Liftkabine vor Erreichen der Oberfläche von Neu-Pompeii

»Sie sind zu verkrampft«, sagte Antor Trelig zu Ben Yulin.»Entspannen Sie sich. Werden Sie zu Mavra Tschang. Verhalten Sie sich wie sie, handeln Sie wie sie, denken Sie wie sie. Es darf keine Fehler geben.«

Yulin nickte. Er trommelte mit den Fingern auf die Armlehnen und bemerkte plötzlich einen winzigen Tropfen Flüssigkeit. Er starrte die zehn Finger neugierig an. Ein Röhrchen in allen, starr und von einem kleinen Muskel bewegt. Gift?

Er beschloß, das bei Gelegenheit auszuprobieren.

Eine Warnlampe leuchtete auf, und die Kabine wurde langsamer.

»Also, es geht los«, sagte Trelig, als die Kabine hielt.

Gil Zinder konnte nichts tun; seine Persönlichkeit war in den Hintergrund gedrängt. Er war Nikki Zinder, und er mußte sich so verhalten.

Die Tür ging auf, und sie traten hinaus in die warme, frische Luft und den hellen Sonnenschein. Alles hatte sich ein wenig verändert — es gab Schatten, die Sonne stand in einer anderen Entfernung und hatte eine etwas andere Farbe, was alles änderte, und da oben war der Planet, der ein Zehntel des Himmels ausfüllte.

Sie hielten alle den Atem an. Nichts hatte sie auf diesen Anblick vorbereitet: eine schimmernde, silberne, facettenreiche Kugel, die in der Sonne glitzerte; unter Wolkenwirbeln war sie im Süden blau, während der Norden von Rot- und Gelbtönen überflutet zu sein schien. Die Verzerrungen des Plasmaschildes ließen sie geisterhaft erscheinen.

»O Mann!«stieß Gil hervor.

»Los!«sagte Trelig, wie immer praktisch eingestellt.»Stellen wir fest, wer hier das Sagen hat!«

Mehrere Aufseher und ein, zwei Sklavinnen liefen ihnen entgegen, um sie zu begrüßen.

»Renard! Gott sei Dank!«sagte jemand, und Trelig stellte fest, daß er nicht wußte, in welcher Beziehung diese Leute zueinander standen. Aber er kannte ihre Namen und ihre Herkunft, und das half.

»Destuin!«rief er und umarmte den kleinen Mann. Nein, richtig, Destuin war eine Frau, dachte er zornig.

Er sah die Leute ernsthaft an.

»Dank wofür?«fragte er dumpf.»Für weitere fünf Tage?«

Das schien sie genug abzulenken, um weitere Vergleiche zu unterlassen.

»Wo sind die anderen Gäste?«fragte Ben.

»Irgendwo«, sagte einer der Aufseher.»Wir haben sie wenig gestört, und sie haben sich von uns ferngehalten. Es spielt keine Rolle. Ihr sitzt genauso in der Klemme wie wir.«Der Aufseher deutete zur Schacht-Welt hinüber.»Seht ihr den kleinen schwarzen Punkt vor dem Planeten? Dort unter dem Spalt?«

Ben starrte hinüber und entdeckte ihn schließlich — ein winziges schwarzes Pünktchen, wie ein Loch in der größeren Welt. Es bewegte sich.

»Das ist eine Robotstation«, sagte der Aufseher.»Sie schießt jeden ab, der mit einem Schiff abzuhauen versucht. Nur Trelig hat die Codewörter gekannt, und er ist tot. Ihr werdet also uns sterben sehen, aber in vier, fünf Wochen geht euer Essensvorrat zur Neige, und dann seid ihr auch dran. Oder ihr könnt mit dem letzten Schiff fortfliegen und euch zerfetzen lassen. Vielleicht sollten wir das alle tun.«

»Ich verstehe viel von diesen Schiffen«, erklärte Ben.»Vielleicht kann ich etwas tun.«

»Warum nicht? Soll jemand mitkommen?«

»Renard? Wie ist es mit Ihnen?«sagte Ben schnell.

Trelig dachte jedoch weiter. Im Augenblick war das zu gefährlich.

»Gehen Sie nur, und nehmen Sie das Mädchen mit. Für uns spielt das ohnehin keine große Rolle. Ich sehe später nach.«

Yulin war enttäuscht; es war ihm so leicht vorgekommen. Aber man konnte wenig tun. Er machte sich mit Nikki auf den Weg. Es waren nur wenige Leute unterwegs; und sie erreichten den Raumflughafen nach ungefähr fünfzehn Minuten. Alles wirkte verlassen. Yulin atmete zum erstenmal auf. Es war wirklich beinahe zu einfach. Er betrat das Terminal und blieb stehen.

