14


Ich kann nicht fassen, dass Luke mir nichts von Sage Seymour erzählt hat.

Nie, nie, niemals würde ich ein so großes Geheimnis vor ihm haben. Ich bin richtig schockiert. Meint er, dass eine Ehe so funktionieren kann? Indem der eine einen Filmstar kennt und dem anderen nichts davon erzählt?

Selbstverständlich darf ich ihm nicht sagen, dass ich was weiß, denn damit würde ich Bonnies Vertrauen missbrauchen. Aber ich darf ihm hin und wieder böse Blicke zuwerfen, als wollte ich sagen: »Na, da hat wohl jemand ein mächtig großes Geheimnis, was?«

»Becky, stimmt irgendwas nicht?« Luke sieht mich verwundert an, als er an mir vorbeikommt, mit zwei riesigen Tragetüten auf dem Weg zum Möbelwagen. Die Umzugshelfer sind seit einer Stunde hier, und wir haben fast alles eingepackt.

»Nein!« , sage ich spröde. »Was sollte denn wohl nicht stimmen?«

Luke mustert mich einen Moment, dann seufzt er. »Oh, Gott. Jetzt verstehe ich. »Er stellt die Tüten ab und nimmt mich in die Arme. »Ich weiß, dass der Tag heute für dich nicht einfach ist. Natürlich wird es schön, wenn wir erst unser eigenes Zuhause haben, aber hier waren wir auch sehr glücklich! Eine Ära geht zu Ende.«

»Es geht nicht um das Ende einer Ära!«, möchte ich ihn anschreien. Wieso sollte mich das interessieren? Es geht um: »Wieso hast du mich nicht dem berühmten Filmstar vorgestellt?«

Ich kann nicht fassen, dass wir eine dermaßen einmalige Gelegenheit verpasst haben. Wir hätten längst alle zusammen essen gehen können. Wahrscheinlich hätten wir uns richtig gut verstanden. Sage und ich hätten Telefonnummern ausgetauscht und wären total gute Freundinnen geworden, und sie hätte mich in ihr Haus nach Malibu eingeladen, wo sie diesen pink gekachelten Swimmingpool hat. Der sieht einfach unglaublich aus.

Ich sehe uns förmlich, auf Luftmatratzen dümpelnd, mit Smoothies in der Hand, über das Leben plaudernd. Sie hätte mir erklären können, wie sie diese unfassbare Farbe in ihr Haar bekommt, und ich hätte ihr genau erklären können, was mit ihrem letzten Freund schief gelaufen ist. (Denn ich bin kein bisschen der Meinung dieses Kolumnisten von Reat! Die Trennung war nicht unvermeidlich!) Und dann hätten wir shoppen gehen können und wären von Paparazzi fotografiert worden und hätten mit Kopftüchern oder irgendwas einen total neuen Trend ausgelöst.

Aber Luke schließt mich aus. Vorsätzlich. Er hat keine Überraschungsparty verdient. Ich bin so übellaunig, dass ich es ihm fast sagen möchte.

»Becky?« Ich blicke auf und sehe Jess in der Auffahrt. »Viel Glück mit eurem neuen Haus«, sagt sie nüchtern. »Hier ist unser Einzugsgeschenk.«

Sie reicht mir eine riesige, pralle Tüte aus dickem, braunem Papier, und ich spähe hinein. Verdammt. Was ist das?

»Wow, danke! Ist das ... Zuckerwatte?«, sage ich unsicher.

»Dämmmaterial«, sagt Jess. »In diesem Land sind die Häuser erschreckend schlecht isoliert. Verarbeitet es in eurem Dach! Es spart Energie.« »Ausgezeichnet!« Sanft tätschle ich die Tüte. »Und wie geht es dir? Wir haben uns lange nicht gesehen.«

»Ich war bei Freunden zu Besuch. Ich versuche, nicht länger als eine Nacht am Stück hier zu sein.« Jess spricht leise, mit düsterer Stimme. »Sie treibt mich in den Wahnsinn. Tom auch.«

»Janice?«, flüstere ich mitfühlend zurück. »Redet sie immer noch davon, dass ihr endlich ein Baby kriegen sollt?«

»Schlimmer! Sie weiß, dass sie nicht mehr davon anfangen darf, weil Tom sie niederbrüllt. Also ist sie zu anderen Maßnahmen übergegangen.«

»Was für Maßnahmen denn?«, sage ich neugierig.

