Kapitel 10

Wir waren vor dem Haus und sprachen mit Polizeibeamten. Ich konnte mich nicht erinnern, die Einfahrt hinaufgegangen zu sein.

Unser Erscheinen am Schauplatz war für die versammelten Rettungseinheiten ein Schock gewesen, aber ein willkommener. Sie hatten in den Trümmern nach unseren Überresten gesucht.

Sie sagten uns, daß die Explosion um vier Uhr dreißig früh erfolgt war; das Wumm und der Nachhall hatten das halbe Dorf aufgeweckt, die Druckwellen hatten Fensterscheiben zerspringen und Hunde in Geheul ausbrechen lassen. Mehrere Leute hatten die Polizei verständigt, doch als sie das Dorf erreichte, schien alles ruhig zu sein. Niemand wußte, wo die Explosion stattgefunden hatte. Die Polizei fuhr bis Tagesanbruch die nähere und weitere Umgebung ab, und da erst sah jemand, was mit Quantum geschehen war.

Die vordere Dielenwand mitsamt der antiken Eingangstür war auf die Einfahrt geschleudert worden, und der Mittelteil des ersten Stocks war in die Halle herabgestürzt. Aus allen Fenstern waren die Scheiben verschwunden.

«Auf der Rückseite ist es leider noch schlimmer«, sagte ein Polizist unerschüttert.»Vielleicht kommen Sie mal mit, Sir. Zumindest können wir dort Bescheid sagen, daß es keine Toten gibt.«

Malcolm nickte mechanisch, und wir folgten dem Polizisten nach links, auf die Seite zwischen Küche und Garage, dann durch den Garten und an der Eßzimmerwand entlang. Der Schock, als wir auf die Terrasse kamen, war trotz der Vorahnung entsetzlich und widerwärtig.

Wo das Wohnzimmer gewesen war, ergoß sich ein Berg von durcheinandergewürfelten staubigen Ziegeln, Putz, Balken und zerschmettertem Mobiliar auf das Gras hinaus. Malcolms Suite, die sich über dem Wohnzimmer befunden hatte, war verschwunden und in dem Chaos untergegangen. Die Mansardenzimmer, die über seinem Kopf gewesen waren, waren ebenfalls eingestürzt. Das Dach, das von vorn fast unbeschädigt ausgesehen hatte, trug auf der Rückseite keine Ziegel mehr, so daß die massiven alten Sparren gegen den Himmel standen wie abgenagte Rippen.

Mein eigenes Zimmer hatte neben Malcolms Schlafzimmer gelegen: Alles, was davon übrig war, waren ein paar zersplitterte Fußbodenbretter, ein Streifen Deckenstuck und ein schiefer Kaminsims an einer geborstenen Wand, die ins Leere abfiel.

Malcolm begann zu zittern. Ich zog meine Jacke aus und legte sie ihm um die Schultern.

«Wir haben kein Gas«, sagte er dem Polizisten.»Meine Mutter hat es vor sechzig Jahren abstellen lassen, weil sie Angst davor hatte.«

Ein leichter Wind wehte hin und wieder, genug, um Malcolms Haar zu heben und es zu zerzausen. Er sah auf einmal gebrechlich aus, als könnte die wirbelnde Luft ihn umwerfen.

«Er braucht einen Stuhl«, sagte ich.

Der Polizist deutete hilflos auf das Schlachtfeld. Keine Stühle mehr übrig.

«Ich hole einen aus der Küche. Kümmern Sie sich um ihn.«

«Es geht schon«, sagte Malcolm schwach.

«Die Außentür zur Küche ist verschlossen, Sir, und wir können Ihnen nicht erlauben, vorn hineinzugehen.«

Ich holte den Schlüssel hervor, zeigte ihn ihm und war schon fort und durch die Tür, bevor er mich aufhalten konnte. Die leuchtend gelben Wände der Küche standen noch, aber die Tür vom Flur war aufgeflogen und hatte eine Gletscherzunge aus

Ziegeln und Staub eindringen lassen. Überall Staub, wie ein Schleier. Putz war von der Decke gefallen. Alles Glas, alles Porzellan im Raum war zersprungen. Moiras Geranien, von den Wandbrettern geworfen, überfluteten als roter Abschiedsgruß ihr vollelektrisches Reich.

Ich nahm Malcolms Lehnstuhl aus Kiefernholz, das einzige Stück, von dem er sich bei allen Neuerungen nicht getrennt hatte, und brachte ihn raus zu ihm. Mit einer Miene, als nähme er ihn gar nicht wahr, ließ er sich hineinsinken und hielt eine Hand vor den Mund.

