Dasheen

Ben Yulin erwachte schlagartig und öffnete die Augen.

Sein erster Gedanke war, daß die Schmerzen aufgehört hatten und er seinen ganzen Körper wieder spüren konnte. Das war das Wichtigste. Aber — wo und was war er?

Er setzte sich auf und schaute sich um. Alles hatte sich entschieden verändert. Er war leicht kurzsichtig und völlig farbenblind, konnte aber gut genug sehen, um zu erkennen, daß er sich in einer ländlichen Umgebung befand; dort drüben lag aufgehäuftes Heu, im Umkreis von Meilen gab es Zäune und kleine Straßen in rechtwinkliger Anordnung.

Er schaute an sich hinunter. Dicke, muskulöse, behaarte, lange Beine, die eher menschlich aussahen, wenngleich die Füße sonderbar waren — sehr breit, oval und aus einer harten, festen Substanz. An der Vorderseite war jeder Fuß gespalten, aber er hatte keine zehenartige Kontrolle darüber. Er hob die Arme und sah, daß es Ringerarme waren — gewaltige, strotzende Muskeln unter steifen, braunen Haaren. Die Finger waren kurz und dick und schienen aus dem harten Material der Füße zu bestehen, aber sie hatten an den richtigen Stellen Gelenke und einen opponierenden Daumen. Er griff hinunter, um seine Füße zu befühlen und zu beklopfen. Sie fühlten und hörten sich dumpf und hart an. Er hatte fast keine Empfindung in Händen und Füßen, obschon der Körper sich normal anfühlte.

Seine Haut war braun und fast überall von dem kurzen, drahtigen Haar bedeckt, das ihm dunkelgrau zu sein schien. Ein Blick auf seine Lenden verriet, daß er nicht nur ein Mann war, sondern auch einer von gigantischen Proportionen. Das freute ihn, auch wenn das Ding kohlschwarz aussah. Es war das größte, das er je gesehen hatte.

Seine Brust war mit einem milchigweißen Überzug der gleichen Art von Haar bedeckt. Auch der Körper war stämmig und muskulös.

Ein Grund für seine Kurzsichtigkeit lag darin, daß seine Augen anders angeordnet waren, stellte er fest. Er hob eine Hand ans Gesicht — und fand mehr. Er betastete es vorsichtig.

Es war ein mächtiger Schädel, aber er paßte genau zu seinem Körper. Ein kurzer, dicker Hals und eine Schnauze! Keine sehr große, aber sie schob sich aus seinem Gesicht vor. Er versuchte, den Blick darauf zu richten, und sah sie, ein weißes Felloval mit platter Oberfläche, etwa zehn Zentimeter aus seinem Kopf hinausragend. Dazu gehörte eine weiche, feuchte, breite Nase — unglaublich breit, fast so breit wie die ganze Schnauze —, die er für rosig hielt, und zwei mächtige Nasenlöcher mit Klappen. An der Nase befanden sich überdies Schnurrhaare — spitz, ziemlich lang, wie überlange weiße Fichtennadeln.

Sein Mund erstreckte sich unter der Nase über die ganze Schnauze. Er tastete sie mit einer breiten, flachen, dicken Zunge ab. Viele Zähne, aber keine scharfen. Er öffnete ihn, schloß ihn, probierte Kaubewegungen aus. Er stellte fest, daß er nur seitlich hin und her kauen konnte, was ihm zeigte, daß er ein Pflanzenfresser war. Er wußte jetzt, warum man Heu und Weizen und dergleichen produzierte, und für wen das gedacht war.

Die Augen waren groß, von der Schnauze zurückgesetzt, und standen weit auseinander. Die Ohren waren sehr spitz und konnten nach Belieben bewegt werden, wie er entdeckte. Auf dem Kopf trug er ein riesiges Hörnerpaar. Sie gehörten zu seinem Schädel, daran gab es keinen Zweifel, und ragten an beiden Seiten gute fünf Zentimeter hinaus.

Er stand unsicher auf und stellte fest, daß sein Kopf sich nicht übermäßig schwer oder ungleichgewichtig anfühlte, auch wenn er ihn nicht in jede Richtung so weit drehen konnte, wie er das früher hatte tun können.

Noch etwas kam hinzu. Er stellte fest, daß er einen Schwanz an einer Art Kugelgelenk hatte, einen Schwanz, mit dem er wedeln und sogar ein wenig peitschen konnte. Er drehte sich nach hinten, ergriff ihn und betrachtete ihn neugierig.

Er wünschte sich einen Spiegel.

