Lata

Eine weitere schwindelerregende Fahrt auf den Krommiern hatte Mavra Tschang nach Lata selbst geführt.

Es war ein lebendig gewordenes Märchenland. Die Lata hatten keine Städte als solche; sie lebten auf bewaldeten Hügeln und in Waldlichtungen. Kleine Ladenansammlungen ermöglichten den notwendigen Handel und sorgten für Dienstleistungen, und es gab eine Reihe von Universitäten und Forschungsstätten sowie Institute für Kunsthandwerker.

Die Lata waren von Natur aus eine künstlerisch begabte Rasse und zugleich auch die einzige asexuelle zweigeschlechtliche Rasse, die Mavra je gesehen hatte. Abgesehen von den Farben, sahen sie für sie alle gleich aus; alle schienen einen Meter große Mädchen von neun oder zehn Jahren zu sein, alle im Besitze musikalischer Glockenstimmen. Es war ein merkwürdiges Gefühl für sie, die in einer Welt von Riesen immer so klein gewesen war, plötzlich weit und breit die größte Person zu sein.

Sie wurden alle ohne Geschlecht geboren; nach fünfzehn oder zwanzig Jahren reiften sie zu biologischen Frauen heran, jede fähig, ein einziges Ei zu legen, das sich innerhalb weniger Tage selbst ausbrütete. Im Verlauf von zwei Jahren verwandelten sie sich dann. Die weiblichen Organe verschwanden und machten männlichen Platz, und für den Rest ihres Lebens waren sie dann Männer.

Sie fragte Vistaru, warum es so viele Frauen gebe, wenn dem so sei. Diese hatte gelacht.

»Wenn man sich verwandelt, wird man älter«, hatte sie erwidert.

Mavra erfuhr schließlich, daß Frauen viel langsamer alterten als Männer; das holte einen natürlich früher oder später ein, aber die meisten schoben es hinaus, so lange sie konnten.

Deshalb schienen die Männer hier die Führenden zu sein. Sie waren älter und hatten mehr Erfahrung.

Die Stacheln, die wirklich töten konnten — sie beschrieben den Gifterzeugungsprozeß als etwas Orgasmusähnliches —, waren ihre stärkste Waffe gegen Nachbarn, die in den winzigen, schwachen Geschöpfen leichte Beute zu erkennen vermeinten. Das Gift lähmte, je nach Größe und Gewicht des Opfers, für lange Zeit, und bei einer sehr großen Menge konnte es töten. Kaum ein Dutzend Rassen hatten sich dagegen als immun erwiesen, und die Lata hatten ihre Stärke schon lange nicht mehr unter Beweis stellen müssen.

Mavra bekam neue Kleidung, man reinigte ihren Gürtel, bestaunte die vielen Fächer und Gerätschaften, gab ihr neue Stiefel, schnitt, kämmte und frisierte ihr Haar. Das Gift in ihren Fingernägeln faszinierte sie, und als sie es auf Wunsch der Lata an einer Freiwilligen ausprobierte, stellte sich heraus, daß der Hypnosestoff bei den Wesen wirkte, ganz anders als bei den Zyklopen.

Sie lebte mehrere Wochen bei ihnen; es war eine friedliche Zeit. Die Ärzte statteten sie mit einem Übersetzer aus, einem kleinen Kristall aus dem Norden, der ihr schmerzlos eingepflanzt wurde. Damit würde sie, wie man ihr sagte, alle Rassen auf der Sechseckwelt verstehen können, und jeder hier würde sie auch verstehen. Die Geräte waren weder billig noch leicht zu beschaffen; die Operation war von Serge Ortega vorgeschlagen und bezahlt worden.

Sie war gleichermaßen erfreut und enttäuscht: erfreut, weil sie jetzt diese wunderbaren Leute verstehen und mit ihnen sprechen konnte; enttäuscht, weil ihre Sprache in der Übersetzung das herrliche, glockenreine Klingen verlor. Überdies machte der Übersetzer ihr klar, daß sie eine Gefangene war.

Vistaru erklärte ihr das Problem.

»Sie sind Pilotin«, sagte sie.»Die Allianz Yaxa-Lamotien-Dasheen ist im Anmarsch, ebenso das Bündnis Makiem-Cebu-Agitar. Wir wollen keinen Krieg. Wir wollen, daß das Raumschiff zerstört wird. Aber wir müssen jemanden in der Nähe haben, der sich damit auskennt, für alle Fälle — solange die Drohung bestehenbleibt.«

Solange die Drohung bestehenbleibt? Mavra fragte sich, wie lange das der Fall sein würde.

Die Landkarte verriet es, zusammen mit den täglichen Kriegsmeldungen. Die großen Sphinxen von Boidol hatten ihre Kapsel gegen Frieden eingetauscht und waren sogar soweit gegangen, sie zur Grenze nach Agitar zu schaffen.

Im Norden hatten die riesigen, zornigen Falter der Yaxa kochendes Öl auf Dörfer und Wälder von Teliagin gegossen, und die Lamotien verbreiteten Panik, als die dortigen Zyklopen sich hier und dort in fünfzig oder mehr kleine Wesen auflösten, die hinter den Linien alles zerstörten. Die Teliagin, primitiv und angstgetrieben, ergaben sich rasch. Sie ließen zu, daß die Yaxa und Lamotien die Brückenkapsel über die Grenze Lamotiens schleppten, und halfen sogar mit. Die Yaxa waren bereits mit ihren großen Flügeln unterwegs zum Meer der Stürme — zuerst zur Insel Nodi, einem friedlichen Sechseck, bewohnt von einer Rasse, die als wandelnde Riesenpilze beschrieben wurde —, um eine ins Meer gestürzte Kapsel in Empfang zu nehmen, heranbefördert von den delphinartigen Porigol nebenan. Dort, an den Ufern von Nodi, demontierten die Lamotien-Techniker die Kapsel, und die hilflosen Nodi mußten zulassen, daß die Teile durch ihr Tor nach Lamotien gebracht wurden. Das nächste Ziel für die Yaxa-Allianz würde Qasada sein.

Im Süden leisteten die Djukasis heftigen Widerstand, aber den Meldungen zufolge stand ihre Niederlage vor der Tür. Die Körbe der großen Bienen wurden von den pterodaktylusartigen Cebu angegriffen, während Agitar auf großen Pegasi die Djukasis aus der Luft mit ihren Tastern überfielen.

Mavra fragte immer wieder, warum die Lata den Djukasis nicht halfen, mit denen sie seit Jahrhunderten Freundschaft verband, aber die Lata schüttelten nur die Köpfe und gaben immer dieselbe Antwort.

»Wenn wir eine Armee allein schädigen, ohne der anderen Verluste beizubringen, hat die andere nur um so größere Möglichkeiten, ihr Ziel zu erreichen. Wir müssen neutral bleiben, bis wir etwas unternehmen können, das nicht nur einen Krieg, sondern alle Kriege beendet.«

Inzwischen fühlte Mavra sich immer mehr als Gefangene in einem Feenland.

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