Ich fuhr ohne Eile nach Epsom, aber sobald ich meine Wohnung betreten hatte, wußte ich, daß ich nicht bleiben würde. Sie war zu negativ, zu leer, zu langweilig. Lange wohnst du hier nicht mehr, dachte ich.
Es gab ein paar Briefe, ein paar Rechnungen, ein paar Nachrichten auf dem Anrufbeantworter, aber nichts unerhört Interessantes. Wäre ich in Quantum zusammen mit Malcolm in die Luft geflogen, hätte das für niemand einen wesentlichen Unterschied gemacht — diese Vorstellung gefiel mir nicht besonders.
Ich ging ins Schlafzimmer, um nachzusehen, was ich noch zum Anziehen dahatte, und stieß auf das weiße Spitzenneglige. Nun, sie wäre vielleicht eine Zeitlang traurig gewesen. Ich wünschte, ich hätte sie anrufen können, aber das ging nicht: Ihr Mann konnte sich melden, wie schon einmal, als ich es versucht hatte, und zu viele» Entschuldigung, falsch verbunden «hätten auch den Argwohn des dümmsten Kerls erregt, der er dem Vernehmen nach nicht war.
Abgesehen von ihr, resümierte ich in Gedanken, bestand mein Freundes- oder besser Bekanntenkreis vor allem aus Rennsportliebhabern. Es reichte, um auf Partys eingeladen zu werden, es reichte, um bei der Arbeit zufrieden zu sein.
Ich wußte, daß ich nicht allgemein unbeliebt war. Das genügte wohl. Jedenfalls war ich bisher damit ausgekommen.
Ich hatte das Zusammensein mit Malcolm mehr genossen, als mir klar gewesen war. Er fehlte mir bereits, und in den zwölf Tagen mit ihm hatte ich einen Hang zur Spontaneität entwickelt, der mir das Herumsitzen in meiner Wohnung unmöglich machte. Ich packte eine Reithose und einen Pullover ein, legte ein paar weiche alte Hemden zu den neuen in dem SimpsonKoffer, schloß die Wohnung ab und ging runter auf den Parkplatz.
Mein eigener Wagen stand da, aber ich nahm wieder den geliehenen; irgendwann würde ich ihn abgeben, mit der Bahn herkommen und meinen abholen. Als erstes hielt ich an der Bank und warf einen Umschlag mit Malcolms Scheck und einem Einzahlungsschein in den Briefschlitz, damit er meinem Konto gutgeschrieben wurde. Dann fuhr ich ungefähr in Richtung Quantum los, wußte aber eigentlich nicht genau, wo ich hinwollte.
Alles in mir sträubte sich gegen die Aufgabe, die Psyche der Familienmitglieder zu durchleuchten, aber ich landete an einem Ort, von dem aus sie alle leicht zu besuchen waren, da ich aus einem Impuls heraus auf die Straße nach dem kleinen Dorf Cookham abbog und mir dort, in einem gemütlichen alten Gasthaus mit dunklem Eichengebälk und Kaminfeuer, ein Zimmer nahm.
Norman West war nicht zu Hause. Ich rief ihn Punkt vier und Punkt fünf an und erreichte ihn um sechs. In entschuldigendem Ton sagte er, daß er die Arbeit an dem Pembroke-Fall abgebrochen habe; er könne da nichts mehr unternehmen. Es tue ihm leid, daß er nicht in der Lage gewesen sei, das… ehm, Problem zu lösen, und sollte er die Rechnung für Mr. Pembroke nun ins Savoy oder nach Quantum House schicken?
«Weder noch«, sagte ich.»Wir möchten gern, daß Sie weiterarbeiten. «Und ich berichtete ihm, was mit Quantum und um ein Haar mit uns selbst passiert war.
«Du liebe Güte«, sagte er.
Ich lachte innerlich, aber wahrscheinlich war» du liebe Güte «ein genauso passender Kommentar wie jeder andere.
«Würde es Ihnen also etwas ausmachen, wenn Sie alle noch einmal abklappern und fragen, was sie vorgestern zwischen 15
Uhr und Mitternacht getan haben?«
Er schwieg längere Zeit. Dann sagte er:»Ich weiß nicht, ob das etwas bringt, verstehen Sie? Ihre Familie war schon beim ersten Anlauf ungefällig. Beim zweiten wäre sie doppelt so abweisend. Diesmal stellt die Polizei doch sicher genaueste Nachforschungen an? Ich glaube, das muß ich ihr überlassen.«
Ich war bestürzter als erwartet.»Bitte überlegen Sie sich das noch mal«, sagte ich.»Zugegeben, wenn die Polizei sich bei der Familie nach ihren Bewegungen erkundigt und Sie dann nachstoßen, wird ihr das nicht gefallen. Aber wenn ich dann auch noch komme und frage, bringt sie das vielleicht derart aus der Fassung oder auf die Palme, daß sie etwas rauslassen, was uns Aufschluß gibt… in der einen oder der anderen Richtung. «Ich schwieg.»Wahrscheinlich klingt das nicht sehr einleuchtend.«
«Erinnern Sie sich, was Sie mir von der Klapperschlange gesagt haben, auf die ich nicht treten soll?«sagte er.
«Ja, schon.«
«Sie schlagen vor, eine mit dem Stock aufzuscheuchen.«
«Wir müssen unbedingt wissen, wer die Klapperschlange ist.«
Ich hörte ihn seufzen und konnte seine Unlust spüren.