Schließlich setzte er sich in Bewegung, erreichte die Straße und ging dort weiter. Er wollte zur Zivilisation.

Auf einem Feld schien eine große Anzahl von Leuten zu arbeiten, aber sie waren zu weit entfernt, als daß er sie mit seiner verringerten Sehkraft genau hätte erkennen können. Er beschloß weiterzugehen, bis er eine Stadt erreichen oder auf der Straße jemandem begegnen würde.

Ungeachtet der eingeschränkten Sicht waren seine anderen Sinne auffallend verbessert. Er hörte jedes auch noch so schwache Geräusch, die Gerüche waren voller und kräftiger.

Er hatte Hunger und fragte sich, was er essen sollte. Auf den Feldern lag natürlich das Futter, aber es handelte sich ganz offenkundig um Privatbesitz, und der hohe Stacheldraht verhinderte, daß man sich beiläufig bediente.

Er erreichte eine kleine Kreuzung, an der eine Nebenstraße zu einem großen Komplex von Gebäuden führte. Sie waren einige Stockwerke hoch, mit runden Dächern aus Stroh oder einem ähnlichen Material über stabilen Holzbauten. Er fragte sich, woher das Holz stammte; von hier war es jedenfalls nicht.

Er beschloß, es dort zu versuchen. Als er das Haus fast erreicht hatte, sah er das erste Wesen seiner Art aus der Nähe.

Sie — es gab keinen Zweifel, daß es eine Sie war — glättete einen Pfluggriff mit dem Hobel. Sie war größer als er, der Kopf war kleiner, der Hals länger und biegsamer. Die Hörner sahen kürzer aus und waren weniger spitz. Vom Gesicht her glich sie wirklich einer Kuh, obwohl der Kopf nicht dazu paßte. Sie sah mehr aus wie die vermenschlichte Kuh eines Witzzeichners. Auch ihre Arme unterschieden sich auffallend von den seinen — sie waren ungeheuer lang mit einem doppelten Ellenbogen, der offenbar in alle Richtungen bewegt werden konnte. Und sie trug einen riesengroßen, lederartigen Schurz um die Hüften. Er wölbte sich vorne ein wenig, und Yulin glaubte zunächst, sie sei schwanger, aber als sie sich zur Seite drehte, konnte er erkennen, daß der Schurz ein großes, rosiges Euter verbarg, das sich knapp über der Taille befand.

Sie hatte ihn immer noch nicht gesehen. Er überlegte, ob er sich räuspern sollte, wußte aber nicht genau, wie er das anzustellen hatte, so daß er beschloß, einfach ein Gespräch anzufangen.

»Hallo?«sagte er hoffnungsvoll.

Sie zuckte zusammen und fuhr herum. Eine Täuschung war nicht möglich: Sie war entsetzt. Sie kreischte auf, ließ ihr Werkzeug fallen und lief durch eine große Tür in das Haus.

Er konnte sie im Inneren schreien hören, andere Stimmen fielen ein, aber er beschloß, auszuharren.

Was nun geschah, nahm genau dreißig Sekunden in Anspruch. Die Holztür sprang mit solcher Wucht auf, daß das ganze Gebäude erzitterte. Vor ihm stand, eine mächtige Eisenstange in den Händen, der Herr des Hauses.

Er war ein wenig kleiner als Yulin, die Hörner aber waren riesengroß, gewölbt und spitz. Der Kopf saß massiv, scheinbar ohne Hals, auf den Schultern. Der Herr des Hauses trug von den Hüften bis knapp unter den Knien einen Kilt aus weichem Stoff. Seine großen, runden Augen sprühten Feuer.

»Was, zum Teufel, willst du hier, Kuhmann?«fauchte er.»Wenn ich dir den Schädel einschlagen soll, brauchst du nur noch zehn Sekunden stehenzubleiben!«Er hob drohend die Stange.

In Yulin stieg Panik hoch, aber er beherrschte sich.

»Augenblick!«sagte er.»Ich habe nichts Böses im Sinn.«

»Was denkst du dir dann dabei, splitternackt hier aufzutauchen und anständige Frauen zu erschrecken?«fuhr ihn der andere an.

»Ich bin ein Neuzugang!«schrie Yulin.»Ich bin gerade in einem Feld aufgewacht und habe nicht die geringste Ahnung, wo oder was ich bin oder was ich tun soll!«

Der große Minotaurus dachte nach.