Feuerwehrleute und andere zerrten an beweglichen Trümmerteilen, doch ihr Arbeitstempo war zurückgegangen, seit sie gesehen hatten, daß wir lebten. Einige von ihnen kamen zu Malcolm herüber, bezeigten Mitgefühl, wollten vor allem aber Auskünfte, beispielsweise, ob wir sicher seien, daß niemand anders im Haus gewesen war.

So sicher, wie wir sein konnten.

Hatten wir irgendwelches Gas im Haus gelagert? Flaschengas? Butan? Propan? Äther?

Nein.

Wieso Äther?

Man konnte ihn zur Kokainherstellung brauchen.

Wir sahen sie verständnislos an.

Sie hatten offenbar schon entdeckt, daß kein Haushaltsgasanschluß vorhanden war. Sie fragten nach anderen Möglichkeiten, weil es dennoch nach einer Gasexplosion aussah.

Wir hatten keinerlei Gas gehabt.

Hatten wir explosive Stoffe irgendwelcher Art gelagert?

Nein.

Die Zeit schien aus den Fugen.

Frauen aus dem Dorf hatten wie bei allen Katastrophen Thermosflaschen mit heißem Tee für die arbeitenden Männer gebracht. Sie gaben Malcolm und mir welchen davon und trieben eine rote Wolldecke für Malcolm auf, so daß ich meine Jacke in der kalten, böigen Luft wieder anziehen konnte. Über uns hing eine graue Wolkenbank, das Licht war grau wie der Staub.

Ein dichter Ring von Leuten aus dem Dorf stand im Garten um den Rasen herum, und mit jeder Minute kamen noch mehr über die Felder und durch das Gartentor. Niemand verscheuchte sie. Viele machten Fotos. Zwei der Fotografierenden sahen aus wie von der Presse.

Ein Polizeiwagen nahte, bahnte sich mit immer lauter heulender Sirene einen Weg durch die verstopfte Straße. Er heulte die Einfahrt hinauf und verstummte, und wenig später kam ein offenbar ranghoher Mann, der nicht uniformiert war, um das Haus herum und übernahm das Kommando.

Als erstes stoppte er alle Arbeit an den Trümmern. Dann inspizierte er den Schauplatz und machte sich Notizen. Danach sprach er mit dem Feuerwehrhauptmann. Schließlich kam er zu Malcolm und mir herüber.

Untersetzt, mit schwarzem Schnurrbart, sagte er wie zu einem alten Bekannten:»Mr. Pembroke.«

Malcolm sagte entsprechend:»Kommissar«, und das Beben, das er nicht aus seiner Stimme heraushalten konnte, war für jedermann zu hören. Der Wind legte sich für eine Weile, doch Malcolms Zittern ging unter der Decke weiter.

«Und Sie, Sir?«fragte mich der Kommissar.

«Ian Pembroke.«

Er schürzte die Lippen unter dem Schnurrbart und betrachtete mich. Vermutlich war er der Mann, den ich am Telefon gesprochen hatte.

«Wo waren Sie gestern nacht, Sir?«

«Mit meinem Vater in London«, sagte ich.»Wir sind gerade… zurückgekommen.«

Ich schaute ihn fest an. Es gab eine Menge zu sagen, aber ich würde nichts überstürzen.

Er sagte neutral:»Wir werden Sprengstoffexperten

hinzuziehen müssen, da der Schaden hier nach vorläufiger Prüfung und in Ermangelung irgendwelchen Gases offenbar durch einen Sprengkörper verursacht worden ist.«

Warum sagte er nicht Bombe, dachte ich gereizt. Warum nicht das Kind beim Namen nennen? Falls er irgendeine Reaktion von Malcolm oder mir erwartet hatte, blieb sie wohl aus, da wir beide schon im Moment, als wir den Fuß auf die Einfahrt gesetzt hatten, zu dem gleichen Schluß gekommen waren.

Wenn das Haus nur gebrannt hätte, wäre Malcolm umhergesaust, hätte Anweisungen erteilt und gerettet, was er konnte, bestürzt zwar, aber voller Energie. Die Folgerungen, die sich aus einem Bombenanschlag ergaben, hatten ihn zu zitternder Mattigkeit reduziert: die Folgerungen und die Tatsache, daß er, wenn er in seinem eigenen Bett geschlafen hätte, nicht mehr aufgestanden wäre, um zu baden, die Sporting Life zu lesen, Travellerschecks auf seiner Bank zu holen und im Ritz zu frühstücken.