«Passen Sie auf«, sagte ich,»können wir uns denn einfach mal irgendwo treffen? Sie haben meinem Vater und mir knapp berichtet, was die Familie an den beiden fraglichen Tagen getan hat, aber Sie wüßten darüber bestimmt noch viel mehr zu erzählen. Wenn Sie sie nicht mehr aufsuchen wollen, können Sie mir dann einfach. behilflich sein?«
«Dagegen habe ich nichts«, sagte er.»Wann?«
«Heute abend? Morgen?«
Heute abend arbeitete er schon. Morgen wollte er mit seiner Frau den ganzen Tag zu den Enkelkindern, da es Sonntag war, aber am Abend ging es. Er kannte den Gasthof, in dem ich war, und sagte, er komme dorthin; um sieben werde er mich im Schankraum treffen.
Ich dankte ihm dafür und rief als nächstes zwei Ställe in den Downs an, um die Trainer zu fragen, ob ich vorübergehend morgens ihre Pferde bewegen könne. Der erste sagte nein, der zweite sagte ja; ihm fehlten ein paar Pfleger, und er sei froh über die kostenlose Aushilfe. Ab Montag mit dem ersten Lot, Aufbruch halb acht; konnte ich um Viertel nach sieben da sein?
«Ja«, sagte ich bereitwillig.
«Bleiben Sie zum Frühstück.«
Rennställe waren gut für die Seele, dachte ich und dankte ihm. Ihr besonderer Wahn förderte meine Gesundheit. Ich konnte ihnen nicht lange fernbleiben. Ich fühlte mich außer Form, wenn ich nicht ritt.
Ich verbrachte den Abend im Schankraum des Gasthofs und hörte die meiste Zeit einem einsamen Mann zu, der Schuldgefühle hatte, weil seiner Frau im Krankenhaus die Eingeweide gerichtet wurden. Den Grund für das Schuldbewußtsein fand ich zwar nicht heraus, aber während er sich langsam betrank, erfuhr ich eine Menge über ihre Geldsorgen und seine Ängste wegen ihrer Krankheit. Kein umwerfend amüsanter Abend für mich, doch er meinte, ihm sei viel wohler, nachdem er einem Unbekannten einmal alles habe erzählen können, was er in sich aufgestaut hatte. Gab es eigentlich irgend jemand, fragte ich mich beim Schlafengehen, der glücklich durchs Leben ging?
Den Sonntag vertrödelte ich ganz angenehm, und Norman West erschien wie versprochen um sieben.
Sein Alter trat von den grauweißen Haaren abwärts wieder deutlich zutage, und als ich bemerkte, er sehe müde aus, sagte er, er sei fast die ganze letzte Nacht aufgewesen, aber keine Sorge, das sei er gewohnt. Hatte er seine Enkel besucht? Ja: eine lebhafte Meute. Er ließ sich einen doppelten Scotch mit Wasser ausgeben, öffnete davon gestärkt den großen Umschlag, den er bei sich hatte, und zog einige Bogen Papier hervor.
«Ihre Familienfotos sind hier drin«, sagte er, auf den Umschlag tippend,»und ich habe Kopien von meinen sämtlichen Notizen mitgebracht. «Er legte die Blätter auf den kleinen Tisch zwischen uns.»Sie können sie behalten. Die Originale sind in meinen Akten. Komisch«- er lächelte flüchtig —,»ich dachte immer, eines Tages würde ich ein Buch über meine ganzen Fälle schreiben, über meine Arbeit all die Jahre, aber sie sind in den Akten, und da bleiben sie.«
«Warum schreiben Sie es nicht?«fragte ich.
«Ich kann besser Leute beschatten.«
Ich überlegte, daß er schon gut Leute beschatten konnte, als Joyce ihn seinerzeit engagierte, und daß wir mit der Aufklärung von Mordversuchen vielleicht zuviel von ihm erwartet hatten.
Er sagte:»Sie werden feststellen, daß die Bewegungen Ihrer Familie einem klaren Muster folgen und daß es gleichzeitig an einem Muster fehlt. Der Mord an Mrs. Moira und der Versuch, Mr. Pembroke zu vergasen, fanden beide gegen fünf Uhr nachmittags statt, und gegen fünf ist fast Ihre gesamte Familie gewohnheitsmäßig unterwegs. Wohlgemerkt, das gilt für die Mehrheit der Berufstätigen. Zu dieser Tageszeit geht leicht mal eine Stunde verloren, ohne daß es jemand auffällt. Verkehrsstaus, später Feierabend, Fernsehen in der Fußgängerzone… das alles habe ich von untreuen Ehemännern schon gehört. Die Liste der Ausreden, die die Leute für unzeitiges Heimkommen erfinden, ist endlos. Bei einer Familie wie der Ihren, wo praktisch niemand zu einer festen Zeit Feierabend hat, geht das noch leichter. Deshalb war es fast unmöglich, stichhaltige Alibis zu bekommen, und ich bin sicher, im Fall von Mrs. Moira hat die Polizei das gleiche festgestellt. Wenn jemand nicht zu einer gewohnten Zeit erwartet wird, sieht man nicht auf die Uhr.«
«Ich verstehe schon«, sagte ich nachdenklich.