»Neulich hat sie mir diesen Kräuterdrink gemacht. Sie meinte, ich würde so einen abgespannten Eindruck machen. Aber ich traue ihr nicht, also habe ich im Netz nachgesehen. Es ist eine natürliche Fruchtbarkeitsarznei. Ein Aphrodisiakum. Sie sieht empört aus. »Tom hatte schon drei Becher davon getrunken!«

»Gibt's ja nicht!« Ich möchte lachen, aber Jess ist so wütend, dass ich mich nicht traue. »Ich wünschte, wir würden auch in unser eigenes Heim ziehen.« Wehmütig betrachtet sie den Möbelwagen.

»Und warum tut ihr es nicht?«

»Wir wollen in ein paar Wochen nach Südamerika zurück.« Jess zuckt mit den Schultern. »Es wäre Unsinn. Und dafür haben wir kein Geld übrig. Aber ich sage dir, wenn sie noch einmal so was anzettelt ... «

»Kommt und wohnt bei uns!« Mitfühlend drücke ich ihren Arm. »Es wird bestimmt lustig, und ich verspreche dir, dass ich dir kein Fruchtbarkeitsmittel verabreiche.«

»Wirklich?« Jess macht ein überraschtes Gesicht. »Aber Mum und Dad sagen, man darf euch erst besuchen, wenn euer Haus fertig ist.«

»Äh ... so ungefähr.« Ich räuspere mich.

Ich hatte noch keine Gelegenheit, Jess die Lage zu erklären. Ich rufe sie nachher an, wenn wir in unserem gemieteten Haus sind.

»Abfahrbereit?«, ruft Luke. Er hat unser Auto gestern am neuen Haus geparkt, damit wir im Möbelwagen mitfahren können. Das ist das Allercoolste überhaupt. Der Wagen hat vorn zwei Sitzreihen, sodass wir alle Platz finden, sogar Minnie. Sie sitzt schon mit ihrer Snackbox angeschnallt im Kindersitz und schenkt dem Fahrer eine Rosine nach der anderen. (Er heißt Alf und scheint glücklicherweise ein ausgesprochen geduldiger Mensch zu sein.)

Wir sollten uns echt einen Laster kaufen, denke ich verträumt.

Ich meine, es wäre das perfekte Familienauto. Man muss sich nie wieder Gedanken darum machen, ob man vielleicht zu viel eingekauft hat. Wir könnten alle vorne sitzen, und die Leute würden uns Die Familie im coolen Möbelwagen nennen, und ...

»Becky?«

Oh. Ups. Alle warten.

Ich gehe zu Mum hinüber und schließe sie in die Arme. »Bye, Mum. Und vielen Dank, dass ihr uns so lange ausgehalten habt.« »Ach, Schätzchen.« Mum winkt ab. »Sei nicht albern.« Sie sieht Dad an. »Wollen wir ... ?«

Dad nickt und räuspert sich unsicher. »Bevor ihr abfahrt, möchte ich noch ein paar Worte sagen«, beginnt er. Luke steigt mit verdutzter Miene aus dem Lkw, und ich zucke mit den Schultern. Ich hatte keine Ahnung, dass Dad eine Rede halten wollte.

»Ich dachte eigentlich, dieser Tag würde nie kommen.« Dads Stimme hallt über die gepflasterte Auffahrt. »Unsere Tochter hat ein Haus gekauft!« Er macht eine kurze Pause. »Wir sind sehr, sehr stolz, habe ich recht, Jane?«

»Wir haben immer gesagt: Wer um alles in der Welt würde unserer kleinen Becky eine Hypothek geben?«, stimmt Mum mit ein. »Wir waren ziemlich in Sorge, Liebes! Aber jetzt habt ihr ein hübsches Häuschen in Maida Vale!«

Ich traue mich nicht, Luke anzusehen. Schweigend stehe ich da, kaue auf meiner Lippe herum und fühle mich zunehmend unwohl. Ich meine, ich weiß ja, dass wir bald ein eigenes Haus haben werden. Also habe ich nicht direkt gelogen. Aber trotzdem.

