Nikki Zinder starrte die regungslose Gestalt verwundert an.
»Sie ist niedlich«, sagte sie sachlich.»Und sie hat einen Schweif.«
Der Aufseher nickte, während er Mavra die Pistole abnahm und zurückwich. Es war einer der weiblich aussehenden Männer. Er glich den Frauen in den oberen Stockwerken, abgesehen von zwei Punkten: den Genitalien und der Größe, die bei ihm über einsneunzig betrug, mit einem entsprechend kräftigen Körper.
»Bleib auf dem Bett, Nikki«, warnte er.»Sie kommt zu sich, und ich will nicht, daß dir etwas passiert.«
Mavra spürte ein Prickeln, als kehre die vorübergehend unterbrochene Durchblutung zurück. Ihre Augen schmerzten, und sie vermochte zu blinzeln, immer wieder, bis Tränen der Erleichterung rannen. Sie war mit offenen Augen erstarrt.
Sie schüttelte ein wenig den Kopf, um klar zu werden, dann sah sie den Aufseher an.
»Also gut, Frau — oder was Sie sonst sein mögen —, was machen Sie hier und wie sind Sie hergekommen?«fragte der Aufseher.
Mavra hustete ein wenig.
»Ich bin Mavra Tschang«, entgegnete sie.»Ich bin beauftragt worden, Nikki von Neu-Pompeii vor dem großen Test fortzuholen.«
Es hatte keinen Sinn zu lügen.
»Mein Vater hat Sie geschickt, nicht wahr?«sagte Nikki stockend.
»In gewisser Beziehung«, erwiderte Mavra.»Ohne Sie kann man keinen Druck auf ihn ausüben.«
»Sie Miststück!«sagte der Aufseher zornig.»Sie sind eine dreckige Ratte! Ihr Vater hätte Sie nie geschickt! Er weiß, daß Nikki dem Schwamm erliegt, wenn sie von hier fortgeht!«
Nikkis Kühnheit und die offenkundige Sorge des Aufsehers munterten Mavra auf. Wie oft in Entführungsfällen hatten Bewacher und Gefangene sich angefreundet. Daraus konnte man manchmal Nutzen ziehen. Sie beschloß, es mit der ganzen Wahrheit zu versuchen. Die Zeit lief ohnehin ab, und sie hatte wenig zu verlieren.
»Hören Sie«, sagte sie,»ich will ganz offen sein. Der Versuch wird nicht so laufen, wie Trelig glaubt. Zinder hat ihm einiges vorenthalten. Wenn die Anlage eingeschaltet wird, besteht die große Gefahr, daß sie die kleine Welt hier zerstört. Ich habe genug Schwamm in meinem außerhalb geparkten Kreuzer, um ihr zu geben, was sie braucht, und ich kann ein Gegenmittel herstellen.«
»O gut! Aber Sie müssen Daddy retten!«rief Nikki.
Der Aufseher überlegte kurz, aber bevor er reagieren konnte, kamen schwere Schritte die Treppe herunter, und eine Gestalt stürmte mit gezogener Pistole in den Raum.
Sie war volle zwei Meter groß, muskulös, dicht behaart und schreckenerregend. Der Mann sah, daß der Aufseher die Lage beherrschte, und blickte auf Mavra hinunter.
»Ah, Halbmensch, du hast die Beute erwischt«, knurrte er mit der tiefsten, sonorsten Baßstimme, die Mavra je gehört hatte.
Nikkis Miene verriet Entsetzen.
»Aus dem Weg, Ziggy!«sagte der Aufseher leise.
Der große Mann zog die Nase hoch.
»Ach, Mist! Was kann das winzige Ding jetzt noch anstellen? Ich bringe sie auf die harte Weise um und stoße ihr ein Loch in den Bauch«, prahlte er.
»Aus dem Weg!«wiederholte der Aufseher.
Statt dessen ging der andere auf Mavra zu, streckte seine riesige behaarte Hand aus, hob ihr Gesicht und strich ihr über Wange und Hals.