«Bei Newmarket lag die Sache etwas anders«, sagte er,»denn dafür mußte jemand den ganzen Tag seiner normalen Umgebung ferngeblieben sein — vorausgesetzt, Mr. Pembroke wurde von seinem Hotel aus verfolgt, als er mittags nach Newmarket losfuhr. Und man muß annehmen, daß der Verfolger schon lange vorher zur Stelle war, da er nicht wissen konnte, wann Mr. Pembroke losfährt oder wohin. «Er räusperte sich und trank einen Schluck Whisky.»Von daher hielt ich es für einfach, herauszufinden, welches Familienmitglied den ganzen Dienstag fort war, aber das erwies sich als Irrtum, wie Sie in dem Bericht sehen werden. Wenn nun der Sprengkörper in Quantum zwischen dem üblichen Dienstschluß des Gärtners und Ihrer möglichen Rückkehr vom Rennplatz um sechs abgelegt wurde, dann sind wir auch wieder bei der, ehm…«
«Fünf-Uhr-Grauzone«, sagte ich.
Er sah mich etwas indigniert an. Das war doch nicht komisch.»Ich habe keinen Zweifel, daß sich das gleiche Muster zeigt«, sagte er.»Niemand wird genau angeben können oder wollen, wo er oder sie oder sonst jemand um diese Zeit war.«
«Vielleicht haben wir Glück«, sagte ich.
«Möglich«, meinte er und sah skeptisch drein.
«Könnten Sie mir nicht bitte sagen«, fuhr ich fort,»welche Mrs. Pembroke Sie beauftragt hat, Malcolm zu finden? Ich weiß über Ihre ethischen Grundsätze Bescheid, aber nach dieser Bombe… geht es da nicht? Wessen Name stand auf dem Scheck?«
Er überlegte, in sein Glas versunken, als wollte er Weisheit in der Tiefe finden. Er seufzte schwer und hob die Achseln.
«Ich bin nicht bezahlt worden«, sagte er.»Der Scheck kam nie. Ich weiß nicht genau, aber ich glaube… ich glaube, es war die Stimme von Mrs. Alicia Pembroke. «Er schüttelte den Kopf.»Ich habe sie gefragt, ob sie es sei, als ich bei ihr war. Sie hat es bestritten, aber ich glaube, zu Unrecht. Wobei Sie nicht vergessen sollten, daß zwei andere Leute Ihrem Vater von allein auf die Spur gekommen sind, indem sie genau wie ich herumtelefoniert haben.«
«Das vergesse ich nicht«, sagte ich.
Er sah mich ernst an.»Im Augenblick ist Mr. Pembroke hoffentlich nicht so leicht zu finden.«
«Kaum«, sagte ich.
«Darf ich Ihnen einen Rat geben?«
«Bitte.«
«Legen Sie sich eine Waffe zu.«
«Mr. West!«
«Selbst wenn es nur ein Topf Pfeffer ist«, sagte er,»oder eine Dose Sprühlack. In Ihrer Familie herrscht eine ziemliche Feindseligkeit gegen Sie, weil Sie in Mr. Pembrokes Gunst stehen. Ich könnte mir vorstellen, daß Sie mit ihm in dem Haus sterben sollten. Lassen Sie es also nicht darauf ankommen.«
Ich schluckte und dankte ihm. Er nickte und zog nüchtern ein kleineres Kuvert aus der Jackentasche, das seine Rechnung enthielt. Ich schrieb ihm den Scheck dafür. Er nahm ihn, warf einen Blick darauf und steckte ihn ein.
Müde stand er auf und gab mir die Hand.»Rufen Sie mich an«, sagte er,»wann immer Sie wollen. Ich habe nichts gegen ein Gespräch, wenn es weiterhilft.«
Ich dankte ihm nochmals, und er ging altersgrau hinaus, während ich mit seinen Notizen zurückblieb und mir nackt vorkam.
Ich begann die Notizen zu lesen. Es ergab sich, daß er sein ursprüngliches Arbeitsschema umgekehrt hatte, oder vielleicht war die Reihenfolge auch beim Kopieren durcheinandergeraten, jedenfalls war die Staffelung vom Ältesten zum Jüngsten auf den Kopf gestellt, und Serenas Dossier kam als erstes.
Norman West hatte seine Notizen und Randbemerkungen durchweg mit der Hand geschrieben, und seine Rundfunksprecherstimme klang mir beinah in den Ohren, als ich las:
Miß Serena Pembroke (26), ledig, lebt in 14 Mossborough Court, Bracknell, einem Wohnblock direkt hinter Easthampstead Road, an der Kneipe links. Block ist entstanden beim Ausbau der Neustadt, mittlere Einkommensgruppe, Mieter Geschäftsleute, bleiben für sich. Hübsches Mädchen, sagte eine Nachbarin (Nr. 12), aber weiß nicht, wie sie heißt. Miß S. wohnt dort seit drei Monaten. Wohnzimmer, Schlafzimmer, Küche, Bad, alles klein.
Miß S. arbeitet in Deannas Tanz- und Aerobicstudio, High Street, Bracknell, als Aerobiclehrerin. Privatunternehmen, lasch geführt (meine Meinung), Inhaberin Mrs. Deanna Richmond (45?), deren ganze Aufmerksamkeit einem jüngeren Stenz mit haariger Brust und prangender Goldkette gilt; Schrott.
Miß S. gibt montags bis freitags von 8-13.30 h Unterricht, erst für Büroangestellte, dann für Hausfrauen. Miß S. und ein anderes Mädchen (Sammy Higgs) arbeiten abwechselnd in halbstündlichem Turnus. Die Zeiten von Miß S. sind meistens 88.30, 9–9.30, 10–10.30, 11–11.30, 12–12.30, 13–13.30.