Ein großer Mann mit dem Gesicht eines Wikingers saß auf einer Theke und schien betrunken zu sein. Yulin versuchte sich an seinen Namen zu erinnern.

»Aha! Ihr sitzt also in der Falle wie wir auch!«schrie der andere und trank aus einer Flasche.»Ich dachte, Sie wären entkommen!«Rumney sprang auf. Er war nackt.»Alles ist verloren«, sagte er.»Ihr könnt nicht fort, ich kann nicht fort, keiner kann fort. Es bleibt also nichts anderes übrig, als sich zum letztenmal zu betrinken. Warum nicht? Wir können uns miteinander amüsieren. Ich nehme euch alle beide.«Er hielt ihnen die Flasche hin.»Trinkt.«

Yulin wich zurück, aber der Mann war zu schnell. Er spielte mit ihr und lachte wie ein Wahnsinniger.

»Hören Sie, wie immer Sie heißen«, sagte Ben,»es ist nicht alles verloren. Ich glaube, ich kann uns hier rausholen, wenn Sie es zulassen.«

Rumney dachte kurz nach, dann grinste er.

»Nicht schlecht. Hinterher kannst du herumbasteln, soviel du willst.«

Yulin verfluchte sich dafür, daß er die Pistole weggegeben hatte.

»Ich will nichts als eine Frau«, sagte Rumney.»Ich habe einen Schwanz, du hast einen —«Er verstummte plötzlich und starrte Yulin an.»Du hast keinen!«schrie er wütend.

Yulin erschrak noch mehr. Es stimmte! Obie hatte ihn wörtlich genommen und die letzte Codierung Mavra Tschangs verwendet, ohne die Änderungen!

»Immer langsam«, sagte er, während er zum Ausgang zurückwich.»Sie haben etwas entdeckt, okay. Sie wissen, daß ich Sie vielleicht doch retten kann. Lassen Sie es mich versuchen.«

Yulin sprang zur Rampe, und Rumney stürzte sich auf ihn, stieß ihn zu Boden und hielt ihn fest. Die Flasche flog an die Wand und verfehlte Zinder nur knapp.

Rumney begann an Yulins fast durchsichtiger Kleidung zu zerren.

»Mal sehen, ob du darunter 'ne Frau bist«, knurrte er.

Yulin war entsetzt, mehr als je zuvor in seinem Leben. Während Rumney den Stoff zu zerreißen versuchte, konnte Yulin den rechten Arm befreien und mit den spitzen Fingernägeln zustoßen. Rumney schrie auf, dann schien er zu erstarren und brach auf ihm zusammen. Rumney war schwer wie ein Bleisack. Yulin konnte sich nicht bewegen, nicht atmen.

»Nikki«, ächzte er,»hilf mir, ihn wegzurollen.«

Aber Zinder dachte nicht daran mitzuhelfen.

Yulin fluchte und wand sich und stemmte sich gegen die schwere Last.

»Wenn du dich wenigstens wegrollen würdest«, fluchte er und zu seiner Überraschung tat Rumney genau das.

Er raffte sich mühsam auf, zerquetscht und zerschlagen. Er hustete ein wenig Blut und rang nach Atem. Es gab keinen Zweifel, daß er es bei weitem vorzog, einsachtzig groß und ein Mann zu sein.

»Du am Boden!«zischte er.»Wie heißt du?«

»Rumney. Bull Rumney«, murmelte der Mann.

Ben Yulin bestaunte Mavra Tschangs Einfallsreichtum. Offenbar waren diese Injektoren von einem Genie eingepflanzt worden. Eine sehr gefährliche Dame, die. Er hoffte beinahe, daß sie noch lebte.

»Dann hör gut zu, Bull Rumney«, fauchte Yulin.»Du bleibst hier starr liegen, bis ich etwas anderes sage, verstanden?«

Der große Mann nickte langsam, dann wurde er steif.

»Fötushaltung, Rumney«, sagte Yulin und genoß seine Macht für einen Augenblick.

Rumney gehorchte und erstarrte wieder.

»Los, Zinder, kümmern wir uns um das Schiff«, sagte Yulin, Mavra ähnlicher, als er ahnte.

Sie betraten das Raumschiff.

Es war nicht Treligs Jacht; die hatte Tschang genommen. Sie hatten die Fähre, die Notrationen für vielleicht drei Wochen enthielt, nicht mehr. Yulin fluchte halblaut, während er alles überprüfte. Er war nicht der beste Pilot der Welt, aber ein brauchbarer. Er suchte nach einer Waffe, fand aber — natürlich — keine. Trelig war kein Risiko eingegangen.