Und das gleiche galt für mich.

«Ich sehe, daß Sie beide unter Schock stehen«, stellte der Kommissar fest.»Es ist offensichtlich unmöglich, sich hier zu unterhalten, darum würde ich vorschlagen, Sie kommen mit zur Polizeistation. «Er drückte sich behutsam aus, ließ uns zumindest theoretisch die Freiheit abzulehnen.

«Was wird mit dem Haus?«sagte ich.»Es ist rundum offen. Abgesehen von dem großen Loch sind sämtliche Fenster zersprungen. Es sind sehr viele Sachen drin… Silber, die Unterlagen meines Vaters in seinem Büro. ein Teil der

Möbel.«

«Wir lassen eine Streife hier«, sagte er.»Wenn Sie wünschen, besorgen wir jemand, der die Fenster vernagelt, und benachrichtigen ein Bauunternehmen, das über eine genügend große Plane für das Dach verfügt.«

«Schicken Sie mir die Rechnung«, sagte Malcolm müde.»Die betreffenden Firmen werden zweifellos ihre Kostenforderungen präsentieren.«

«Trotzdem danke«, sagte ich.

Der Kommissar nickte.

Eine Beerdigung für Quantum, dachte ich. Sargfenster, Leichentuchdach. Wahrscheinlich würden die Überreste auch unter die Erde gebracht. Selbst wenn sich irgend etwas von der Struktur des Hauses als hinreichend intakt erwies — würde Malcolm die Kraft haben, es wiederaufzubauen, darin zu wohnen und sich zu erinnern?

Er stand auf, die Wolldecke um sich geschlungen, wirkte um zahllose Jahre gealtert, die Wangen waren ausgehöhlt von Resignation. Mit Rücksicht auf den wackligen Zustand seiner Beine gingen Malcolm, der Kommissar und ich langsam an der Küche vorbei, Richtung vorderer Eingang.

Die Krankenwagen und auch einer der Feuerwehrwagen waren abgefahren, doch das Seil vor dem Eingangstor war überrannt worden, und der Vorgarten war voller Leute, die ein junger Polizist immer noch vergebens zurückzuhalten suchte.

Eine Gruppe an der Spitze kam auf uns zugelaufen, sobald wir auftauchten, und mit einem Gefühl der Unwirklichkeit erkannte ich in ihnen Ferdinand, Gervase, Alicia, Berenice, Vivien, Donald, Helen. Ich verlor die Übersicht.

«Malcolm«, sagte Gervase laut und bremste vor uns ab, so daß auch wir anhalten mußten.»Du lebst!«

Ein winziger Funke Humor erschien in Malcolms Augen ob dieser unwiderlegbaren Feststellung, doch er hatte keine Möglichkeit zu antworten, da die anderen in fragendes Geschrei ausbrachen.

Vivien sagte:»Ich habe aus dem Dorf gehört, Quantum sei in die Luft geflogen und ihr wärt beide tot. «Ihr gepreßter Tonfall enthielt eine Beschwerde darüber, daß sie falsch informiert worden war.

«Ich auch«, sagte Alicia.»Drei Leute riefen an… deshalb bin ich gleich gekommen… natürlich, nachdem ich Gervase und die anderen verständigt hatte. «Sie sah zutiefst erschrocken aus, aber das galt für sie alle — ihre Gesichter spiegelten zweifellos, was sie in meinem sahen, doch zusätzlich litten sie unter der Verwirrung durch die Falschinformation.

«Dann kommen wir alle her«, sagte Alicia,»und stellen fest, daß ihr nicht tot seid. «Sie hörte sich an, als wäre das auch falsch.

«Was ist passiert?«fragte Ferdinand.»Seht euch bloß Quantum an.«

Berenice sagte:»Wo wart ihr denn beide, als es explodiert ist?«

«Wir dachten, ihr wärt tot«, sagte Donald fassungslos.

Noch mehr Gestalten drängten sich durch die Menge, ihre Münder vor Entsetzen geöffnet. Lucy, Edwin und Serena, laufend, stolpernd, die Augen abwechselnd auf dem lädierten Haus und auf Malcolm und mir.

Lucy weinte:»Ihr lebt, ihr lebt!«Tränen liefen an ihren Wangen herab.»Vivien sagte, ihr wärt tot.«

«Weil ich das so gehört habe«, verteidigte sich Vivien. Dämlich… Joyces Einschätzung kam mir wieder in den Sinn.