Miß S. und Sammy H. sind beides gute Arbeiterinnen. Die Kunden, die ich sprach, fanden die Kurse ausgezeichnet. Durchgehend, daher beliebt. Eine Frau kann auf dem Weg zum Büro vorbeischauen oder wenn sie die Kinder zur Schule gebracht hat usw. Anmelden, teilnehmen, bezahlen. Zulauf aus der ganzen Stadt — große Kundschaft.
Abendkurse Montag bis Freitag, nur von 19–20.30 h. Die hält Miß S. allein ab. (S. Higgs gibt nachmittags von 13.30–16 h.) Die Abende sind recht zwanglos — Erfrischungspausen für die Kunden usw. Gut besucht.
Miß S. hat jeden Monat starke Menstruationskrämpfe. Kann dann nicht tanzen oder unterrichten. Immer zwei Tage frei. Der Dienstag der Auktion in Newmarket war so ein Tag — der zweite. Am Montag war Miß S. erschienen, aber wegen Schmerzen ausgefallen. Dienstag erwartete sie niemand, Mittwoch kam sie wieder. Mrs. Deanna Richmonds Tochter springt bei diesen Gelegenheiten ein und auch sonst, wenn eins der Mädchen sich mal freinimmt. Über diese Freistunden gibt es keine Unterlagen.
Miß S. führt ein schlichtes, fleißiges, geregeltes Leben.
Mag hübsche Kleider, etwas unreif (meine Meinung), hat wenig Freunde. Geht an Wochenenden oft zu ihrem Bruder (Mr. Ferdinand) oder zu ihrer Mutter (Mrs. Alicia).
Kein feststellbares Liebesleben.
Miß S. mag Shopping und Schaufensterbummel. An dem Freitag des Überfalls auf Mr. Pembroke, sagt sie, habe sie wohl Eßsachen und eine weiße Rüschenbluse bei Marks & Spencers gekauft. (Weiß den Tag nicht sicher.) Sie kauft wahrscheinlich viermal die Woche was zum Anziehen — Strumpfhosen, Turnanzüge, Pullis usw.»Muß für die Kunden gut aussehen.«
Miß S. hat einen 2 Jahre alten grau-silbernen Ford Escort, joggt meistens aber die anderthalb km zur Arbeit, um sich aufzuwärmen. Fährt nur bei Kälte oder Regen. Wagen sauber von Waschanlage: Miß S. läßt ihn ca. alle vierzehn Tage durch dieselbe Waschstraße laufen. Die Leute von der Waschanlage bestätigten das, können sich aber nicht an genaue Daten erinnern.
Miß S. sagt, Mr. Ian müsse Mrs. Moira umgebracht haben, weil sie (Mrs. Moira) sowohl Mr. Pembroke als auch sein (Mr. Ians) Erbe vereinnahmt und er sie dafür gehaßt habe. Sie sagt, Mr. Ian müsse des Geldes wegen versucht haben, Mr. Pembroke umzubringen. Die Polizei ist blöd, daß sie ihn nicht verhaftet, meint sie. Ich sagte ihr, daß Mr. Ian weder Moira umgebracht noch seinen Vater überfallen haben kann, da er sich beide Male etwa 70 km entfernt um einen Rennstall gekümmert hat, vor dreißig Zeugen und mehr. Ich sagte, er habe ganz offensichtlich auch nicht den Wagen gesteuert, der ihn beinah über den Haufen fuhr. Sie sagte, das könne er arrangiert haben. Meiner Ansicht nach will Miß S. sich nicht von Mr. Ians Unschuld überzeugen lassen. Sie will, daß Mr. Ian der Mörder ist, weil sie niemand sonst in ihrer Familie als Schuldigen sehen möchte. Wenn’s Mr. Ian ist, kann sie’s ertragen, sagt sie, denn ihm geschähe es recht, da er Papas Liebling sei. (Wirres Denken!)
Ende der Ermittlung.
Die drei Seiten Notizen über Serena wurden von einer Heftklammer zusammengehalten. Ich packte Serena zuunterst in den Stoß und kam zur nächsten Heftklammer, die Aufzeichnungen über Debs und Ferdinand zusammenhielt. Norman West benutzte graue Heftklammern, keine silbernen. Sehr passend, fand ich.
Auf der ersten Seite stand:
Mrs. Deborah Pembroke (27), die zweite Frau von Mr. Ferdinand, lebt mit ihm in Gables Cottage, Reading Road, Wokingham, Berkshire.
Mrs. Deborah arbeitet als Fotomodell, hauptsächlich für Versandhauskataloge, und führte an dem Dienstag der Newmarketer Auktion in London eine Reihe von Badeanzügen vor. Zwei andere Mannequins waren dabei, außerdem ein Fotograf mit zwei Assistenten, eine Friseuse, ein Vertreter des Versandhauses und ein Protokollant. Die Vorführung der Badeanzüge ging bis 18 h. Mrs. D. war bis zum Ende dort. Das ist zweifelsfrei verbürgt. Für den vorhergehenden Freitagabend hat Mrs. Debs kein festes Alibi. Sie arbeitete nur bis 15.30 h in
London (vom Versandhaus bestätigt) und fuhr heim. Keine Zeugen für Ankunft. (Mr. Ferdinand war außer Haus.)
Wegen ihres Dienstagtermins kann Mrs. Debs nicht in Newmarket gewesen sein. Der Freitag ist offen.
Mrs. Debs fährt ihren eigenen Wagen, einen scharlachroten Lancia. Als ich ihn inspizierte, war er völlig verstaubt, ohne Anzeichen einer Berührung mit Mr. Ian.