»Neuzugang?«schnob er.»Wir haben bisher nur zwei Neuzugänge gehabt, von denen ich weiß, und das waren beides Kühe. Daß ein Stier auftauchen soll, ergibt keinen Sinn.«

Trotzdem zögerte er und ließ die Stange ein wenig sinken.

»Ich bin Ben Yulin, ich brauche Hilfe.«

»Na gut«, sagte der Farmer.»Ich will dir das mal glauben. Aber wenn du Dummheiten machst, bringe ich dich um. Komm rein, damit wir dir wenigstens etwas anziehen und nicht die halbe Herde hinter dir herrennt.«

Yulin ging auf die Tür zu, und der Farmer hob erneut die Eisenstange.

»Nicht da hinein, Dummkopf! Verdammt noch mal! Vielleicht weißt du wirklich nicht, wie es hier zugeht. Geh um das Haus herum, ich komme nach.«

Yulin tat es und benützte einen anderen Eingang zu einem Anbau. Es war eine Wohnung — Wohnzimmer mit kleinem Kamin, ein riesengroßer Schaukelstuhl aus poliertem Hartholz, Fenster, die auf die Farm hinausgingen, und zu seiner Überraschung Kunstwerke und Lesestoff.

Die weiblichen Figuren zeigten ihm, was er vermutet hatte — die Kühe besaßen große Euter —, und ein paar von den Skizzen oder Zeichnungen waren geradezu pornographisch. Auf einem Tisch neben dem Schaukelstuhl stand ein seltsam aussehendes mechanisches Gerät, mit dem er nichts anfangen konnte. Es war ein Kasten mit horizontaler runder Platte, die offenbar mit Hilfe einer federgetriebenen Kurbel an der Seite in Drehung versetzt werden konnte. Ein kompliziertes Messinggestell auf einem Drehpunkt war an der Seite angebracht, und von der Rückseite ragte ein riesiges hornartiges Gebilde herauf. Auch vorne schien ein zweites Horn angebracht werden zu können. Yulin vermochte sich den Zweck nicht vorzustellen.

Der Mann ging in einen anderen Raum und schien mit einer Hand eine Art Holztruhe öffnen zu wollen, während er den Besucher gleichzeitig im Auge behielt. Yulin beschloß, regungslos stehenzubleiben und gar nichts zu tun.

Der andere Raum war offenkundig ein Schlafzimmer. Ein Holzrahmen war mit strohartigem Material gefüllt, außerdem gab es ein paar hingeworfene Decken und ein riesengroßes, ausgestopftes Objekt, das ein Kissen sein mochte. Yulin dachte an seine Hörner und fragte sich, was wohl geschah, wenn man sich im Schlaf umdrehte.

Der Farmer warf ihm ein großes Tuch hin, und er fing es auf. Es schien aus Rupfen zu sein, viel rauher und gröber als das, was der andere trug. Man konnte es mit einer Schnur zuziehen, und Yulin begriff schnell, wie man es anlegen mußte.

Am Boden lag ein dünner, einfacher Teppich.

»Da mußt du dich hinsetzen«, sagte der Farmer.»Ich bekomme nicht viel Besuch.«

Er ließ sich im Schaukelstuhl nieder.

»Können Sie mir sagen, wie es weitergeht?«fragte Yulin.

»Als erstes erzählst du mir von dir. Wer du bist, was du warst, wie du hergekommen bist. Wenn es vernünftig klingt, helfe ich dir.«

Yulin berichtete und ließ nur das aus, was ihn in einem schlechten Licht erscheinen ließ. Er stellte sich als Gil Zinders Gehilfe dar, den der böse Antor Trelig gezwungen hatte, seinen Willen auszuführen. Es klang überzeugend. Als er zum Absturz im Norden kam, leuchteten die Augen des Farmers auf.

»Im Norden gewesen, wie? Das ist für fast alle Leute hier im Süden etwas Romantisches. Exotisch und geheimnisvoll.«Er schien sich zu beruhigen.»Mein Name ist Cilbar«, erklärte er.»Das ist meine Farm. Sie sind in Dasheen. Das ist der Name des Landes und der Leute hier. Sie sind Pflanzenfresser, also können Sie nie verhungern, obwohl Sie als zivilisierter Mann feststellen werden, daß das rohe Zeug zwar den Hunger stillt, Gekochtes aber besser schmeckt. Das Hexagon ist nichttechnologisch, also funktionieren Maschinen hier nicht, wenn sie nicht von Muskelkraft angetrieben werden. Die Muskeln haben wir, wie Ihnen aufgefallen sein wird.«

Yulin gab es zu.