Seufzend schloß Yulin die Luke und setzte sich, um zu warten. Er dachte nicht daran, zu den Gebäuden von Neu-Pompeii zurückzukehren.

Es dauerte mehrere Stunden, bis Trelig kam, und Ben Yulin hatte wieder angefangen, sich Sorgen zu machen. Als er endlich Geräusche hörte, öffnete er die Luke und sah drei Aufseher kommen. Davon war gewiß einer Trelig. Diese Mischgeschöpfe sahen alle gleich aus. Alle wirkten grimmig, und einer, nicht Trelig, stieg als erster ein, gefolgt von den beiden anderen. Ben fing Treligs Blick und ein kaum merkliches Nicken auf.

»Wir haben beschlossen, daß jeder, der will, versuchen kann, zu entkommen«, sagte der erste Aufseher zu der Frau auf dem Pilotensitz.»Wenn ihr abgeschossen werdet, geht es schnell. Wenn nicht — um so besser für euch.«

»Und Sie?«fragte Yulin.

»Ich werde sterben — schnell, nicht langsam«, sagte der Aufseher dumpf.»Wir haben uns in einer Sitzung dafür entschieden. Wir sind gerade damit fertig geworden, die armen Teufel zu erschießen, denen es viel schlechter ging als uns. Keiner von uns will so werden. Wir helfen den Leuten, die den Fluchtversuch unternehmen wollen, alles zusammenzupacken und dann ist Schluß.«

Yulin sah, daß Trelig hinter den beiden langsam die Pistole zog und sie auf sie richtete.

»Ich verstehe«, sagte er.»Wir werden versuchen, unser Bestes zu tun. Leben Sie wohl.«

Der Aufseher wollte etwas sagen, aber in diesem Augenblick feuerte Trelig zwei kurze Stöße, bei voller Ladung. Die beiden Aufseher schienen von einem grellorangeroten Leuchten erfaßt zu werden, dann erloschen sie langsam. Es blieb nichts von ihnen übrig als ein paar Sengspuren auf dem Teppich und ein außerordentlich unangenehmer Geruch.

»Luke zu! Nichts wie weg hier!«rief Trelig, und Yulin ließ sich das nicht zweimal sagen. Ein Heulen und Vibrieren, dann wurde das Dock abgeworfen, und das Raumschiff hob ab.

»Langsam, Sie Idiot!«fauchte Trelig.»Bringen Sie uns nicht um! Wir sind unterwegs! Niemand kann uns einholen!«

Yulin starrte ihn kurze Zeit an, dann schien er aus seiner Versunkenheit zu erwachen.

Die Robotstationen verlangten den Code, und Trelig gab ihn durch.

»Wohin?«fragte Yulin.

»Sehen wir uns auf jeden Fall diesen unglaublichen Planeten an«, erwiderte Trelig.»Ich bin selbst neugierig.«

Yulin lenkte das Schiff zurück zu dem schimmernden Planeten.

»Gil Zinder!«rief Trelig.»Kommen Sie nach vorn!«

Das dicke Mädchen löste die Gurte und ging nach vorn zum Bildschirm.

»Unglaublich!«sagte Gil Zinder mit der Stimme seiner Tochter.

»Aber warum gibt es zwei vollkommen verschiedene Hälften?«meinte Trelig.»Im Süden sieht man zwar auch die vielen Facetten, aber man erkennt Grün und Meere und dergleichen. Unsere Art von Welt. Dann kommt der breite Bernsteinstreifen um den Äquator, und darüber befindet sich eine völlig andere Art von Welt.«

»Die Pole sind auch interessant«, sagte Zinder.»Sehen Sie, wie dunkel und dick sie sind und wie groß. Fast wie riesige Gebäude, Hunderte, vielleicht Tausende von Kilometern im Durchmesser.«

Yulin steuerte das Schiff auf einen der Pole zu. In der Mitte zeigte sich ein riesiger, gähnender sechseckiger Umriß von völlig undurchdringlicher Schwärze.

»Was ist das?«sagte Trelig.

Gil Zinder überlegte.

»Ich weiß es nicht. Vielleicht so etwas wie unser großer Spiegel, nur viel komplizierter.«

»Aber warum Sechsecke?«meinte Trelig.»Überall gibt es nur Sechsecke.«

»Die Markovier hatten eine enorme Vorliebe für das Hexagon«, erwiderte Yulin.»Ihre Ruinen sind voll davon, ihre Städte sind in dieser Form errichtet. Als Kind habe ich eine gesehen.«

»Sehen wir uns den Norden an«, schlug Trelig vor.»Er ist so vollkommen anders. Dafür muß es einen Grund geben.«

Yulin steigerte den Schub, und auf dem Schirm drehte sich das Bild mit großer Schnelligkeit.