Mrs. Debs nahm meine Fragen weitgehend gelassen hin und antwortete wie folgt: Ihr Mann sei der einzig Gute in der Familie Pembroke, der einzige, der Humor besitze. Er höre zu sehr auf seine Mutter, das werde sie aber mit der Zeit schon ändern. Eines Tages würden sie zu Wohlstand kommen, sofern Mr. Ian ihnen keinen Strich durch die Rechnung mache. Sie sei ganz glücklich und habe es nicht eilig, Kinder zu bekommen. Nur diese letzte Frage war ihr zu persönlich.
Ende der Ermittlung.
Ich blätterte zur nächsten Seite um und las:
Mr. Ferdinand Pembroke (32), verheiratet mit Deborah (2. Frau), lebt in Gables Cottage, Reading Road, Wokingham, Berkshire.
Mr. Ferdinand ist Versicherungsstatistiker bei der Merchant General Insurance Company, Hauptsitz in Reading, Berkshire. Er arbeitet etwa ein Drittel seiner Zeit zu Hause, wo er einen Computer hat, der mit dem Rechenzentrum in der Versicherungsfirma verbunden ist. Er schätzt diese Regelung ebenso wie seine Firma, da sie es ihm erlaubt, ohne dauernde Unterbrechung anspruchsvolle Arbeit zu leisten. Außerdem läßt die Firma ihn an einem Lehrgang zur Abwehr von Versicherungsbetrug teilnehmen, da sie von seinen Fähigkeiten überzeugt ist.
Ich war in seinem Büro und habe dem Abteilungsleiter erklärt, Mr. Pembroke senior sei daran gelegen, nachzuweisen, daß seine Kinder in den Überfall auf ihn nicht verwickelt sein können. Mr. Ferdinands Chef war hilfsbereit, konnte mich letztlich aber nicht zufriedenstellen.
Mr. F. war weder an dem Freitag nachmittag noch am darauffolgenden Dienstag in seinem Büro. Den Freitag nachmittag hatte er zu Hause gearbeitet, Dienstag war er auf dem Lehrgang.
Nachfrage bei der Kursleitung am Bingham Business Institute in London. Mr. F. hat sich am ersten Tag, Montag, eingeschrieben, aber genaue Anwesenheitslisten werden nicht geführt. Mr. F. wußte niemand, der ihn gut genug kennt, um zu beschwören, daß er am Dienstag dort war. Meine Frage, ob er die Vorlesungen mitgeschrieben habe, verneinte er. An dem Dienstag sei es um statistische Wahrscheinlichkeiten und deren Berechnung gegangen; Grundwissen, mit dem er vertraut sei. Ich überprüfte das anhand des Lehrplans. Die Dienstagsvorlesungen entsprachen seinen Angaben.
Mr. Ferdinand fährt einen cremefarben grauen Audi. Der war sauber, als ich ihn sah. Mr. F. sagt, er wäscht ihn selber mit Bürste und Schlauch (beides zeigte er mir) und wäscht ihn oft. Er sagt, er legt Wert auf Sauberkeit.
Obwohl er den Freitag nachmittag zu Hause gearbeitet hat, war er nicht dort, als Mrs. Debs von London wiederkam. Er sagt, er habe sein Pensum erledigt gehabt und beschlossen, nach Henley zu fahren, um die Enten auf der Themse zu füttern. Das finde er beruhigend. Er sei gern an der frischen Luft. Er tue das oft, habe es sein Leben lang getan, sagte er. Er habe nicht gewußt, daß Mrs. Debs an dem Tag schon um halb vier fertig war, aber das würde ihn von seinem Ausflug nicht abgehalten haben. Sie seien unabhängige Menschen und einander nicht über jede Minute Rechenschaft schuldig.
Ich hörte auf zu lesen und hob den Kopf. Ferdinand hatte sich wirklich schon immer zu den Enten hingezogen gefühlt. Ich konnte gar nicht zählen, wie oft wir in Henley über den Leinpfad gegangen waren, Brot verstreut und uns das derbe Gelächter der Stockenten angehört hatten. Malcolm fuhr uns immer hin, wenn Alicia anfing, Geschirr zu werfen. Sie quakte fast so wie die Enten, hatte ich damals gedacht, es aber klugerweise nicht ausgesprochen.
Ich las weiter:
Mr. Ferdinand ist fleißig und erfolgreich, seine Chancen steigen. (Meine Meinung und die seines Chefs.) Er hat Organisationstalent und Energie. Körperlich ist er wie sein Vater untersetzt und kräftig. (Ich entsinne mich an Mr. Pembroke vor 28 Jahren. Er drohte, mich hochkant über sein Auto zu werfen, als er merkte, daß ich ihn verfolgt hatte, und ich traute es ihm zu. Mr. Ferdinand würde ich es auch zutrauen.)
Mr. F. kann sehr lustig und unterhaltsam sein, doch seine Laune trübt sich beunruhigend schnell. Das Verhältnis zu seiner Frau ist locker, nicht besitzergreifend. Seine Schwester Serena beschützt er. Seiner Mutter Alicia gegenüber ist er aufmerksam. Seine Empfindungen für Mr. Pembroke und Mr. Ian sind offenbar zwiespältig; wenn ich seine ambivalente Haltung recht verstehe, mochte er die beiden früher, traut ihnen aber nicht mehr. Mr. F. ist, glaube ich, fähig zu hassen.
Ende der Ermittlung.
