Programm ETHIC


Stuttgart City

Der kleine Konferenzsaal lag in der höchsten Etage des neuerrichteten Nordblocks, bei günstiger Witterung – wenn der Wind die Smogglocke über der Stadt zerriß – sah man bis zur gegenüberliegenden Hügelkette. Heute war so ein Tag. C.C. Brack hatte Mühe, seinen Blick vom Spiel der dämmerblauen Wolken hinter den Silhouetten des Funkturms und des Jugendhauses Ost abzuwenden. »War das der letzte Punkt der Tagesordnung?« fragte er.

»Noch eine Anfrage«, antwortete Waiden, der Direktionsassistent, und drückte die Vorlauftaste seines Notizblocks.

»Vielleicht können wir das noch vor dem Essen erledigen – Sie haben doch nichts dagegen?«

Die tief in den Stühlen versunkenen Mitarbeiter nickten, ließen ein Murmeln der Zustimmung hören.

»Es ist nur eine Kleinigkeit – eine Anfrage des Aquisitionsbereichs Süd. Betrifft ein Programm zur Generierung variabler Spielfilmhandlungen zur Vorführung bei Transatlantikflügen.«

»Was sagt die Kostenkontrolle?«

Waiden sah auf die Leuchttafel seines Blocks. »Befürwortet. Erwartungswert plus 272 Prozent – fünfjähriger Mittelwert.«

Die Leiterin des Ressorts »Zentrale Aufgaben« kroch ein wenig aus ihrem Sitz heraus: »Infolge der erhöhten Flugfrequenz auf Überseestrecken ist der Bedarf groß. Heute ist es keine Seltenheit mehr, daß Reisende an einem Tag mehrmals den Atlantik überqueren. Die Fluggesellschaften können es sich nicht leisten, einen Film zweimal zu zeigen. So ist der Gedanke aufgetaucht, Spielelemente zu speichern und durch ein Führungsprogramm mit Randomeinfluß immer wieder in verschiedenster Weise zu kombinieren und zu präsentieren. Die Variabilität …«

Brack hob abwehrend die Hand. Er war kein Freund überflüssiger Worte. »Die Möglichkeiten sind mir klar. Aber ich verstehe nicht, wie dieser Punkt auf die Tagesordnung kommen konnte …?«

Dr. Waldheim, der Leiter der Abteilung »Interne und externe Psychologie«, meldete sich zu Wort: »Es dreht sich eher um ein Kompetenzproblem. Aus taktischen Gründen wollen wir nicht tiefer ins Kulturgeschäft einsteigen; das erregt negative Emotionen. Durch die Planungsprogramme stecken wir in der Politik, durch den programmierten Unterricht im Ausbildungswesen, durch die Computerdiagnostik und -therapie haben wir uns in der Humanmedizin engagiert und waren gezwungen, Behandlungsprioritäten festzulegen – und das hat man uns bisher am übelsten genommen. Kultur, Literatur und Kunst sollen eine Enklave der freien Entscheidungen bleiben.«

C.C. Brack dachte kurz nach. Dann entschied er: »Unterhaltungsfilme haben mit Kunst nichts zu tun. Geben Sie das Programm in Auftrag.« Er nickte kurz in Richtung des Kontrollfensters und stand steifbeinig auf.


Frankfurt – Darmstadt

»Na, wie kommen Sie weiter?« fragte Brenninger, Chefprogrammierer der Software-Sektion. Er deutete auf einen Stuhl, und Krudy, der jüngste Systemanalyzer des Teams, setzte sich.

»Das Programm ist im Prinzip fertig. Es liegt an den Randbedingungen.«

Brenninger ordnete einige Dosen mit Mikrofilmen in die Vertiefungen der Magazine ein. Er gab Krudy Zeit, den richtigen Anfang zu finden.

»Die Sache ist so …« begann dieser zögernd und fuhr dann schneller fort: »Es ist nicht schwer, alle möglichen Abläufe zu kombinieren, Personen auszutauschen, psychologische Aspekte stimmig zu verändern, sinnlose Folgen zu selektieren usw. Bei Spielhandlungen kommt es aber auch noch auf etwas anderes an – auf die Moral, auf gut und böse, auf den Ausgang der Geschichte, Happy-End oder Ende mit Schrecken. Kurz und gut – diese Qualitäten lassen sich nur gegen eine ethische Basis abheben. Damit stehen wir vor einem ähnlichen Problem wie beim Genaufbauprogramm, wo wir gezwungen waren, die Grenzen zwischen normal und abnormal präzise festzulegen.«

Brenninger wiegte den Kopf. »Läßt sich das vergleichen? Diesmal machen wir doch Unterhaltung und nicht Medizin.«

»Gewiß. Aber die Folgen könnten ähnlich umfassend sein. Ich habe ein Konsequenzen-Planspiel laufen lassen …« Er stockte, als Brenninger die Augenbrauen hob. Die Sekundärfolgen technischer Eingriffe … dachte er, die Verantwortung des Planers … auf der Universität war das ein vorherrschendes Diskussionsthema gewesen. Aber er sagte nichts darüber und fuhr fort: »Das Resultat hat bestätigt, daß das richtig war. Durch die Aufforderungstendenz zur Identifikation und ihre emotionalen Verstärker haben Spielhandlungen der Unterhaltungsgenres starken Einfluß auf die Meinungsbildung …«