»Und deshalb, aus diesem Anlass ... » Dad räuspert sich und klingt plötzlich so erstickt. »Becky, wir möchten gern, dass du das hier bekommst.« Er reicht mir ein Geschenk, das in Seidenpapier eingewickelt ist.

»Oh, mein Gott! Das wäre doch nicht nötig gewesen!« Ich reiße das Papier ab ... und es ist das Bild von der Frau mit den Blumen. So lange wie ich denken kann, hängt das Gemälde oben auf dem Treppenabsatz.

»Was ... wie?« Sprachlos blicke ich auf. »Das kann ich nicht annehmen! Es gehört hierher!«

»Ach, Schätzchen.« Plötzlich bekommt Mum so einen verschleierten Blick. »Als du klein warst, hast du immer gesagt, du wolltest dieses Bild in deinem Zimmer haben. Und ich habe immer gesagt: »Du kannst es haben, wenn du erwachsen bist und dein eigenes Haus hast.« Und das bist du nun, Liebes: eine erwachsene Frau mit einem eigenen Haus.«

Noch nie in meinem ganzen Leben hatte ich ein schlechteres Gewissen.

»Tja ... danke, Mum«, stottere ich. »Ich fühle mich wirklich geehrt. Es wird einen Ehrenplatz in unserem Haus bekommen.«

»Vielleicht in dieser hübschen Diele!«, schlägt Mum vor. »Es würde so gut zum Kamin passen.« »Ja, vielleicht.« Inzwischen stehen meine Wangen in Flammen.

Oh, Gott. Es ist unerträglich. Wir müssen dem Anwalt Druck machen und die ganze Angelegenheit beschleunigen. Und sobald wir im richtigen Haus sind, laden wir sie ein und hängen das Bild auf, und alles wird gut.

»Du sagst uns Bescheid, wann wir euch besuchen können!«, sagt Mum beschwörend. »Nun ... wir kommen und besuchen euch ganz bald«, sage ich und weiche einer direkten Antwort aus. »Ich ruf dich an, Mum.«

Wir klettern beide in die Kabine des Möbelwagens, und AIf sieht zu uns herüber. Er hat so weiße Haare, dass er ohne Weiteres hundertdrei sein könnte, obwohl er offenbar erst einundsiebzig ist. Er hat uns bereits mitgeteilt, dass er eine kaputte Hüfte, eine lädierte Schulter und ein schwaches Herz hat, weshalb die anderen Männer ihn drüben in Empfang nehmen, um beim Ausladen der Kisten zu helfen. »Fertig?«, krächzt er, und sein Goldzahn schimmert.

»Ja, los geht's!«

»Möchte das junge Fräulein die Rosinen vielleicht wiederhaben?« Er hat die ganze Hand voll, wie ich plötzlich merke. Ein paar davon zerkaut.

»Minnie!«, schimpfe ich. »Tut mir so leid. Kommen Sie, geben Sie her ...« Eilig lege ich die Rosinen wieder in Minnies Snackbox, dann atme ich aus, als der Möbelwagen aus der Auffahrt in die Straße einbiegt.

»Nun, Madame Hausbesitzerin«, sagt Luke sarkastisch. »Sie müssen ja sehr stolz sein.«

»Halt den Mund!« Ich nehme meinen Kopf in beide Hände. »Hör zu ... es wird alles gut.« Ich warte zwei Tage, dann rufe ich zu Hause an und denk mir irgendwas aus, dass das Haus renoviert werden muss und wir uns irgendwo einmieten. Es wird schon gehen. Und wenn wir das Haus dann haben, laden wir alle zum Essen ein. «

»Vielleicht zum Weihnachtsessen.« Luke nickt. »Nächstes Jahr.«

»Was?« Entsetzt starre ich ihn an. »Sei nicht albern! So lange wird es doch nicht dauern, bis wir das Haus haben. Der Anwalt meinte, es müsste sich alles schnell klären lassen!«

»Was in der Anwaltssprache >Weihnachten nächstes Jahr< bedeutet.«

»Nein, tut es nicht ...«

»Ist das Ihre Mum?«, unterbricht uns Alf beiläufig.