»Sie werden vielleicht bemerkt haben, daß wir nicht wie die Kühe aussehen«, fuhr der Farmer fort.»Das liegt nicht nur am Euter. Wir sind kleiner, gedrungener, haben kürzere Arme mit nur einem Ellenbogen, größere, andere Köpfe und so weiter.«

»Das ist mir aufgefallen.«

»Wir sind also wirklich anders. Warum, weiß ich nicht. Als erstes gibt es für jeweils hundert Frauen im Durchschnitt nur einen Mann. Deshalb war ich so erstaunt nicht darüber, daß Sie ein Neuzugang sind, sondern ein Mann. Verstehen Sie?«

Yulin nickte. Um so bemerkenswerter, als er in der Form einer Frau durch den Schacht gegangen war.

»Jedenfalls sind schon vom Gesellschaftlichen her die Männer wichtiger als die Frauen. Es gibt nicht so viele von uns, also sind wir nicht entbehrlich. Überdies sind wir viel klüger.«

»Wie denn das?«fragte Yulin verblüfft.

»Einige Wissenschaftler aus anderen Sechsecken wollten einmal beweisen, daß das nicht stimmt. Sie haben nur das Gegenteil nachweisen können. Die Gehirne der Frauen sind weniger entwickelt. Versuchen zu wollen, ihnen das Lesen beizubringen, ist genauso, als wollte man es mit dem Stuhl hier probieren. Einfache Tätigkeiten, ja, das machen sie stundenlang. Pflügen, ernten, Zimmermannsarbeiten, Lasten schleppen und so weiter. Sie graben auch Löcher für die Zaunpflöcke, bis man sagt, sie sollen aufhören. Aber frag sie, wie viele Löcher sie gegraben haben, und sie wissen es nicht.«

Ben Yulin begann zu begreifen.

»Sie meinen, die Frauen machen die ganze Arbeit, und die Männer führen das Kommando?«

Cilbar nickte.

»So ungefähr. Die Frauen haben diese Farm gebaut, aber nach den Plänen eines Mannes. Die Frauen arbeiten, aber die Leitung habe ich. Genauso ist es mit der Kunst, mit den Büchern — alles von Männern für Männer.«

Ben Yulin dankte dem Schacht, daß er hier herausgekommen war. Hier gefiel es ihm.

»Sie sprechen sehr gebildet«, sagte er.»Lernt man hier sehr viel?«

»Jeder Mann bekommt, was wir ihm geben können. Ich persönlich glaube ja, daß wir verwöhnte Burschen sind, und ich weiß nicht, was passiert, wenn wir einmal in einer Klemme sitzen. Ein Sohn ist wirklich etwas Besonderes. Er bekommt alles und kann tun, was ihm liegt — Kunst, Schreiben, Lehren, Handeln —, oder er übernimmt, wie ich, eine Farm, wenn der Besitzer zu alt oder zu müde wird.«

»Dann gibt es hier nur eine kleine Bevölkerung«, meinte Yulin.

»Sehr klein. Ungefähr zehntausend Farmen, mit einer Anzahl kleiner Städte, in denen selten mehr als ein paar tausend Leute leben. Eineinviertel Millionen im ganzen, mehr nicht.«

»Dann können es nur an die hunderttausend Männer sein.«

»Vermutlich weniger. Ich überschätze die Zahl vielleicht. Wir kommen nicht viel herum, wenn wir uns einmal niederlassen. Ich habe einmal in einer Schule jemanden sagen hören, es gäbe nur siebenhundertfünfzigtausend Dasheen und fünfundsiebzigtausend Männer. Kann sein.«

»Und was geschieht, wenn der junge Stier keine Talente hat und keine Farm zur Verfügung steht?«

»Sie denken an sich selber, wie? Ein Wissenschaftler in einem nichttechnologischen Sechseck! Verstehe schon. Nun, Sie entdecken irgendeine Fähigkeit, ziehen herum, während Sie auf eine Gelegenheit warten, wie ich, oder suchen sich eine Farm aus, fordern den Besitzer heraus und kämpfen mit ihm auf Leben und Tod. Der Sieger bekommt alles.«

Plötzlich begriff Yulin, warum der Farmer zu Beginn so erregt gewesen war; er hatte geglaubt, ein junger Stier fordere ihn heraus.