Mavra ballte die linke Hand und spürte, wie das Gift in ihre Fingerspitzen stieg. Alle fünf für ihn, in zwei Sekunden, dachte sie.
Sie wollte handeln, als sie plötzlich ein schrilles Heulen hörte. Der große Mann schrie auf, schien zu erstarren und stürzte zu Boden. Mavra sprang schnell zur Seite, um nicht unter dem Muskelberg begraben zu werden.
Der Aufseher seufzte und richtete die Pistole wieder auf Mavra. Sie war zu betäubt gewesen, um den Augenblick zu nutzen.
»Ist das wahr, was Sie sagen?«fragte der Aufseher.»Sie haben Schwamm und auch ein Gegenmittel?«
Mavra nickte stumm.
»Auffangen!«sagte der Aufseher und warf ihr die Pistole zu.
Sie fing sie auf und steckte sie unsicher ein.
»Sie wissen nicht zufällig, wie spät es ist?«fragte sie tonlos. Der Aufseher blickte auf eine Stelle an der Rückseite seines Halfters.
»Elf Uhr vierzehn«, erwiderte er.
»Dann los!«sagte sie scharf.»Wir haben genau noch sechzehn Minuten, um ein Raumschiff zu stehlen.«
Unterwegs bewegte Mavra den Aufseher, der Renard hieß, dazu, über Funk durchzugeben, daß die Flüchtige gefaßt sei und im Aufseherquartier festgehalten werde. Trelig bestätigte den Empfang und befahl, sie zu ihm zu bringen.
Sie näherten sich dem Raumflughafen. Nikki war erst einige Tage zuvor von Ben behandelt worden, war aber immer noch sehr dick und langsam. Es war nicht zu ändern; ohne sie konnte Mavra nicht starten.
Auf dem Raumflughafen war alles still.
»Eine Aufseherin, Marta, im Gebäude, das ist alles«, sagte Renard.»Trelig sagt sich, daß Sie ohnehin abgeschossen werden, selbst wenn Sie ein Raumschiff stehlen könnten. Aber Sie kommen an den Robotern vorbei, ja?«
»Kommt ja reichlich spät, die Frage«, meinte Nikki.
»Ja, keine Sorge«, versicherte Mavra.»Wenn Nikki an Bord ist, erhalte ich den Code. Posthypnotisch.«Hoffe ich, dachte sie.
»Ich gehe allein hinein«, schlug Renard vor.»Mich verdächtigt Marta nicht.«Er fügte nach einer Pause hinzu:»Sie ist eigentlich auch kein übler Mensch. Wir könnten sie mitnehmen.«
»Wir sind schon mehr, als ich erwartet habe«, gab Mavra zurück.
»Niemand kommt mehr mit. Betäuben Sie sie, wenn ich mich auf den Waffendetektor stürze. Dann steigen Sie ins Schiff. Erledigen Sie die beiden Stewards, wenn Sie können.«
»Kein Problem«, sagte Renard.»Sie sind selbst wie Roboter. Alles, was außerhalb ihrer Erfahrung liegt, bewältigen sie nicht.«
»Die Zeit vergeht«, knurrte Mavra.»Los!«
Sie zählte bis dreißig, nachdem Renard im Terminal verschwunden war, dann ging sie darauf zu, Nikki hinter sich, zog die Pistole und zerschoß den Kontrollkasten am Waffendetektor.
»Jetzt, Nikki! Zur Tür!«
Nikki rührte sich nicht.
»Nein!«sagte sie störrisch.»Nicht ohne meinen Vater!«
Mavra seufzte, drehte sich um und betäubte Nikki mit dem Nagel ihres rechten Zeigefingers.
»He! Wa—«, stieß das Mädchen hervor, dann erstarrte sie und entspannte sich wieder, ohne noch denken zu können.
»Du läufst hinter mir her, so schnell du kannst«, sagte Mavra zu Nikki.»Nicht stehenbleiben, bis ich es sage!«Und damit hetzte sie zum Eingang. Nikki folgte ihr, so gut sie konnte.