»Bitte?«

»Blauer Volvo? Die verfolgen uns.« Er nickt zum Außenspiegel, und ich starre ungläubig hinein. Da sind sie. Fahren uns hinterher, direkt hinter uns. Was soll das werden?

Ich nehme mein Handy und tippe Mums Nummer.

»Mum, was macht ihr?«, sage ich ohne Einleitung.

»Ach, Becky!«, ruft sie. »Jetzt ist die ganze Überraschung hin! Graham, ich habe dir doch gesagt, dass du weiter zurückbleiben sollst! Sie haben uns gesehen!« »Mum, hör gut zu!« Ich weiß, ich klinge barsch, aber ich kann nichts dagegen tun. »Ihr sollt nicht mitkommen! Wir haben doch gesagt, wir geben euch Bescheid, wenn ihr uns besuchen könnt.«

»Becky, Schätzchen!« Mum lacht. »Das ist euer erstes Haus! Euer erstes eigenes Zuhause! Es ist uns doch egal, in welchem Zustand es ist!«

»Aber ... «

»Liebes, ich weiß, was du gesagt hast. Und wenn ich ehrlich sein soll, wollten wir euch auch erst mal allein lassen. Aber dann konnten wir einfach nicht widerstehen! Wir konnten euch nicht einfach so wegfahren lassen, ohne euch zu helfen. Ich habe ein paar Rosinenbrötchen dabei, und Dad bringt sein Werkzeug mit. Wir helfen euch. In null Komma nichts ist alles klar Schiff ... «

Mein Herz rast. Unmöglich kann ich sie zu irgendeinem schäbigen Mietshaus mitnehmen. Nicht nachdem Dad diese Abschiedsrede gehalten hat.

»Wir könnten sogar eine kleine Runde drehen und eure neuen Nachbarn kennenlernen!« Mum ist noch immer ganz aufgekratzt. »Vielleicht findest du dort gute Freunde, Becky. Ich meine, sieh dir Janice und mich an -nach dreißig Jahren immer noch befreundet. Ich kann mich noch gut an den Tag erinnern, als wir eingezogen sind und Janice mit einer Flasche Sherry herüberkam ... oh, Dad fragt, ob du ihm die Adresse noch mal sagen kannst, falls wir euch verlieren.«

Mein Hirn arbeitet auf Hochtouren.

»Mum, ich kann dich nicht mehr hören ... die Verbindung ist so schlecht ... « Ich reibe das Handy an meiner Tasche, um irgendwie ein lärmiges Geräusch zu machen, dann stelle ich es ab und sehe Luke an. »Alles okay. Sie wissen die Adresse nicht.« Eindringlich wende ich mich an Alf. »Wir müssen sie abhängen.«

»Abhängen?«

»Ja, wie im Krimi. Biegen Sie in eine Seitenstraße oder irgendwas ab.« »Seitenstraße?« Er klingt verdutzt. »Was für eine Seitenstraße denn?«

»Ich weiß nicht! Suchen Sie eine! Sie wissen schon, wie bei einer Verfolgungsjagd!« Guckt er denn keine Filme?

»Ich glaube, meine Frau möchte, dass Sie sehr schnell durch eine schmale Einbahnstraße fahren, entgegen der vorgeschriebenen Richtung, einen Obstkarren umkippen, sämtliche Umstehenden zum Schreien animieren, sich einmal mit dem Wagen überschlagen und auf diese Weise meinen Schwiegereltern entkommen«, sagt Luke trocken. »Ich hoffe doch, Sie sind Möbelwagen-Stuntman?«

»Halt die Klappe!« Ich boxe ihn an die Brust. »Bist du dir darüber im Klaren, in welcher Lage wir uns befinden?«

»Wenn es nach mir ginge, wären wir nicht in dieser Lage«, sagt er ganz ruhig. »Denn dann hätten wir deinen Eltern von vornherein die Wahrheit gesagt.«

Wir kommen zu einer roten Ampel. Mum und Dad halten neben uns und winken fröhlich, und ich winke mit krankem Grinsen zurück.

»Okay«, sage ich zu Alf. »Wenn die Ampel umspringt, geben Sie Gas!«

»Wertes Fräulein, das hier ist ein Möbelwagen, kein Ferrari.«

Die Ampel wird gelb, und ich gestikuliere >Los, los!<, mit beiden Händen. Alf wirft mir einen müden Blick zu und legt in aller Ruhe den ersten Gang ein. Ehrlich. Am liebsten würde ich ihm anbieten, dass ich das Fahren übernehme.