»In unserem Fall handelt es sich doch nur um einen engbegrenzten Personenkreis.«

Krudy wurde allmählich sicherer. »Das stimmt eben nicht. Erstens kennen Sie die Grundsätze unserer Aquisition: umfassende Auswertung aller Programme, Prämien für neue Anwendungen. Dabei liegt es keineswegs fern: Steht das Programm erst zur Verfügung, so wird man allgemein davon Gebrauch machen – im Film, im Fernsehen, im Roman, in den Comics … Und selbst wenn wir das nicht beabsichtigen – wie wollen wir es verhindern? Das heißt aber nichts anderes, als daß die Moral, nach der wir unser Programm ausrichten, zum allgemeingültigen Maßstab wird. Wenn uns das nicht stört, so wird es andere stören – die Schulbehörden, die Kirchen, die Sozialtechniker. Denken Sie auch an unsere Kunden aus Industriekreisen, an die Politiker, an die Umweltgestalter … Nein, nein – wir dürfen die ethische Basis nicht einfach nach Gutdünken postulieren. Sie muß mit größter Sorgfalt entwickelt werden!«

»Ist das nicht ein wenig übertrieben?« fragte Brenninger, aber er war nachdenklich geworden. Nach einer Weile fuhr er fort: »Dieses Projekt ginge über unsere Kompetenzen weit hinaus. Vielleicht könnte man es durch einen Forschungsauftrag finanzieren. Ich möchte aber, ehrlich gesagt, bei der Zentrale nicht darum ansuchen. Wir stehen ja sowieso schon im Ruf … na ja, denken Sie an das Projekt Informationsästhetik! Das haben uns die Amerikaner sehr übelgenommen.«

Krudy stand etwas unsicher auf. »Es war meine erste selbständige Aufgabe. Ich wollte nur …«

Brenninger ging zu Krudy hinüber und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Sie haben ja recht!« beruhigte er und sah dem anderen nach, als dieser zwischen den spiegelnden Glaswänden verschwand.


Boston, Mass.

Das Quadratraster, aus dem die acht Köpfe der Fachleute wie hinter Gittern hervorsahen, verschwand vom Bildschirm, und R. Harrington sen., Sprecher der Direktion, »Sektion Forschung«, kam groß ins Bild. »Damit ist das Problem umrissen«, sagte er. »Seine Bedeutung ist nicht anzuzweifeln. Wir haben das Programm ETHIC genannt – Elementary Theorems and Heuristic Ideas of Charity – und damit zugleich angedeutet, daß wir dabei einen Anspruch stellen, der Geschäftsinteressen und dergleichen weit übersteigt. Unsere Lösung wird die Rechtsprechung aus dem unbefriedigenden Zustand der Subjektivität hinausheben und ein Zeitalter einleiten, in dem auch Recht und Unrecht nach präzisen, allgemein gültigen Regeln beurteilt wird. Es ist uns klar, daß wir, bevor wir es ausarbeiten, Spezialisten verschiedenster Bereiche konsultieren müssen. Darum haben wir Sie zu dieser Konferenz gebeten. Vielleicht darf ich zunächst Sie, Professor Bendrix, um ihre Stellungnahme bitten?«

»Als Verhaltensforscher«, begann Professor Bendrix, »sind mir die Schwierigkeiten Ihres Vorhabens wohl etwas deutlicher als Ihnen selbst. Ein ethisches System läßt sich nur aus einer Bestandsaufnahme aller Verhaltensmuster und eventuell zugeordneter Antriebe ableiten. Was dabei als wünschenswert anzusehen ist und was nicht, ist nur am Beispiel unserer entwicklungsgeschichtlichen Vorfahren, der höher entwickelten Tiere, zu beurteilen …«

»Verzeihen Sie, Herr Kollege«, fiel eine Stimme ein, und drei Sekunden darauf erschien der Kopf von Dr. Koska auf dem Schirm. »Wenn Sie dieses Prinzip zugrunde legen, verleugnen Sie den entscheidenden Schritt zum ›Ich-Wesen‹. Die Basis, von der Sie ausgehen müssen, liegt in der frühkindlichen Entwicklung; sie bestimmt die Verhaltensweisen des Erwachsenen, und jede Bewertung kann daher nur relativ sein.«

»Dabei vergessen Sie aber, daß es auch unumstößliche, absolute, ewige Werte des Moralischen und Ethischen gibt«, fiel Dr. Tebaldi ein. »Dabei berücksichtige ich durchaus die Erkenntnisse der modernen Wissenschaft, man darf jedoch nicht übersehen …«

»Und wie sollen wir nun das Problem lösen?« fragte Bolewski, Starmathematiker des MIT, seinen Freund und Kollegen Rosenbaum vom Computerzentrum.