Ich schob Debs und Ferdinand nach hinten in den Stapel, hatte aber keine Ausdauer mehr für die Fortsetzung über Ursula und Gervase. Statt dessen aß ich in der Kneipe ein Steak und beschloß, die Familie in der altersverkehrten Reihenfolge aufzusuchen, in der Norman West sie mir übergeben hatte, angefangen mit den Einfachen. Wo war die Verwegenheit, die mich veranlaßt hatte, Malcolm in Cambridge zu sagen, ich würde bei ihm bleiben, weil es gefährlich sei?
Ja, wo?
Irgendwo unter den Trümmern von Quantum.
Am Morgen galoppierte ich auf den windigen Downs, dankbar für die Einfachheit der Pferde und für das physische Vergnügen, meine Kräfte in der Art und Weise einzusetzen, für die sie trainiert waren. Wie von selbst schien Energie in meine Arme und Beine zu strömen, und ich dachte, daß es für einen Pianisten vielleicht genauso war, wenn er nach ein paar Tagen Pause wieder spielte; man brauchte nicht erst auszutüfteln, was die Finger machen sollten, es ging leicht, es war komplett in einem drin, die Musik kam ohne Überlegung.
Nach dem Frühstück dankte ich meinem Gastgeber herzlich und dachte, als ich in Richtung Quantum fuhr, an das Telefongespräch, das ich am Abend vorher mit Malcolm geführt hatte. Bei mir war es fast Mitternacht gewesen, bei ihm kurz vor sechs, noch früher Abend.
Er war gut angekommen, sagte er, und Dave und Sally Cander waren echte Kumpel. Ramsey Osborn war auch herbeigejettet. Die Canders gaben eine Party, die in fünf Minuten losging. Er hatte einige gute Pferde gesehen und war auf tolle neue Ideen zum Geldausgeben gekommen (böses kleines Lachen). Wie liefs in England?
Er klang zufriedenstellend sorglos, hatte die Niedergeschlagenheit mit den Kilometern abgeschüttelt, und ich sagte, es sei alles noch wie bei seiner Abreise, nur daß man das Haus in Planen gehüllt habe. Der Zustand des Hauses bedrückte ihn rund zehn Sekunden, dann sagte er, er und Ramsey würden vielleicht Dienstag oder Mittwoch aus Lexington abreisen; er wisse es nicht genau.
«Wohin du auch fährst«, sagte ich,»läßt du den Canders bitte eine Telefonnummer da, unter der ich dich erreichen kann?«
«Versprochen«, sagte er fröhlich.»Beeil dich mit deinem Paß, und komm rüber.«
«Bald.«
«Ich habe mich daran gewöhnt, daß du bei mir bist. Seh mich dauernd nach dir um. Eigenartig. Muß verkalkt sein.«
«Ja, so hört es sich an.«
Er lachte.»Das ist eine andere Welt hier, und sie gefällt mir.«
Er sagte tschüs und legte auf, und ich fragte mich, wie viele Pferde er wohl gekauft haben würde, bis ich bei ihm war.
Wieder zurück in dem Gasthof in Cookham, stieg ich aus den Reitsachen und rief pflichtbewußt Kommissar Yale an. Er hatte mir nichts mitzuteilen und ich ihm auch nicht; das Gespräch war kurz.
«Wo ist Ihr Vater?«fragte er im Plauderton.
«Außer Gefahr.«
Er grunzte.»Melden Sie sich«, sagte er.
Und ich sagte:»Ja.«
Mit beträchtlicher Unlust setzte ich mich erneut ins Auto und steuerte Bracknell an, parkte auf einem der großen, nichtssagenden Parkplätze und ging bis zur High Street.
Die High Street war vor langer Zeit einmal die Hauptstraße einer ländlichen Kleinstadt gewesen; jetzt war sie Fußgängerniemandsland, umgeben von den Fabriken, Büros und Ringstraßen sprießenden Fortschritts. Deannas Tanz- und Aerobicstudio sah aus wie eine breite Ladenfront, auf einer Seite flankiert von einem funkelnagelneuen Zeitschriftenladen und auf der anderen von einem Fotogeschäft, dessen Schaufensterauslage hauptsächlich aus postkartengroßen, phosphorgelben Preisschildern zu bestehen schien, meist mit dem Zusatz»20 % REDUZIERT«.
Deannas Studio bestand zunächst aus einem Vorraum mit einer nach oben gehenden Treppe auf der einen Seite. Das Mädchen am Empfang blickte auf und strahlte, als ich die gläserne Eingangstür aufstieß und den dicken grauen Teppich betrat, verlor aber das Interesse, als ich nach Serena fragte und erklärte, ich sei ihr Bruder.
«Hinten«, sagte sie.»Sie gibt gerade Unterricht.«
Hinten war jenseits einer weißgestrichenen Flügeltür. Ich ging durch und gelangte in einen fensterlosen, aber hell erleuchteten und ansprechenden Raum mit kleinen Tischen und Stühlen, in dem mehrere Frauen Getränke aus Plastikbechern zu sich nahmen. Die Luft vibrierte vom Puls einer woanders laufenden Musik, und als ich nochmals nach Serena fragte und weiterdirigiert wurde, kam ich zu ihrem Ursprung.
Das Studio selbst erstreckte sich weit nach hinten und endete an einer Fensterwand mit Blick auf einen schmalen Gartenstreifen. Der Boden war aus poliertem Holz und irgendwie gefedert, so daß er fast unter den Füßen wippte. Die Wände waren weiß bis auf die lange linke, die ganz aus Spiegelglas bestand. Die Musik, warm und drängend, lud zu rhythmischem Mitmachen ein.