»Was für eine Regierungsform haben Sie?«

»Klein und einfach. Alle Farmer in einem Bezirk wählen jemanden in einen Rat. Die Städte wählen für je zehn Männer einen. Es gibt eine kleine Bürokratie, um alles zusammenzuhalten, und für dringende Fälle treffen wir uns für ein paar Tage ein- oder zweimal im Jahr in einer kleinen Stadt namens Tahlur in der Mitte von Dasheen, wo die Ausbildungsstätten sind und sich das Zone-Tor befindet.«

»Da sollte ich also hingehen«, sagte Yulin.»Wenn ich es schaffe, ohne zu verhungern oder von jemandem durchbohrt zu werden, der nicht, wie Sie, bereit ist, mich anzuhören.«

Cilbar lachte dröhnend.

»Hören Sie, für nächste Woche ist eine Ratssitzung vorgesehen. Hocal, unser Vertreter, nimmt teil. Ich gebe Ihnen zu essen, bringe Sie für die Nacht unter und stelle Sie ihm vor. Damit sollte das Problem gelöst sein.«

Yulin bedankte sich. Das ist alles zu einfach, dachte er, zu schön. Es muß einen Haken geben, und er wartete darauf, ihm zu begegnen.

Hocal war der Haken nicht, aber er hatte damit zu tun. Er reagierte sehr überrascht, als Yulin ihm vorgestellt wurde.

»Darum geht also das Ganze«, sagte er.»Ihr habt ja allerhand verpfuscht. Hätte aber nie gedacht, daß einer von euch bei uns auftaucht. Da scheint jemand mit uns darüber reden zu wollen, daß Teile von dem Raumschiff geborgen werden. Es geht die Rede von Krieg. Krieg! Ich hoffe, wir können uns heraushalten. Geographisch sitzen wir hier ziemlich im Mittelpunkt.«

»Wie war das?«fragte Yulin interessiert.»Sie meinen das andere Schiff, das hier im Süden abgestürzt ist?«

Hocal nickte und breitete auf dem Tisch eine große Landkarte aus. Er zeigte auf ein Hexagon.

»Hier sind wir in Dasheen«, sagte er.

Yulin beugte sich über die Karte. Den Text konnte er nicht lesen, aber die Anordnung war klar. Sie befanden sich in der Nähe der Äquatorbarriere, was Hocal als Cotyl bezeichnete, das zwei halbe Sechsecke an der Barriere einnahm; dann im Nordwesten Voxmir — unfreundlich und unmenschlich, versicherte ihm Hocal; im Südosten Jaq — vulkanisch und heiß wie die Hölle, zu heiß, als daß ein Dasheen dort überleben konnte; im Süden Frick — dort gab es irre, dicke Flugscheiben mit Dampfdüsen; und Qasada im Südwesten — der Beschreibung nach eine hochentwickelte technologische Zivilisation von Riesenratten.

»Da ist das Problem«, sagte Hocal und zeigte auf die Karte. Unmittelbar unter Qasada und südwestlich von Frick lag Xoda, ein Land von riesigen, bösartigen Insekten — und eine Kapsel.»Eine andere ist in Palim, darunter, Olborn im Südwesten, und, das Wichtigste, nur vier Sechsecke südlich, Gedemondas, worüber man wenig weiß. Dort ist der Antrieb gelandet, und vor allem darum geht es, wie Ihnen klar sein wird. Ich nehme an, wir werden etwas mehr über Gedemondas erfahren, bis die Sache vorbei ist.«

»Ich würde meinen, daß andere — die Ratten etwa — bessere Aussichten hätten«, sagte Yulin.

»Eigentlich schon, aber das ist ein seltsames Gebiet. Die Rassen da sind nicht so freundlich, oder sie waren, wie die Palim und wir, zu lange friedlich, um an Konflikte zu denken. Nein, die Schwierigkeiten kommen von ganz da drüben.«Er zeigte wieder weit nach Westen, weit über die andere Küste des Meeres der Stürme hinaus.»Das ist Makiem, und hier oben ist Cebu, im Osten Agitar. Makiem wird von schlauen und rücksichtslosen Politikern beherrscht, und es handelt sich um ein nichttechnologisches Hexagon wie das unsere. Cebu ist teilweise technologisch, und die Leute dort können fliegen, was besonders nützlich ist. Agitar ist hochtechnologisch, und obwohl wir nicht viel darüber haben erfahren können, scheint es dort fliegende Tiere zu geben — was bedeutet, daß ihre Reichweite nicht durch ihre Maschinen begrenzt ist — und einige natürliche Fähigkeiten im Umgang mit der Elektrizität, die über die Beschränkungen des Schachtes hinausgehen. Sie haben ein Bündnis geschlossen, um an die Teile des Raumschiffes heranzukommen.«

»Aber sie könnten sie ohne einen qualifizierten Piloten nicht nutzen, selbst wenn es ihnen gelingt, sie zusammenzubauen«, wandte Yulin ein.»Das ist keine einfache Rakete, wissen Sie.«

»Das ist uns völlig klar«, sagte Hocal und sah ihn an.»Der Krieg sollte das eigentliche Thema sein, aber wenn Sie dabei sind, wird die Diskussion wohl noch lebhafter werden.«


* * *

Sie machten sich in einer bequemen Kutsche, gezogen von sechs Dasheen-Kühen aus Hocals Herde, auf den Weg und kamen schneller voran als sie dachten.