»Wie bisher–«, sagte Rosenbaum, »indem wir die Meinung aller Fachleute anzweifeln. Indem wir prüfen, was an ihren Modellen relevant ist – an der Verhaltensforschung, der Psychoanalyse, der Umweltforschung – sogar der Moraltheologie. Wir werden die Modelle auf Übereinstimmung prüfen und nebenbei einige Wissenschaften formalisieren, quantifizieren, validieren, kurz: modernisieren und praktikabel machen …«

»… die Verhaltensforschung, die Psychoanalyse, die Umweltforschung und die Moraltheologie …« warf Bolewski ein.

»Und einiges mehr«, bestätigte Rosenbaum. »Und dann werden wir ein Theorem aufstellen und feststellen, was als Konsequenz daraus erwächst und wo es Freiheitsgrade offener Entscheidungen gibt.«

»Und diese Entscheidungen werden wir treffen«, meinte Bolewski.

»Wer sonst?« fragte Rosenbaum. »Wer sonst versteht den Unterschied zwischen dem Notwendigen und dem Möglichen? Es wird uns nichts anderes übrigbleiben.«

»Wir werden das Problem lösen, und man wird uns dafür beschimpfen.«

»So wird es sein«, unterstrich Rosenbaum, schon ein wenig zerstreut, denn er dachte an lineare und parabolische Optimierung, an Systemtheorie und Graphenlehre, an Wahrscheinlichkeitsrechnung und Spieltheorie, an künstliche Sprachen und statistische Semantik. Er nickte Bolewski zu und stieg in den Lift.


New York

Es waren nur wenige Herren, die in der Output-Arena des Computerzentrums standen, und allein am ungewöhnlich hohen Aufgebot an unauffällig gekleideten Angehörigen des Werkschutzes merkte man, daß die Führungsspitze der Gesellschaft hier versammelt war.

»Wir haben also das Problem gelöst«, sagte Jefferson. »Das ist erfreulich. Ich habe, ehrlich gesagt, einige Zweifel gehabt, als wir vor vier Jahren anfingen. Können Sie mir das Prinzip erklären? Aber bitte kurz!«

Alvarez, der Leiter des Entwicklungslabors, gab dem neben ihm stehenden Harrington einen Wink, und dieser begann: »Verhaltensregeln und damit zusammenhängende Bewertungen sind zeit- und ortsabhängig. Das Problem läuft daher auf die Frage hinaus, ob sich in ihnen umgebungsunabhängige Invarianten verbergen. Wir haben zunächst eine Statistik aller überlieferten Aussagen aus der klassischen und neuzeitlichen Rechtsprechung aufgestellt. Um das durch Rechtsurteile hervorgerufene Übergangsverhalten zu beschreiben, war es nötig, eine neue Systemtheorie zu entwickeln, bei der den Zuständen ethische Kenndaten zugeordnet werden. Das gelang durch Einführung …«

»Meine Herren«, unterbrach Jefferson. »An diesem Lösungsweg ist nichts Neues. Wie sehen die Resultate aus? Könnten Sie mit der Demonstration beginnen?«

Alvarez gab ein Zeichen, und die große Bildwand erfüllte sich mit einer undefinierbaren Art von Bewegung.

»Wir simulieren einen Fall aus der Praxis. Die charakteristischen Bestimmungsgrößen der Situation werden durch einen Zufallsgenerator ausgewählt. Ein Transversionsprogramm reduziert die Relationen auf ein Schema – wir nennen es den Rechtsgraphen. Eine sechzehndimensionale Mannigfaltigkeit von Charakterisierungsgrößen …«

Jefferson – es gab ein Gerücht, daß das nicht sein richtiger Name war – sah den Vorgängen auf dem Bildschirm mit gelinder Ungeduld zu. Schließlich sagte er: »Das alles ist bewundernswert. Ich zweifle nicht daran, daß sich damit – wie schon so oft in den letzten Jahren – eine Wendung in der Geschichte der Menschheit anbahnt. Aber mir fehlt noch etwas, was, so meine ich, wichtig ist. Gibt es eine Möglichkeit, die Quintessenz Ihrer Untersuchung zusammenzufassen, kurz, prägnant, vielleicht vereinfacht, aber so, daß es jeder versteht? Ich glaube, daß eine Idee erst wirksam wird, wenn man sie klar und einfach ausdrücken kann.«

»Das müßte möglich sein«, sagte Alvarez nachdenklich. »Wir könnten das pragmatische Schema einem wiederholten Übersetzungsprozeß unterziehen – beispielsweise englisch-deutsch und zurück – und dabei eine Kürzung auf ein Minimum vorschreiben – sagen wir, auf zehn Sätze.«

»Versuchen Sie es!« forderte Jefferson.

Ein Operateur drückte ein paar Tasten der Übersetzungseinheit, und wenige Sekunden danach lief ein Schriftzug über den Bildschirm, in Großbuchstaben, bildfüllend, und die Computerstimme sprach:

»Du sollst nicht töten.

Du sollst nicht ehebrechen.

Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst …«

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