»Tut mir leid, Leute. Tankstop.« Alf fährt zu einer Tankstelle, und natürlich folgen uns Mum und Dad in ihrem Volvo. Kurz darauf ist Mum schon ausgestiegen, kommt herüber und klopft an die Tür der Fahrerkabine.

»Alles in Ordnung?«, ruft sie herauf. »Natürlich!« Ich kurble die Scheibe herunter und lächle. »Wir müssen nur tanken.« »Denn ich habe hier Janice am Telefon. Du hättest doch nichts dagegen, wenn sie mitkäme, oder, Liebes?«

Was?

Bevor ich antworten kann, hat Mum sich schon wieder dem Telefon zugewandt. »Ja, wir sind an dieser BP mit der Cafeteria ... bis gleich! Janice und Martin waren gerade unterwegs, auf dem Rückweg von ihrem Yogakurs ...« Sie wendet sich mir zu. »Da kommen sie schon!« Euphorisch winkt sie, als ein schwarzer Audi auf die Tankstelle einschert. »Juuuuhu!«

»Becky!« Janice lehnt sich aus dem Fenster, als der Audi näher kommt. »Du hast doch nichts dagegen, oder, Liebchen? Denn deine Mum hat uns alles über das Haus erzählt. Wie aufregend!«

»Ihr folgt uns«, erklärt Mum Martin. »Und wir folgen dem Möbelwagen.«

Ich fasse es nicht. Wir fahren im Konvoi.

»Gib Maida Vale in dein Navi ein«, kommandiert Mum. »Denn falls wir uns doch verlieren sollten ... Becky, wie ist die genaue Adresse?«, ruft sie plötzlich zu mir herüber.

»Ich ... äh ... ich sims sie dir ... «

Ich muss ihr die Wahrheit sagen. Ich muss einfach. Hier und jetzt.

»Die Sache ist, Mum ...«, Ich schlucke und werfe hilfesuchend einen Blick zu Luke hinüber, doch der ist ausgestiegen und steht draußen vor der Tankstelle, mit dem Handy in der Hand.

»Nein, das ist verdammt noch mal nicht okay!«, höre ich ihn sagen.

Oh, Gott. Er sieht richtig wütend aus. Was ist passiert?

»Becky.« Ich zucke zusammen, als Janice aus heiterem Himmel auftaucht und mich durch die Scheibe anstarrt. Sie trägt ein knallpinkes Yoga-Trikot, bei dem einem die Augen tränen, und dazu bunte Kniestrümpfe und Clogs. Ein dürres, neunzehnjähriges Model könnte mit diesem Look vielleicht noch so eben durchkommen. »Ich wollte nur mal kurz mit dir allein sprechen, wo Luke gerade nicht da ist.« Fast flüstert sie. »Es geht um die P.A.R. T.Y.. Neulich habe ich Hello gelesen. Über diese Royal Fashion Party. Hast du das gesehen?«

Ich nicke abwesend, behalte Luke im Auge. Er hat sich vom Möbelwagen entfernt, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass er jemanden anschreit. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass es mir lieber wäre, wenn Minnie seine Ausdrücke nicht hört.

Streitet er mit Sage Seymour? Bricht er mit ihr, bevor ich überhaupt Gelegenheit hatte, sie kennenzulernen und ihre beste Freundin zu werden? Wenn ja, bringe ich ihn um.

» ... und die hatten einen Schminkbereich für die zahlreichen Prominenten!«, endet Janice mit schwungvoller Geste. »Verstehst du?«

Da muss ich wohl irgendwas verpasst haben. »Entschuldige, Janice.« Ich lächle geknickt. Ich hab nicht richtig zugehört.

»Ich bin Visagistin, Liebchen«, sagt sie, als sei es offensichtlich. »Und ich würde mich gern freiwillig melden und selbst einen kleinen Make-up-Bereich einrichten. Ich könnte alle Gäste schminken! Es wäre mein Geschenk für Luke!«

Mir fehlen die Worte. Janice ist mitnichten Visagistin. Sie hat einen Kurs an der Volkshochschule belegt und gelernt, wie man Rouge und Highlighter beidhändig auf die Wangen einer Plastikpuppe schmiert. Und jetzt will sie auf meiner Party die Gäste schminken?