Die müden Kühe taten außerdem alles für sie, kochten wunderbaren Eintopf, massierten sie, alles. Es gefiel Yulin sehr, bedient zu werden; er sah, wie leicht man hier verwöhnt werden konnte.

Am zweiten Tag gegen Mittag kamen sie in Tahlur an, wo die meisten Ratsmitglieder sich schon eingefunden hatten. Auch hier machten die Frauen die ganze Arbeit — Kochen, Saubermachen, Bedienen. Yulin konnte nichts selbst tun. Stets war eine Kuh da, um Essen oder Trinken zu bringen, um alles vorzubereiten und sauberzuhalten. Sie öffneten den Männern sogar die Türen.

Dabei waren sie durchaus keine Automaten; sie unterhielten sich miteinander, lachten manchmal, schmollten manchmal und benahmen sich ganz wie andere Leute.

Und die Ringe und Halsbänder. Alle Kühe trugen sie — große Ringe, eingeschweißt in ihre großen Nasen, und Messinghalsbänder mit kleinen Haken, an denen zu erkennen war, von welcher Herde die Frauen stammten. Es gab sogar Brandzeichen.

Bekamen sie ihr Dasein jemals satt, und liefen sie davon? fragte er sich. Gab es deshalb so viele Hinweise darauf, woher sie stammten?

Die Städte hatten Gilden-Herden. Es gab Gilden für die verschiedenen Arbeiterklassen, und sie lebten in Schlafhäusern.

Er machte sich Sorgen, als er dahinterkam, daß die großen Mengen Milch von den Kühen, die die Männer tranken, mehr als nur eine Beigabe waren. Die Männer konnten, wie er selbst auch, kein Kalzium hervorbringen. Sie brauchten am Tag fast vier Liter der kalziumreichen Milch, um gesund zu bleiben und Arthritis, Knochenerkrankungen, Zahnfäule und dergleichen mehr abzuwehren.

Ohne Kühe würden die Männer sterben, langsam und unter großen Qualen.

Deshalb waren sie und ihr System in anderen Sechsecken so gut bekannt. Junge Stiere, die auf eine Gelegenheit warteten, kamen oft viel herum. Sie konnten von fast jedem Gras auf Kohlenstoffbasis leben, und ihr eigenes System reinigte natürliches Wasser, so daß sie wenige Vorräte brauchten. Aber die Männer waren so sehr daran gewöhnt, bedient zu werden, und sie hingen in solchem Maß von der Milch ab, daß sie mindestens vier Kühe mitnehmen mußten.

Er wurde überall herumgereicht, Politikern vorgestellt und mußte mit über die Krise diskutieren.

Der Rat versammelte sich am nächsten Tag, man wählte einen Vorsitzenden und wandte sich der Arbeit zu.

Mit Landkarten, Diagrammen und Tabellen erläuterten die Bürokraten die Sachlage. Man neigte dazu, sich aus der Sache herauszuhalten; Dasheen ging das alles nichts an. Zu Yulins Betroffenheit wurde sogar darüber gesprochen, ob man ihn nicht verstecken, für die Dauer des Krieges einsperren oder ihn sogar töten sollte. Im Ernst dachte aber niemand daran, so zu verfahren, obwohl er sich der drohenden Gefahr völlig bewußt war.

Am dritten Tag der Konferenz war wenig entschieden, und Ben hatte das Gefühl, daß sie einfach gern diskutierten und nur unter Zwang zu einem Entschluß finden würden.

Am dritten Tag erschien jedoch jemand, der eine Wende herbeiführte. Die Leute auf den Straßen gerieten bei seinem Erscheinen in Panik, und das Wesen unternahm wenig, sie zu beruhigen, als es landete. In der Luft war es prachtvoll und schön, ein riesiger Falter mit einer Spannweite von zwei Metern. Leuchtendorangerot und braun waren die Flügel an einem schwarzen Körper, der eineinhalb Meter lang war und auf den hinteren vier seiner acht langen Fühler stand. Das Gesicht war ein großer, schwarzer Totenkopf mit riesigen, unheimlichen Augen.