»Du wiegst zehn Kilo!«schrie Mavra sie an.»Los jetzt!«
Nikki wurde schneller, und sie lief weitaus behender durch die Tür, als man von ihr hätte erwarten können.
Mavra ließ sich nur eine Sekunde Zeit, einen Blick auf die bewußtlos am Boden liegende Aufseherin zu werfen, dann wandte sie sich Nikki zu.
»Ins Schiff!«befahl sie und drehte sich besorgt um.»Renard!«
Aus dem abseits stehenden Schiff drangen zwei heulende Geräusche, und einen Augenblick später sah sie Renard einen Neuen Harmonisten herauszerren.
»Los, Nikki!«sagte sie, und das Mädchen folgte ihr wie ein dressierter Hund.
Renard schleppte schweratmend die zweite Gestalt heraus und winkte ihnen.
Es war Treligs Privatkreuzer, komplett mit Schlafzimmer, Salon und sogar einer Bar ausgestattet. Renard schnallte Nikki in einem der Sessel des Salons an, während Mavra nach vorne ging. Ein kurzer Strahl aus der Pistole zerstörte das kleine Schloß, und Mavra öffnete die Tür zum Cockpit.
Renard hastete ihr nach und schnallte sich im Copiloten-Sessel an. Mavra war binnen Sekunden an der Arbeit, betätigte Schalter, tastete Anweisungen in den Computer ein und bereitete einen Notstart vor.
»Festhalten!«schrie sie Renard zu, als das Schiff vibrierte.»Es wird rauh!«
Sie drückte auf die Taste ›NS‹, das Raumschiff löste sich und fegte hinauf.
»Bitte den Code«, sagte eine mechanische Stimme freundlich aus dem Lautsprecher.»Den korrekten Code binnen sechzig Sekunden, oder wir zerstören das Schiff.«
Mavra riß verzweifelt den Kopfhörer an sich, versuchte ihn aufzusetzen, aber er war so groß, daß er nicht hielt. Sie schaltete das Mikrophon ein und hielt es an den Mund.
»Code kommt«, sagte sie hinein und verstummte. Los! Los! dachte sie drängend. Nikki ist an Bord, und wir sind unterwegs! Gib mir den verdammten Code!
»Geben Sie um Himmels willen den Code durch!«schrie Renard.
»Dreißig Sekunden«, sagte die Robotwache höflich.
Plötzlich hatte sie ihn. Die Wörter schossen in ihr Gehirn, ganz plötzlich, so sonderbar, daß sie für Augenblicke an der Richtigkeit zweifelte. Sie atmete tief ein.
»Edward Gibbon, Band eins«, sagte sie.
Keine Antwort. Sie hielten gemeinsam den Atem an. Die Sekunden tickten vorbei. Fünf… vier… drei… zwei… eins… null…
Nichts geschah. Renard pfiff durch die Zähne und sank in sich zusammen. Mavra begann zu zittern und konnte eine halbe Minute damit nicht aufhören. Sie fühlte sich völlig ausgelaugt.
Sie saßen stumm da, während sie mit vollem Schub weiterflogen. Endlich drehte Mavra sich dem fremden Mann zu, der wie eine Frau aussah, und fragte ihn fast im Flüsterton:»Renard, wie spät ist es?«
Renard zog die Brauen zusammen und drehte sein Halfter um.
»Zwölf Uhr zehn«, erwiderte er.
Mavra fühlte sich besser. Sie hatten eine große Chance, es rechtzeitig zu schaffen. Wenn Treligs Raumschiff dazu nicht imstande war, gab es überhaupt keine andere Möglichkeit.
Dann kam plötzlich Dunkelheit. Mavras Augen konnten sich ihr nicht mehr anpassen, ebensowenig hatte sie das Gefühl, von einem Schiff umgeben zu sein. Sie befanden sich in einem tiefen schwarzen Loch und stürzten immer schneller hinein.
Renard schrie auf, ebenso Nikki, in klagendem Ton irgendwo hinter ihnen.
»Verdammter Mist!«sagte Mavra angewidert.»Sie haben den verdammten Test vorgezogen!«