Serena tanzte mit dem Rücken zum Spiegel. Ihr gegenüber, in drei auseinandergezogenen Reihen, sprang eine Ansammlung durchgehend weiblicher Kunden auf federnden Fußgelenken im Takt, ließ die Arme kreisen und die Beine fliegen. Auf jedem Gesicht Konzentration und Schweiß.»Volle Pulle jetzt«, befahl Serena glücklich, und ihre Schülerinnen steigerten ihren bereits rasenden Einsatz vermutlich bis zum Gehtnichtmehr.
«Großartig, Mädchen, ja toll«, sagte Serena schließlich, hörte zu springen auf und schaltete die Musikbox ab, die nicht weit von dort, wo ich hereingekommen war, in einer Ecke stand. Sie warf mir einen unfreundlichen Blick zu, drehte sich aber strahlend wieder zu den Kundinnen um.
«Wenn eine von euch weitermachen will — gleich kommt Sammy. Ruht euch aus, Mädchen.«
Ein paar von ihnen blieben. Die meisten sahen auf die Wanduhr und strömten keuchend zu einer Tür mit der Aufschrift >Umkleideräume<.
Serena sagte:»Was willst du?«
«Reden.«
Sie war bunt anzuschauen, aber abweisend. Leuchtend rosa, langärmliger Bodystocking, weiße Laufschuhe, weißrosa Beinwärmer und ein scharlachrotes Oberteil, das aussah wie ein gekürztes Unterhemd.»Ich gebe dir fünf Minuten«, sagte sie.
Sie war kaum außer Puste. Ein Mädchen, das offenbar Sammy Higgs war, kam in Glitzerblau herein und übernahm die Leitung, und Serena führte mich unwillig durch den Erfrischungsraum zurück in die Eingangshalle und die Treppe hinauf.
«Hier oben läuft gerade nichts. Sag, warum du gekommen bist, und dann geh.«
Oben bot Deanna einer Wandnotiz zufolge Unterricht in Salontänzen an, außerdem» Ballett und Haltung«. Serena stand mit den Händen auf ihren schmalen rosa Hüften da und wartete.
«Malcolm will, daß ich herausfinde, wer Quantum zerbombt hat«, sagte ich.
Sie funkelte mich an.»Na, ich war’s nicht.«
«Entsinnst du dich an den Tag, als der alte Fred den Baumstumpf hochgejagt hat?«
«Nein«, sagte sie. Sie hatte nicht darüber nachgedacht, gar nicht versucht, sich zu erinnern.
«Thomas hat dich auf den Schultern von der Wiese getragen, und der alte Fred ist von der Detonation umgeflogen.«
«Ich weiß nicht, wovon du redest.«
«Warum bist du so feindselig?«»Bin ich nicht. Wo ist Daddy?«
«Bei Freunden«, sagte ich.»Deine Feindseligkeit betrübt ihn.«
Sie sagte bitter:»Daß ich nicht lache. Er lehnt uns alle ab, bis auf dich. Und ich wette, du hast Moira umgebracht.«
«Er lehnt euch nicht ab«, sagte ich.»Und ich war’s nicht.«
«Er hat uns alle rausgeworfen. Ich hatte ihn lieb, als ich klein war. «Tränen traten plötzlich in ihre Augen, und verärgert schüttelte sie sie weg.»Er konnte mich nicht schnell genug loswerden.«
«Er hätte dich behalten, aber das ging nicht, weil Alicia vor Gericht das Sorgerecht erstritten hat.«
«Er wollte mich nicht«, widersprach sie heftig.»Das hat er nur behauptet, um Mami eins auszuwischen — um ihr weh zu tun. Ich weiß darüber Bescheid.«
«Hast du das von Alicia?«
«Natürlich. Daddy konnte es gar nicht erwarten, uns los zu sein, Mami los zu sein, sich wieder zu verheiraten, alles… alles, was von uns war, aus dem Haus zu werfen, die ganzen schönen Zimmer rauszureißen… uns auszuradieren.«
Sie war leidenschaftlich erfüllt von den alten Gefühlen, die auch nach zwanzig Jahren noch schwelten. Ich erinnerte mich, wie verstört ich war, als Alicia die Küche meiner Mutter herausgerissen hatte, wie betrogen und beraubt ich mir vorkam. Ich war damals sechs, wie Serena auch, und ich wußte es noch genau.
«Gib ihm eine Chance«, schlug ich vor.
«Die habe ich ihm gegeben. Nach Moiras Tod habe ich ihm meine Hilfe angeboten, und er wollte mich immer noch nicht. Und du siehst doch, wie er sich benimmt«, sagte sie.»Was für Geld er verschwendet. Wenn er meint, daß mich seine blöden Stipendien auch nur im geringsten kratzen, ist er ein Idiot. Du kannst vor ihm kriechen, wie du lustig bist, aber ich werde das nicht tun. Soll er sein Drecksgeld behalten. Ich kann ohne es auskommen.«
Sie sah hart und verbohrt aus den Augen. Der alte Herr in uns allen, dachte ich.
«Du hast deine fünf Minuten gehabt«, sagte sie. Mit raschen Schritten war sie an mir vorbei und peilte die Treppe an.»Bis zur Beerdigung.«
«Wessen Beerdigung?«fragte ich, ihr folgend.
«Irgendeiner«, meinte sie dunkel und huschte schwerelos die Treppe hinunter, als wäre Gleiten normaler als Gehen.