Den Yaxa hatte man jedoch erwartet.

Seine Art und seine Stimme waren kalt, hart, scharf und schneidend.

Der Yaxa hatte einen Vorschlag.

»Zuerst möchte ich zusammenfassen, wie die Lage derzeit ist«, sagte er.»Ich habe auf meiner Reise hierher in Verbindung bleiben können, und es tut sich allerhand. Die Makiem haben sich mit den Cebu und Agitar verbündet. Das ist die gewaltigste Verbindung von Verstand, Opportunismus und Begabung, die diese Welt bisher gesehen hat. Boidol wird ihnen seinen Schiffsteil übergeben, um einen Kampf zu vermeiden. Man konnte ihnen das nicht ausreden. Die Djukasis wollen kämpfen, aber wir hatten keinen Erfolg mit unseren Bemühungen, die Lata zum Mitmachen zu bewegen. Die Djukasis werden schwere Verluste erleiden, und sie können nicht damit rechnen, gegen eine solche Allianz zu bestehen. Die Klusidier werden weder nachgeben noch kämpfen, und Sie wissen, was das bedeutet. Die Zhonzorp würden kämpfen, wenn sie eine Chance hätten, aber sie sind vom Denken her den Makiem sehr ähnlich. Sie schließen sich vielleicht lieber dem Bündnis an. Ihr Haß auf die Klusidier wird verhindern, daß sie die Hilfe leisten, die sie brauchen würden.«Das Wesen machte eine Pause und rückte die großen Landkarten zurecht, mit denen es seine Darstellung ergänzte.»Olborn ist ein Rätsel. Sie kennen seinen Ruf: Niemand, der dort hingeht, kommt je wieder heraus. Ein Fragezeichen, aber ich glaube nicht, daß irgendeine einzelne Rasse diesen Aufmarsch aufhalten kann. Wenn wir Glück haben, werden die Olbornier den Vormarsch verlangsamen, wie gewiß auch die Alestoli. Aber überlegen Sie, was zwei fliegende Rassen mit etwas so Einfachem wie kochendem Öl tun könnten. Nein, eine ausreichend große Streitmacht wird Gedemondas erreichen, ein Hexagon, das mit niemandem Kontakt hat, keine Botschaft besitzt und eine zu feindselige Umwelt für fast alle anderen aufweist. Selbst die Dillianer auf der anderen Seite konnten mit ihnen nicht ins Gespräch kommen. Sie kämpfen nicht — sie verschwinden einfach. Also geraten vier Kapseln und der Antrieb in die Hände der Allianz Makiem-Cebu-Agitar.«

»Aber wie wollen sie so große Teile je in ihre Heimatwelten zurückschaffen?«fragte jemand.

»Die Agitar nehmen eine Anzahl tüchtiger Ingenieure mit. Sie werden die Teile demontieren, sie durch die Zone-Tore schicken, wenn sie nicht befördert werden können, und sie in ihrem eigenen Sechseck wieder zusammenbauen.«

»Aber fliegen könnten sie das Schiff immer noch nicht.«

»Falsch«, sagte der Yaxa.»Die Makiem hatten jenes besondere Glück, das einen am freien Willen zweifeln läßt. Einer der als Pilot qualifizierten Neuzugänge, Antor Trelig, ist ein Makiem. Er kann und wird das Schiff fliegen — und außerdem kann er in den Computerkomplex, der sich auf dem Satelliten befindet, gelangen und ihn einsetzen. Verstehen Sie? Unsere bloße Existenz steht auf dem Spiel

Das wirkte. Ein Tumult brach aus, und es dauerte einige Minuten, bis der Vorsitzende die Ruhe wiederhergestellt hatte. Es war schwer zu beurteilen, aber der Yaxa schien zufrieden zu sein. Er war in einer diplomatischen Mission erschienen; seine Aufgabe bestand darin, sie zu Tode zu erschrecken.