Serena wankte, kreidebleich. Ferdinand legte den Arm um sie und zog sie an sich.»Ist schon gut, Mädchen, sie sind ja nicht tot. Das alte Haus hat schwer einen abgekriegt, was?«Er drückte sie zärtlich.

«Mir ist nicht gut«, sagte sie schwach.»Was ist passiert?«

«Zu früh, um etwas Genaues zu sagen«, erwiderte Gervase bestimmt.»Aber ich möchte meinen, man kann eine Bombe nicht ausschließen.«

Sie wiesen das Wort zurück, schüttelten den Kopf, hielten sich die Ohren zu. Bomben waren für den Krieg, für niederträchtige Schachzüge im Flugverkehr, für Bushaltestellen an fernen Orten, für eiskalte Terroristen… für andere. Bomben waren nichts für ein Wohnhaus am Rand eines Dorfes in Berkshire, ein Haus inmitten ruhiger grüner Wiesen, bewohnt von einer normalen Familie.

Nur, daß wir eben keine normale Familie waren. In normalen Familien gab es keine Ehefrau Nr. 5, die beim Geraniensetzen ermordet wurde. Ich schaute in die vertrauten Gesichter ringsum und gewahrte in keinem von ihnen Erbostheit oder Bestürzung darüber, daß Malcolm noch lebte. Sie erholten sich allmählich alle von dem Schock des irrtümlich gemeldeten Todes und fingen gleichzeitig an zu begreifen, wieviel Schaden dem Haus zugefügt worden war.

Gervase wurde zornig.»Wer das getan hat, soll dafür bezahlen. «Es klang eher wichtigtuerisch als erfolgversprechend.

«Wo ist Thomas?«fragte ich.

Berenice zuckte reizbar die Achseln.»Der gute Thomas ist heute früh mal wieder unnützerweise auf Stellensuche gegangen. Ich habe keine Ahnung, wo er hinwollte. Als Vivien anrief, war er schon weg.«

Edwin sagte:»Ist das Haus gegen Bomben versichert, Malcolm?«

Malcolm blickte ihn mit Widerwillen an und gab keine Antwort.

Gervase sagte herrisch:»Du kommst am besten mit zu mir, Malcolm. Ursula wird sich um dich kümmern.«

Das gefiel keinem von den anderen. Sofort machten sie Gegenvorschläge. Der Kommissar, der aufmerksam zugehört hatte, sagte an diesem Punkt, daß alle Pläne, Malcolm mit nach Hause zu nehmen, für ein paar Stunden zurückgestellt werden müßten.

«Ach ja?«Gervase starrte von oben herunter.»Und wer sind Sie?«

«Kommissar Yale, Sir.«

Gervase hob die Augenbrauen, machte aber keinen Rückzieher.»Malcolm hat nichts verbrochen.«

«Ich möchte selber mit dem Kommissar reden«, sagte Malcolm.»Ich möchte, daß er rausfindet, wer versucht hat, mein Haus zu zerstören.«

«Das war doch wohl ein Unfall«, sagte Serena entgeistert.

Ferdinand hatte noch den Arm um sie.»Stell dich den Tatsachen, Mädchen. «Zögernd blickte er zu mir.»Vivien und Alicia haben allen erzählt, daß ihr wieder hier wohnt… wie kommt es also, daß euch nichts passiert ist?«

«Ja«, sagte Berenice.»Das war meine Frage.«

«Wir sind am Abend nach London und haben dort übernachtet.«

«Schwein gehabt«, sagte Donald markig, und Helen, die an seiner Seite stand und bisher geschwiegen hatte, nickte eine Spur zu eifrig und sagte:»Genau.«

«Aber wenn wir im Büro gewesen wären«, sagte ich,»wäre uns auch nichts passiert.«

Sie schauten an der Hausfront entlang zu der hinteren Ecke, wo die Bürofenster zersprungen waren, die Wände aber noch standen.

«Morgens um halb fünf seid ihr doch nicht im Büro«, meinte

Alicia mürrisch.»Warum solltet ihr?«

Malcolm wurde die Gesellschaft allmählich leid. Nicht einer hatte ihn umarmt, geküßt oder ihn herzlich unter den Lebenden begrüßt. Lucys Tränen, falls echt, waren dem am nächsten gekommen. Die Familie hätte seinen Tod offensichtlich leicht verwinden können, mit womöglich sogar ernst gemeinten Trauerbekundungen an seinem Grab, aber doch auch mit wohl verborgener Freude auf eine gesicherte, von Reichtum gesegnete Zukunft. Ein toter Malcolm konnte nichts mehr ausgeben. Ein toter Malcolm eröffnete ihnen die Möglichkeit, Geld auszugeben.