»Nicht ganz einfach«, sagte der Pilot.»Diese Schiffe sind nicht dafür gebaut, so langsam zu fliegen, außer beim Landen und Andocken.«

Sie überflogen den Äquator, eine echte Barriere, wie sie sahen — fremdartig, beeindruckend und undurchsichtig.

Sie ließen den Terminator hinter sich und flogen ins Dunkle.

»Aber hier lebt jemand«, erklärte Trelig und deutete auf den Schirm.

Einige Bereiche in manchen Sechsecken waren beleuchtet, und man sah deutlich einige große Städte.

»Schade, daß wir nicht näher heran können«, meinte Zinder.»Die Verzerrung durch die Atmosphäre ist wirklich stark.«

»Vielleicht noch ein bißchen tiefer«, antwortete Yulin.»Ich versuche, knapp über der Stratosphäre zu fliegen. Damit sind wir hoch genug, um uns noch im Vakuum zu befinden, aber tief genug, um Einzelheiten zu erkennen.«

Er flog tief hinunter, sie fegten über den Äquator und gerieten in grelles Sonnenlicht.

Dann schien der Antrieb zu stocken, und die Bordbeleuchtung flackerte.

»Was ist los?«fragte Trelig.

»Ich — ich weiß es nicht«, erwiderte Yulin stockend.

Es wiederholte sich, und er schaltete auf Handsteuerung und versuchte dagegen anzukämpfen.»Plötzlicher Substanzverlust, in Abständen.«

»Ziehen Sie hoch!«befahl Trelig, aber in diesem Augenblick erloschen die Lichter.

»Wir stürzen wie ein Stein!«kreischte Yulin.»Mein Gott!«

Trelig kippte blitzschnell ein paar Hebel, aber es nützte nichts. Sie waren in der Kabine fast in völliger Dunkelheit. Dann flammte alles wieder auf. Vorne und hinten ertönte ein Heulen.

Vor ihnen rollte eine Platte hoch und zeigte eine häßliche Landschaft nur zehn Kilometer unter ihnen. Trelig packte ein Rad vor dem Copilotensitz.

Licht und Schub fielen wieder aus, aber nun wurde das Schiff wild umhergeworfen. Trelig rang mit dem Rad.

»Das Ding ist auch für den Flug in der Atmosphäre geeignet«, stieß er hervor.»Die Flügel sind endlich ausgefahren. Selbst wenn der Antrieb ganz ausfällt, glaube ich, daß ich das Schiff hinuntersteuern kann.«

Yulin sah die Landschaft mit erschreckender Schnelligkeit heranfegen. Trelig kämpfte darum, den Bug hochzuhalten, mußte aber trotzdem vorsichtig sein, um den Boden zu sehen.

Der Schub fiel erneut aus, und Trelig war es gelungen, die Fahrt zu verringern, aber nicht genug.

»Hat das Ding Räder?«fragte Yulin.

»Machen Sie keine Witze. Ich brauche eine ebene Stelle, die an die zwanzig Kilometer lang ist. Schnallt euch an.«

»Da! Eine Ebene!«schrie Yulin.

Trelig sah sie und steuerte darauf zu, während das Schiff heftig gebeutelt wurde. Sie prallten auf. Was sie rettete, wie sie später begriffen, war die viel dichtere Atmosphäre, die das Fahrzeug stark genug abbremste. Gerade genug.

Sie prallten mit ungeheurer Wucht auf, und Yulin kreischte vor Schmerzen.

Sie rutschten über nacktes Gestein, scheinbar eine Ewigkeit, fegten schließlich über einen Gegenhang, der sie beinahe umgekippt hätte, drehten sich ein paarmal und kamen zum Stillstand.

Trelig stöhnte und öffnete die Gurte, um sich umzusehen. Yulin war bewußtlos. Zum erstenmal sah er die zerfetzte Kleidung, die Wunden und das Blut.

Zinder war es kaum besser ergangen, aber er schien sich zu erholen.

Trelig versuchte aufzustehen und stellte fest, daß ihm schwindlig war. Er stürzte zweimal hin, und sein Kopf dröhnte. Er schaute hinaus auf die trostlose Landschaft. Nacktes, schwarzes Gestein vor einer dunklen, dichten Atmosphäre — woraus? Nichts, was sie atmen konnten.

Sie waren am Leben — aber für wie lange?

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