»Janice ... das ist wirklich lieb von dir«, sage ich so überzeugend wie möglich. »Aber du sollst doch mitfeiern.“

»Wir könnten in Schichten arbeiten!«, sagt sie triumphierend. »Weißt du, ich habe da so ein Team beisammen! Wir waren alle im selben Kurs, also verwenden wir auch alle dieselbe Technik.«

Wenn ich mir ein Team aus mehreren Janices vorstelle, jede mit Glitzerlidschatten in Händen, wird mir etwas schwindlig.

»Gut«, presse ich hervor. »Also, das wäre ja wirklich ... was.«

Okay. Das muss mit auf meine Liste, ganz oben. Lass NICHT zu, dass Janice die Gäste schminkt.

»Ich geh lieber«, haucht sie theatralisch. »Luke nähert sich bei ein Uhr.« Bevor ich noch etwas sagen kann, verdrückt sie sich zu ihrem Auto, während Luke wieder in den Möbelwagen steigt.

»Unglaublich.« Er atmet schnell, und sein Unterkiefer ist steinhart. » Unglaublich. «

»Was ist denn?«, sage ich nervös. »Aber nicht fluchen, wenn Minnie dabei ist.«

»Becky, ich habe eine schlechte Nachricht.« Luke sieht mich offen an. »Es wird nichts mit dem Haus. Wir können nicht einziehen.«

Eine Nanosekunde lang glaube ich, er macht Witze. Aber er zuckt mit keiner Wimper.

»Aber ... «

»Irgendein Vollidiot beim Maklerbüro hat es an andere vermietet. Die haben es schon übernommen, und unser Makler hat es eben erst gemerkt.« »Aber, es ist doch unser Haus!« Meine Stimme wird ganz laut vor Panik. »Wir brauchen dieses Haus!«

»Ich weiß. Und glaub mir, die wissen es inzwischen auch. Sie suchen uns innerhalb der nächsten Stunde eine Alternative, sonst checken wir auf deren Kosten in ein Hotel ein.« Er atmet aus. »Was für eine Scheiße!«

Mir wird ein bisschen schwindlig. Das kann doch nicht sein!

»Ich sag lieber mal deinen Eltern Bescheid ...« Luke will schon aussteigen. »Nein!«, jaule ich fast. »Das geht nicht!« »Und was schlägst du vor?« Ich sehe, wie Mum mir aus dem Volvo zuwinkt, und im nächsten Augenblick bekomme ich eine SMS.

Können wir los, Liebes?

»Fahren wir einfach nach Maida Vale.« Ich lecke über meine trockenen Lippen. »Wenn wir Glück haben, ruft der Makler uns unterwegs an. Wir improvisieren irgendwas.«

Alf hat sich gerade wieder hinters Lenkrad geklemmt.

»Sind wir so weit?«

»Ja«, sage ich, bevor Luke antworten kann. »Fahren wir. Los geht's.« Wir brauchen eine gute Stunde bis nach Maida Vale, denke ich. Mindestens. In der Zwischenzeit haben die uns ein anderes Haus gesucht, und da fahren wir dann hin, und alles wird gut. Es muss einfach klappen.

Nur dass wir schon nach vierzig Minuten in Maida Vale sind. Ich kann es nicht fassen. Wo ist der ganze Verkehr geblieben? Hat sich denn alles gegen uns verschworen?

Wir fahren die Haupteinkaufsstraße entlang und haben immer noch kein Haus. Äußerlich bin ich merkwürdig ruhig, obwohl mein Herz vor Panik galoppiert. Solange wir fahren, ist alles okay.

»Fahren Sie langsamer«, sage ich Alf zum wiederholten Mal. »Nehmen Sie irgendeine verschlungene Nebenstrecke. Fahren Sie da rein!«, Ich deute auf eine enge, kleine Straße.

»Kein Linksabbieger«, sagt Alf und schüttelt den Kopf.