«Gehen wir«, sagte ich zu dem Kommissar.»Mir ist kalt.«

Ein unangenehmer Gedanke kam mir.»Hat einer von euch«, fragte ich die Familie,»Joyce gesagt… was mit dem Haus ist?«

Donald räusperte sich.»Ja, ich habe es ihr… ehm, beigebracht.«

Es war klar, wie er das meinte.»Du hast ihr gesagt, wir seien tot?«

«Das kam doch von Vivien«, erwiderte er, und wie bei ihr klang es, als müsse er sich verteidigen.»Sie wollte, daß ich Joyce informiere, also hab ich’s getan.«

«Mein Gott«, sagte ich dem Kommissar.»Joyce ist meine Mutter. Ich muß sie sofort anrufen.«

Unwillkürlich wandte ich mich zum Haus, wurde aber von Yale zurückgehalten, der erklärte, die Telefone seien außer Betrieb.

Er, ich und Malcolm gingen auf das Tor zu, doch wir hatten erst den halben Weg zurückgelegt, als Joyce selber sich durch die Menge drängte und verstört, verzweifelt herbeigelaufen kam.

Sie blieb stehen, als sie uns erblickte. Ihr Gesicht wurde blaß, sie wankte wie Serena vorhin, und ich rannte mit zwei, drei langen Schritten zu ihr und konnte ihren Sturz abfangen.

«Es ist alles gut. «Ich hielt sie fest.»Es ist gut. Wir sind am Leben.«

«Malcolm.«

«Ja, wir sind beide wohlauf.«

«Oh, ich dachte… Donald sagte… Ich habe auf dem ganzen Weg hierher geheult, ich konnte die Straße nicht sehen…«Sie drückte ihr Gesicht an meine Jacke und weinte wieder, ein paar tiefe Schluchzer, dann machte sie sich energisch los und kramte in ihren maßgeschneiderten Taschen nach einem Taschentuch. Sie fand eins aus Papier und schneuzte sich.»Tja, Liebling«, sagte sie,»da ihr am Leben seid, was zum Teufel ist denn los?«

Sie blickte über Malcolm und mich hinweg und riß die Augen auf.

«Die ganze verfluchte Sippe ist zur Totenwache angereist?«Zu Malcolm sagte sie:»Du hast ein unverschämtes Glück, Alter.«

Malcolm grinste sie an, ein deutliches Zeichen des Wiedererstarkens.

Die drei Exfrauen beäugten einander argwöhnisch. Zu glauben, der knapp verhinderte Tod des Mannes, den sie alle geheiratet, und die weitgehende Zerstörung des Hauses, das sie alle geführt hatten, könnte sie schwesterlich vereint haben, war sentimental.

«Malcolm kann zu mir ziehen«, sagte Joyce.

«Auf keinen Fall«, widersprach Alicia sofort, sichtlich bestürzt.»Du kannst deinen lieben Ian aufnehmen. Malcolm geht dann zu Gervase.«

«Kommt nicht in Frage«, sagte Vivien scharf.»Wenn Malcolm irgendwohin zieht, dann doch wohl angemessenerweise zu Donald, seinem Ältesten.«

Malcolm sah aus, als wüßte er nicht, ob er lachen oder schreien sollte.

«Er bleibt bei mir«, sagte ich.»Wenn er will.«

«In deiner Wohnung?«fragte Ferdinand.

Mit Grausen stellte ich mir vor, daß meine Wohnung wie Quantum in die Luft flog, daß dabei aber anders als in Quantum Menschen starben, die darunter und darüber wohnten.

«Nein, da nicht«, sagte ich.

«Wo dann, Liebling?«fragte Joyce.

«Wo immer wir gerade sind.«

Lucy lächelte. So etwas war nach ihrem Geschmack. Sie zog den großen braunen Umhang enger um ihre Leibesfülle und sagte, der Vorschlag klänge ganz und gar vernünftig. Die anderen sahen sie an, als wäre sie schwachsinnig, nicht etwa der geistige Kopf der Sippe.

«Ich gehe, wohin ich will«, sagte Malcolm einfach,»und zwar mit Ian.«

Ich bekam ein Sperrfeuer galliger Blicke ab, da alle wie seit jeher befürchteten, ich würde sie um ihre Anteile prellen — alle außer Joyce, die wollte, daß ich das tat.

