Instituts selbst empfing die Regierungskommission. »Unsere Forschungen begannen mit der Züchtung eines stadtharten Baums. Er muß in versalzenem Boden gedeihen, vor allem gegen Streusalze unempfindlich sein. Er muß Abgase, Staub und Ruß vertragen. Kunstlicht und Vibrationen bis hoch in den Infraschallbereich hinein dürfen ihm nicht schaden. Das Ergebnis hat alle Erwartungen übertroffen. Sehen Sie!« Ohne seinen Stolz ganz zu verbergen, deutete der Biologe auf einen großen Blumentopf in der Ecke des Raums, den seine Gäste bisher nicht beachtet hatten. Aus grauer, verkrusteter Erde wuchs ein knorriger Stamm heraus, verzweigte sich in einige Zweige. Daran hingen große dickfleischige, zerfiederte Blätter. »Das ist sie: unsere Neuzüchtung, der stadtharte Baum. Wir haben ihn den härtesten Tests unterworfen: Er verträgt nicht nur die Abgase – er braucht sie sogar! In Luft, die frei von Kohlenmonoxid und Schwefeldioxid ist, geht er ein.« Der Gelehrte stand auf. »Und nun bitte ich Sie, mir zu folgen!«
Während die Gruppe durch die Gänge des Instituts wanderte, fuhr er fort: »Unsere Überlegungen beruhen auf einer alten Erkenntnis: daß auch der Mensch ein adaptives Wesen ist – in noch viel stärkerem Maß als ein Baum. Gerade das wurde aber bisher in der Environtologie nicht berücksichtigt. Man hat die Umgebung dem Menschen anzupassen versucht – was schwer und teuer ist – und dabei Schiffbruch erlitten. Warum gehen wir nicht den umgekehrten Weg: Warum passen wir den Menschen nicht der Umgebung an? Bisher haben wir jede Veränderung der Luftzusammensetzung, jede Anreicherung des Wassers mit Fremdstoffen mit Angst registriert. Warum stellen wir uns nicht positiv zu jeder Veränderung und überlassen es dem Menschen, sich darauf einzustellen? Bitte, treten sie ein!«
Er öffnete die Tür zu einem Laboratorium, die Politiker folgten ihm. Vor ihnen lagen Glastanks, darin trübe Lösungen oder Schwaden von schmutzigen Dämpfen. Undeutlich konnte man Bewegungen erkennen, Zittern, Zucken …
»Wir haben Embryos in Nährflüssigkeiten aufgezogen und sie als Säuglinge in Brutkästen weiterbetreut. Daran ist an sich nichts Ungewöhnliches. Das besondere sind die Umweltbedingungen, die wir aufrechterhalten: Die Luft enthält hohe Prozentsätze Kohlenmonoxid und Schwefeldioxid und ist künstlich mit cancerogenen Stoffen aus den Abgasen von Autos angereichert. Das Wasser gewinnen wir aus dem Filtrat einer Kläranlage. Es enthält alle üblichen Verunreinigungen in überhöhter Konzentration, insbesondere eine reichhaltige Auswahl pathogener Bakterien, dazu noch einige ausgesprochene Giftstoffe, deren Anteil wir allmählich steigern. Alle diese Ingredienzien müßten eigentlich tödlich wirken. Aber tun sie es? Nein – im Gegenteil: Die Organismen haben sich angepaßt. Sie sehen es selbst: Die Babys leben, fühlen sich wohl, wachsen zu fröhlichen Kindern heran. Sie werden gesünder sein als wir!«
Die Politiker schwiegen, starrten, staunten. Ihr Unbehagen war unverkennbar. Aber sie sahen ein: Menschen, die sich einem erhöhten Schmutzpegel angepaßt haben, brauchen keine kostspieligen Vorkehrungen zur Reinhaltung des Lebensraums.
Der Finanzminister meldete sich: »Sehr eindrucksvoll … aber, was ich nicht verstehe: wieso löst das unsere Finanzprobleme?«
»Ganz einfach«, antwortete der Vorsitzende und legte ihm die Hand auf die Schulter: »Wir ersparen uns nicht nur die Kosten für den Umweltschutz, sondern wir erschließen zusätzlich eine außerordentlich ergiebige Einnahmequelle: Wir erklären uns bereit, sämtliche Abfälle unserer Nachbarstaaten aufzunehmen – gegen gute Bezahlung, versteht sich.«
»Das bedeutet eine völlige Abkehr von altbewährten Prinzipien«, warf der Gesundheitsminister ein.
»… aber eine Lösung unserer Probleme«, meinte der Regierungschef. »Meine Herren, ich glaube, unser Weg in die Zukunft ist gesichert.«