Wir haben Alf die ganze Geschichte erzählt. Oder zumindest hat er sie sich zusammengereimt, nachdem Luke und der Makler sich angeschrien haben. (Glücklicherweise ist Minnie eingeschlafen. Zweijährige verschlafen einfach alles.« Luke hat angefangen, noch andere Immobilienmakler anzurufen, aber bisher hat niemand ein Haus zur Verfügung, in das man innerhalb der nächsten zwanzig Minuten einziehen könnte. Am liebsten würde ich schreien vor Frust. Wo sind die Häuser alle geblieben? Und wo ist der ganze Verkehr?

Ich blicke in den Rückspiegel, für den Fall, dass Mum und Dad ausgeschert sind oder sich verirrt haben, doch sie sind immer noch da, kleben an uns wie die Kletten. Luke lauscht seinem Telefon, und ich sehe ihm hoffnungsvoll in die Augen, aber er schüttelt nur den Kopf.

»Wohin soll ich denn jetzt fahren?« Alf bleibt an einer Kreuzung stehen, stützt sich mit den Armen auf das vibrierende Lenkrad und sieht mich an.

»Ich weiß nicht«; sage ich verzweifelt. »Könnten Sie einfach ... im Kreis fahren?«

»Im Kreis?«Er wirft mir einen bissigen Blick zu. »Sehe ich aus wie ein Taxifahrer?«

»Bitte. Nur kurz.«

Kopfschüttelnd blinkt AIf links und biegt in eine Wohnstraße ein. Wir fahren an einem Kanal entlang, dann durch eine weitere Wohnstraße und sind mehr oder weniger sofort wieder da, woher wir gekommen sind.

»Das war zu schnell!«, sage ich bestürzt. Und natürlich kommt im nächsten Augenblick eine SMS von Mum:

Liebes, habt ihr euch verfahren? In dieser Straße waren wir schon. Dad fragt nach der Adresse, damit er sie in sein Navi eingeben kann.

»Becky.« Luke hat sein Handy ausgemacht. »Wir können nicht in Maida Vale herumgurken, bis wir ein Haus haben.«

»Kein Glück, Chef?«, sagt AIf. Offenbar ist sein Respekt für Luke gewachsen, seit er mitanhören durfte, wie er den Makler zusammengefaltet hat. Offen gesagt, glaube ich, dass er bei allen bösen Blicken doch seinen Spaß an dem Drama hat.

»Nein«, antwortet Luke. »Becky, wir müssen reinen Tisch machen.«

»Nein. Noch nicht. Lass uns ... lass uns Mittagspause machen!«, sage ich spontan. »Wir suchen uns einen Coffee Shop oder irgendwas. Luke, das ist mein Plan: Ich lenke Mum und Dad ab, und du fährst zum Makler und zwingst ihn, uns ein Haus zu geben.«

Langmütig rollt Alf mit den Augen und versucht schon bald, den Laster in eine Parklücke gegenüber einem Cafe Rouge zu manövrieren. Ich sehe, wie auch die anderen halten, und Janice steigt aus, um Martin einzuweisen, mit viel Winken und Zeigen und »Vorsichtig, Martin!«.

Ich schnalle Minnie los, und wir steigen alle aus und strecken unsere Beine. Ich fühle mich, als hätten wir eine mörderische Tour hinter uns und wären nicht nur von Oxshott hergefahren.

»Hi.« Ich winke den anderen, versuche, heiter und entspannt zu wirken, als wäre das von Anfang an der Plan gewesen.

»Was ist los, Schätzchen?« Mum kommt als Erste bei uns an. »Sind wir da?« Sie mustert die Wohnungen über den Läden, als würde sich eine davon plötzlich als Wohnhaus mit Keller und Garten und zwei Stellplätzen entpuppen.

»Typisch Becky, über einem Shop einzuziehen.« Martin prustet über seinen eigenen Witz. »Nein, hier wohnen wir doch nicht!« Ich lache so natürlich, wie ich kann. »Wir machen Mittagspause.«

Alles schweigt perplex.