«Nachdem das geklärt wäre«, sagte sie mit einem Anflug mütterlicher Selbstzufriedenheit, der die anderen erzürnte,»würde ich gern mal sehen, wie schlimm der Schaden an dem Haus ist. «Sie blickte kurz zu mir.»Komm, Liebling, du kannst es mir zeigen.«

«Lauf zu, Muttersöhnchen«, höhnte Gervase, gekränkt, weil Malcolm ihn zurückgewiesen hatte.

«Der arme Ian, wie er an Mamis Schürzenbändern hängt. «Berenices Beitrag triefte vor Abscheu.»Habgieriger kleiner Ian.«

«Das ist unfair«, quengelte Serena.»Ian kriegt immer alles. Ich finde das gemein.«

«Komm doch, Liebling«, sagte Joyce.»Ich warte.«

Ich war geneigt zu meutern, kämpfte dagegen an und sann auf eine andere Lösung.

«Ihr könnt alle mitkommen«, sagte ich zu ihnen.»Seht euch an, was hier wirklich passiert ist.«

Der Kommissar hatte in keiner Weise versucht, die Familienversammlung aufzulösen, sondern die ganze Zeit ruhig zugehört. Jetzt begegnete ich zufällig seinem Blick, und er nickte kurz und machte an Malcolms Seite wieder kehrt, als alle um das Haus herum nach hinten zogen.

Das Ausmaß der Zerstörung dort brachte selbst Gervase zum Schweigen. Alle Münder waren aufgesperrt, in allen Augen entsetztes Staunen.

Der Feuerwehrhauptmann kam herüber und begann mit einem gewissen fachlichen Vergnügen, in derbem Berkshire-Dialekt die Tatsachen aufzuzeigen.

«Eine Explosion nimmt den Weg des geringsten Widerstands«, sagte er.»Wir haben hier ein gutes, stabiles altes Haus, deshalb steht wohl noch so viel davon. Die Explosion, sehen Sie, hat sich nach außen bewegt, von einem Punkt nahe der Mitte des ersten Stocks nach vorn und hinten. Ein Teil der Explosion ging ins Dach hinaus, so daß etliche von den kleinen Mansardenzimmern eingestürzt sind, und ich schätze, es gab auch einen ziemlichen Schub nach unten, der das Loch gerissen hat, in das der erste Stock und ein Teil des Dachgeschosses gekracht sind; sehen Sie, was ich meine?«

Jeder sah es.

«Dann haben wir diese Wand hier«- er zeigte auf die zwischen dem einstigen Wohnzimmer und dem noch vorhandenen Eßzimmer —,»in die der Kamin eingebaut ist; das ist eine der Mauern, die am meisten tragen. Sie geht durch bis zum Dach. Auf der anderen Seite mehr oder weniger das gleiche. Diese beiden starken Wände haben verhindert, daß die Explosion sich seitlich ausbreitet, außer ein bißchen durch die

Türen. «Er wandte sich direkt an Malcolm.»Ich habe schon viele zerstörte Bauten gesehen, Sir, hauptsächlich zwar ausgebrannte, aber auch Gasexplosionen, und ich würde sagen — und wohlgemerkt, Sie müßten da noch ein richtiges Gutachten einholen —, aber wenn ich mir das Haus so ansehe, würde ich sagen, es hat zwar einen tüchtigen Schlag abgekriegt, aber Sie könnten in Erwägung ziehen, es wieder instand zu setzen. Guter, solider viktorianischer Bau, sonst wäre er zusammengefallen wie ein Kartenhaus.«

«Vielen Dank«, sagte Malcolm schwach.

Der Feuerwehrmann nickte.»Lassen Sie sich von keinem Abbruchhai was anderes weismachen, Sir. Ich kann’s nicht leiden, wenn man Leute, die ein Unglück trifft, begaunert. Das hab ich schon oft erlebt, und es fuchst mich. Von mir haben Sie eine ehrliche Meinung gehört. Ich kann so oder so nichts dabei gewinnen.«

«Wir sind Ihnen alle dankbar«, sagte ich.

Er nickte befriedigt, und endlich fand Gervase seine Stimme wieder.

«Was für eine Bombe war das?«fragte er.