Bis ich zur Eingangshalle gelangte, war sie durch die weiße Flügeltür verschwunden. Ihr nachzulaufen hatte keinen Sinn. Ich verließ Deannas Studio mit dem Gefühl, nichts erreicht zu haben, ging bleischweren Mutes wieder zum Wagen und fuhr nach Wokingham, um bei Ferdinand vorbeizuschauen.
Ich hoffte fast, ihn nicht anzutreffen, aber er war da. Er kam stirnrunzelnd zur Tür, weil ich ihn bei der Arbeit am Computer unterbrochen hatte, und ließ mich widerwillig ein.
«Wir haben nichts zu sagen«, sagte er, hörte sich jedoch eher resigniert als abweisend an, halb entspannt, wie er es in meiner Wohnung gewesen war.
Er führte mich in das vordere, an der Straße nach Reading gelegene Zimmer des Bungalows, den er und Debs gekauft hatten. Das vordere Zimmer war sein Büro, ein ganz natürliches Arrangement für Ferdinand, denn auch Malcolm hatte immer schon daheim ein Büro gehabt.
Der Rest des Bungalows, den ich erst zwei- oder dreimal gesehen hatte, war karg möbliert, entsprechend Debs’ und Ferdinands gemeinsamer Abneigung gegen Schmutz und Enge. Eins der drei Zimmer stand völlig leer, das zweite enthielt ein Gästebett und eine Kommode (für Serenas Besuche), und im dritten, ihrem Schlafzimmer, gab es eine Matratze auf einer
Plattform und eine Wand aus Schränken und Regalen, die Ferdinand selbst zusammengebaut hatte. Das Wohnzimmer enthielt zwei Sessel, eine Stehlampe, eine Menge Sitzkissen und einen Fernseher. In der blitzblanken Küche stand ein Tisch mit vier Hockern. Sichtbares Leben war nur im Büro, doch selbst dort herrschte in direktem Gegensatz zu Malcolms gemütlichem Durcheinander eine spartanisch strenge Ordnung.
Der Bildschirm von Ferdinands Computer zeigte diverse Grafiken. Er warf einen Blick darauf und wandte sich mit einiger Ungeduld wieder zu mir.
«Was willst du?«fragte er.»Ich habe viel zu tun, da ich auf einem Lehrgang war.«
«Kann das nicht noch warten«- ich deutete auf den Bildschirm —,»oder was du sonst machst? Speicher es ab, und laß uns irgendwo was essen gehen.«
Er schüttelte den Kopf und sah auf seine Uhr. Sagte dann unentschlossen:»Na, essen muß ich wohl «und fingerte an dem Computer herum.»In Ordnung. Eine halbe Stunde, höchstens.«
Ich fuhr uns in die Stadtmitte, und er wies auf eine Kneipe mit Parkplatz. Der Schankraum war voll von Geschäftsleuten, die hier Mittagspause machten, und ich bekam nach längerem höflichem Gedrängel Scotch und Sandwiches. Ferdinand hatte einen Tisch ergattert, den er mit verkniffener Miene von den Abfällen des Vorgastes befreite.
«Also«, sagte ich und drückte ihm, als wir uns setzten, seinen Drink in die Hand,»Malcolm möchte, daß ich rausfinde, wer versucht, ihn umzubringen.«
«Ich versuche das nicht. «Gleichgültig trank er einen Schluck.
«Entsinnst du dich, wie der alte Fred damals die Baumstrünke gesprengt hat? Als wir so zwölf oder dreizehn waren? Wie die Explosion Fred umgehauen hat?«
Er starrte mich an:»Ja, ich entsinne mich«, sagte er langsam.
«Aber das ist Jahre her. Es kann nichts mit dem Haus zu tun haben.«
«Wieso nicht? Der Knall hat uns sehr beeindruckt. Erinnerungen halten mehr oder weniger ewig, sie müssen bloß ausgegraben werden. Der Sprengstoffexperte, der in Quantum arbeitet, hat mich gefragt, ob ich wüßte, was Kordit ist, und mir fiel der alte Fred ein.«
Ferdinand wurde ebenfalls schon fündig.»Schwarzpulver… in einer Kiste.«
«Ja, es ist immer noch im Geräteschuppen. Noch verwendungsfähig, aber es wurde nicht für das Haus benutzt. Jetzt gehen sie davon aus, daß es ein selbstgemachter Sprengstoff namens ANFO war.«
Ferdinand war sichtlich betroffen und sagte nach einer Weile:»Ich hatte noch gar nicht darüber nachgedacht… was es war.«
«Weißt du, was ANFO ist?«fragte ich.
Er verneinte zögernd, und ich dachte bei mir, daß er nicht ehrlich war. Vielleicht hatte er das Gefühl, Wissen könnte als Schuld ausgelegt werden. Ich mußte ihn aus seiner Unentschiedenheit aufrütteln. Ihn zum Verbündeten gewinnen, wenn ich konnte.
«Malcolm hat ein neues Testament aufgesetzt«, sagte ich.
«Und wahrscheinlich alles dir vermacht«, höhnte er bitter.
«Nein«, sagte ich.»Wenn er unter normalen Umständen stirbt, erben wir alle gleich. «Ich hielt inne und fügte eine Erfindung hinzu.»Bringt ihn jemand um, geht alles an karitative Einrichtungen. Wie wär’s also, wenn du dich ans Telefon klemmst und die ganze Sippe anhältst, mir beim Aufspüren desjenigen zu helfen, der sie um ihre Zukunft zu betrügen versucht?«