»Aber was können wir tun?«fragte einer der Räte.»Sollen wir unsere Leute mit Schwertern und Speeren gegen die Qasada in den Kampf schicken? Die würden uns zermalmen.«

»Allerdings«, erwiderte der Yaxa.»Aber Sie verfügen über Zeit und einige Vorteile. Yaxa und Lamotien haben sich zusammengetan. Die Lamotien sind vermutlich die besten Freunde und tödlichsten Feinde auf der Schacht-Welt. Der Planet, für den sie geschaffen wurden, muß die reine Hölle sein. Sie sind metamorphe Wesen — sie können jede Form annehmen, die sie sehen können, eingeschränkt allein dadurch, daß sie ihre Masse nicht verändern können. Selbst das ist kein echter Nachteil, weil sie klein sind. Sie verbinden sich miteinander, um größere Organismen zu erzeugen. Zwanzig von ihnen könnten einen Dasheen so überzeugend nachbilden, daß Sie den Unterschied nicht erkennen könnten. Und es gibt in einem hochtechnologischen Sechseck über zehn Millionen Lamotien. Zusammen mit ihnen werden wir in Kürze die hochwichtige Brückenkapsel des abgestürzten Raumschiffs aus Teliagin holen. Dann werden die Lamotien sich in Flugwesen verwandeln, und wir fliegen zur Insel Nodi im Meer der Stürme und bergen eine zweite Kapsel. Dann überqueren wir den Ostwinkel nach Qasada. Durch das Einfiltern der Lamotien und ihrer Technologie, durch die Flugfähigkeit und die ausgebildeten Kämpfer der Yaxa, unterstützt vielleicht durch Stützpunkte und Personal in Dasheen, können wir die Qasada und die Xoda überwältigen, unsere beiden größten Probleme. Palim steht noch im Zweifel; es könnte sein, daß man uns durchläßt. Dann sind wir in Gedemondas, einem Sechseck, in dem wir Yaxa uns schwertun werden, in welchem aber eine Dasheen-Streitmacht, ergänzt durch Lamotien, sehr wirksam operieren könnte. Brauche ich noch zu betonen, daß uns das die Brücke und den Antrieb verschaffen würde?«Er sah die Gesichter der Reihe nach an.»Und Sie haben Ben Yulin, einen weiteren Piloten, der ebenfalls Zugang zum Computerkomplex hat.«

Wieder gab es einen Aufschrei. Wie konnten die Yaxa das gewußt haben? Sie ächzten. Das veränderte alles!

Die Yaxa vermochten nicht zu lächeln, aber die innere Zufriedenheit war unübersehbar.

Die Debatte zog sich hin, doch es war offenkundig, daß der Ausgang vorherbestimmt war. Auch Yulin meldete sich zu Wort und versicherte, daß er das Schiff steuern konnte, wenn sich wenigstens eine Kapsel zwischen Brücke und Antrieb befand, und daß er auch zu dem Computer Obie vordringen konnte.

Er genoß es, daß alle persönlichen Animositäten begraben waren. Er gehörte jetzt dazu.

»Er muß seine eigene Herde bekommen«, erklärte ein einflußreicher Rat, und die anderen stimmten zu.

»Zuerst nur eine kleine, später alles, was er will«, fügte ein anderer hinzu.

»Wie wäre es mit je einer aus den fünf Dienstgilden in der Stadt?«schlug ein dritter vor.»Das ist praktischer, als ihm Farmarbeiterinnen zu geben.«

Yulin bekam also fünf Töchter, je eine von den Gilden der Metallarbeiter, der Stadtversorgung, der Köche und Serviererinnen, der Bauarbeiter und Haushälterinnen — eine ideale Mischung.

Von der Metallarbeitergilde bekam er auch Brandzeichen, Ring und Halsband. Seine Herde bestand nur aus jungen, jungfräulichen Kühen.

Töchter hatten, wie er erfuhr, Nummern statt Namen, bis sie einer Herde zugeteilt wurden. Der Mann, der stets ›Herr‹ genannt wurde, gab ihnen bei einer Zeremonie die Namen, die er aussuchte, worauf der Bund besiegelt wurde. Dann wurde das Brandzeichen angebracht, ebenso Ring und Halsband. Die ganze Zeremonie nahm fünf Tage in Anspruch.

Er genoß jede Minute.

Inzwischen trafen sich Ausschüsse, Yaxa kamen und gingen, und ein Prozentsatz jeder Herde im Land wurde für militärische Ausbildung ausgehoben. Das störte manche Männer, die sich überlegten, welche Folgen es haben mochte, wenn so viele Kühe die Kunst des Tötens lernten, aber es stand einfach zuviel auf dem Spiel. Was die Yaxa anging, so schien ihnen diese Sorge nur Belustigung zu bereiten.

Die Yaxa waren weiblich, wie Yulin erfuhr. Nach der Paarung fraßen sie den männlichen Partner auf. Es war beinahe die Umkehrung von Dasheen, und er wurde die Sorge nicht los, daß das Auswirkungen haben konnte.

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