«Damit, Sir, kenne ich mich nicht aus. Da müssen Sie auf die Experten warten. «Der Feuerwehrmann wandte sich an den Kommissar.»Wir haben den Strom an dem Zähler in der Garage abgestellt, als wir herkamen, und auch das Wasser in einem Schacht vorne am Tor. Der Tank unterm Dach war durch die geplatzten Rohre oben leergelaufen — das Wasser lief noch, als wir herkamen, und ist jetzt unter dem Schutt versickert. Ich kann nichts sehen, was einen Brand entfachen könnte. Wenn Sie in die Seitenräume im ersten Stock wollen, brauchen Sie eine Leiter, die Treppe ist blockiert. Für die Zwischenwände oben kann ich nicht garantieren; wir haben durch die Fenster geschaut, waren aber nicht drin, da müssen Sie Vorsicht walten lassen. Ins Dachgeschoß sind wir nicht rauf gestiegen, bloß ein kurzer Blick von der Leiter aus. Aber im Eßzimmer hier unten und in dem großen Zimmer hinter dem Schutt müßten Sie sich aufhalten können, und auch in der Küche und dem Raum, der nach vorn rausgeht.«

«Mein Büro«, sagte Malcolm.

Der Kommissar nickte, und mir fiel ein, daß er von wiederholten früheren Besuchen wohl schon mit dem Grundriß des Hauses vertraut war.

«Wir haben hier getan, was wir können«, sagte der Feuerwehrmann.»In Ordnung, wenn wir jetzt abschieben?«

Der Kommissar war einverstanden, begleitete ihn ein paar Schritte zu einem Vieraugengespräch, und die Familie begann aus dem Scheintod zu erwachen.

Die Pressefotografen rückten näher und knipsten uns aufs Geratewohl, und ein Mann und eine Frau von zwei verschiedenen Zeitungen stellten immer wieder die gleichen Fragen. Nur Gervase schien das erträglich zu finden und gab die Antworten allein. Malcolm setzte sich auf den Kiefernstuhl, der noch draußen stand, legte die Wolldecke um und zog sich bis zu den Augen darin zurück wie ein Indianer.

Vivien, die ihn erspähte, trabte an und sagte ihm, sie sei müde vom Stehen und müsse sich hinsetzen; es sei bezeichnend für seine Eigensucht, daß er sich den einzigen Stuhl schnappe, und eine Beleidigung für sie als die älteste anwesende Frau. Angewidert blickte Malcolm zu ihr hoch, stand auf und entfernte sich ein ganzes Stück, während sie mit einem selbstzufriedenen Grinsen seinen Platz einnahm. Meine Abneigung gegen Vivien spitzte sich zu wie ihre Wangenknochen und wurde giftig wie ihr Mund.

Alicia, die sich gefangen hatte, zog ihre flatterige Weibchennummer vor den Reportern ab, trug den Charme besonders dick auf und stellte Serenas Kleinmädchenmasche noch in den Schatten. Als ich sie so zusammen sah, dachte ich, daß es schwer sein mußte für Serena, eine Mutter zu haben, die nicht reifen wollte, die sich mit Ende Fünfzig noch benahm wie mit Achtzehn, die ihrer Tochter seit Jahren den natürlichen Weg zum Erwachsenwerden versperrte. Mädchen brauchten eine mütterliche Mutter, hatte ich mir sagen lassen, und die fehlte Serena. Jungs brauchten auch eine, und Joyce war keine, aber ich hatte die ganze Zeit einen Vater gehabt und schließlich auch noch Coochie; Serena hingegen hatte beides nicht gehabt, und das war ein himmelweiter Unterschied.

Edwin tat sich genausoschwer damit wie Donald, Freude über Malcolms Rettung herauszukehren.

«Für dich ist ja alles in Butter«, fuhr er mich an, als er meinen ironischen Blick in seine Richtung auffing.»Mich verachtet Malcolm — das brauchst du gar nicht abzustreiten, er zeigt es deutlich genug —, und ich sehe nicht ein, weshalb mir viel an ihm liegen sollte. Natürlich würde ich nicht seinen Tod wollen.«

«Natürlich nicht«, murmelte ich.

«… aber wenn, ja wenn er gestorben wäre…«Er hielt ein, hatte letztlich nicht den Mut, es offen auszusprechen.

«Wärst du froh gewesen?«sagte ich.

«Nein. «Er räusperte sich.»Ich hätte mich damit abfinden können«, sagte er.

Ich lachte fast.»Prima für dich, Edwin«, meinte ich.»Mach so weiter, Junge.«

«Mit deinem Tod hätte ich mich auch abfinden können«, sagte er steif.

Nun ja. Das hatte ich wohl herausgefordert.

«Verstehst du was von Bomben?«fragte ich.

«Die Frage ist lächerlich«, sagte er und stapfte davon, während mir durch den Kopf ging, daß er nach Norman Wests Auskünften beinah täglich eine Stunde in der Bücherei zubrachte — wo man bestimmt etwas über Bombenherstellung erfahren konnte, wenn man lange genug suchte.

Berenice sagte böse zu mir:»Es ist nur deine Schuld, daß Thomas keine Arbeit hat.«

Ich staunte.»Wie kommst du denn darauf?«

«Er war so beunruhigt über Malcolms Verhalten, daß er sich nicht konzentrieren konnte und Fehler gemacht hat. Er meint, du könntest Malcolm dazu bringen, uns zu helfen, aber ich sage ihm natürlich, daß du gar nicht daran denkst, warum solltest du, du bist ja Malcolms Häschen.«

Das letzte Wort spuckte sie fast, wobei die Wut auch aus ihren Augen schäumte und alle Sehnen ihres Halses straffte.

«Das hast du Thomas gesagt?«fragte ich.

«Es ist doch wahr«, fauchte sie.»Vivien sagt, du warst schon immer Malcolms Liebling, und er war noch nie fair zu Thomas.«

«Er ist immer zu uns allen fair gewesen«, versicherte ich, aber natürlich glaubte sie mir nicht.

Sie war vier oder fünf Jahre älter als Thomas und hatte ihn geheiratet, als sie schon weit über dreißig war und (so Joyce gehässig) einen Ausweg aus der Torschlußpanik suchte. Bei ihrer Trauung vor zehn Jahren war sie eine dünne, leidlich attraktive Frau gewesen, die das Glück aufleben ließ. Thomas hatte Stolz und Geld besessen. Sie hatten den Eindruck eines vielleicht nicht aufregenden, aber doch soliden Paars mit Zukunft vermittelt, das sich auf ein schönes Abenteuer einließ.

Zehn Jahre und zwei Töchter danach hatte Berenice Pfunde angesetzt, sich eine vordergründige Weltklugheit angeeignet und alle Illusionen über die Ehe verloren. Ich nahm seit langem an, daß sie aus grundlegender Enttäuschung so destruktiv gegen Thomas geworden war, hatte mir jedoch über die Ursachen noch keine Gedanken gemacht. Zeit, das nachzuholen, dachte ich.

Zeit, daß ich sie alle miteinander verstehen lernte, denn auf diese Weise würden wir vielleicht in Erfahrung bringen, wer morden konnte und wer nicht.

Fahnden anhand des Charakters und der Lebensgeschichte, nicht anhand von Alibis. Hören auf das, was sie sagten und nicht sagten; erkennen, wieweit sie Herr und nicht Herr über sich waren.

Als ich dastand und mir die ganze Gesellschaft ansah, wußte ich, daß nur jemand aus der Familie selbst diesen Weg einschlagen konnte, und wenn ich es nicht tat, würde es keiner tun.

Norman West und Kommissar Yale konnten in die Fakten eindringen. Ich würde in die Menschen eindringen. Gewiß ein hoher Anspruch, dachte ich selbstironisch; es gab nur ein Problem dabei. Die Menschen würden alles tun, damit ich draußen blieb.

Ich mußte mir darüber klar sein, daß mein Vorhaben mehr Ärger als Ergebnisse bringen konnte. Die Fähigkeit zu morden entging mitunter selbst hochqualifizierten Psychiatern, die sich bekanntlich schon für die Freilassung gebesserter Straftäter ausgesprochen hatten, nur um zu erleben, daß diese geradewegs losliefen und töteten. Ein hochqualifizierter Psychiater war ich nicht. Bloß jemand, der sich erinnern konnte, wie wir gewesen waren, und der lernen konnte, wie wir jetzt waren.

Ich sah auf das fürchterlich ramponierte Haus und schauderte. Am Montag waren wir unerwartet zurückgekehrt; heute war Freitag. Das Tempo der Planung und Ausführung an sich war schon erschreckend. Wahrscheinlich kamen wir nie wieder mit dem Schrecken davon. Malcolm hatte durch reines Glück drei Anschläge überlebt, aber für einen vierten hätte Ferdinand wohl keine günstige statistische Prognose gestellt.

Die Familie sah friedlich und normal aus im Gespräch mit den Reportern, und ich war erfüllt von einem Gefühl der Dringlichkeit und ahnte Böses.

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