»Mittagspause, Liebchen?«, sagt Janice schließlich. »Aber es ist erst zwanzig nach zehn.«

»Ja, nun. Der ... äh ... Fahrer braucht sein Mittagessen. Gewerkschaftsvorschrift«, improvisiere ich und werfe Alf einen vielsagenden Blick zu. »Stimmt's nicht, Alf?«

»Aber wir müssen doch gleich da sein. Das ist doch Quatsch!« »Ich weiß«, sage ich eilig. »Trotzdem: Die Gewerkschaft ist echt streng. Wir haben keine Wahl.« »Ich kann nichts dafür«, sagt Alf, der mitspielt. »Ich hab mir das nicht ausgedacht.«

»Du meine Güte«, sagt Dad ungeduldig. »So einen Unsinn habe ich ja noch nie gehört.« Er wendet sich Alf zu. »Hören Sie. Könnten Sie Becky nicht am Haus absetzen und dann Ihre Mittagspause machen?«

»Vorschrift ist Vorschrift«, sagt Alf und schüttelt unerbittlich den Kopf. »Wenn ich mich nicht daran halte, komme ich vor ein Disziplinargericht und bin meinen Job los. Ich gehe und mache meine wohlverdiente Pause, und Sie sagen mir Bescheid, wenn Sie so weit sind, dass wir weiterfahren können, okay?« Er zwinkert mir zu und geht in das Cafe Rouge.

Mein Gott, er ist fantastisch. Am liebsten würde ich ihn umarmen.

»Also wirklich!« Mum ist außer sich. »Jetzt wissen wir, was mit diesem Land nicht stimmt! Wer hat sich diese Vorschrift eigentlich ausgedacht? Ich werde an die Daily World schreiben, und an den Premierminister ... « Als wir ins Cafe Rouge marschieren, wirft sie Alf einen bösen Blick zu, und er winkt fröhlich zurück.

»Wir sollten alle ordentlich was bestellen“, sage ich, als wir einen Tisch finden. »Ich meine, wir werden eine ganze Weile hier sein und auf Alf warten. Nehmt ein Sandwich, ein Croissant, ein Steak ... geht alles auf meine Kappe ... Minnie, nein!« Eilig entferne ich die Zuckerwürfel, bevor sie alle nehmen kann.

»Wo ist Luke?«, sagt Mum plötzlich.

»Er ist beim Makler«, sage ich wahrheitsgemäß.

»Holt bestimmt die Schlüssel«, sagt Dad nickend. »Ich glaube, ich nehme ein Panino.«

Ich versuche, die Mittagspause so lange wie möglich auszudehnen. Allerdings möchte niemand schon morgens um zwanzig nach zehn ein Steak, und man kann nicht unendlich viele Croissants essen. Jeder von uns hatte zwei Cappuccinos, und noch immer hat Luke keine gute Nachricht gesimst, und schon jetzt langweilt sich Minnie mit den Sachen aus der Spielzeugkiste. Und nun werden auch noch Mum und Dad zappelig.

»Das ist doch lächerlich!«, sagt Mum plötzlich, als sie sieht, wie sich Alf die nächste heiße Schokolade bestellt. »Ich werde nicht mehr länger darauf warten, dass irgendein Bürokrat von einem Lkw-Fahrer seine Mittagspause zu Ende bringt! Graham, du wartest hier, und Becky und ich gehen zu Fuß. Wir können doch von hier aus laufen, oder, Liebes?«

Nackte Angst packt mich im Nacken.

»Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist, Mum«, sage ich hastig. »Ich denke, wir sollten auf Luke warten und dann alle gemeinsam mit dem Möbelwagen fahren.«

»Sei nicht albern! Wir rufen Luke an und sagen ihm, dass wir direkt hingehen. Auf dem Weg können wir die Schlüssel abholen. Wie ist die Adresse? Ist es weit von hier?«

Mum sammelt schon ihre Sachen zusammen und nimmt Minnies Fäustlinge. Das ist nicht gut. Ich muss dafür sorgen, dass alle im Cafe Rouge bleiben.

»Ich weiß nicht genau, wo es ist«, sage ich eilig. »Wirklich, wir sollten lieber warten. Bestellen wir doch noch einen Kaffee ... «

»Kein Problem!« Janice hat ein kleines, in rotes Leder gebundenes Straßenverzeichnis. »Ich fahre nie ohne irgendwohin«, erklärt sie munter. »Also, wie heißt deine neue Straße, Becky? Ich finde sie im Handumdrehen!«

Mist. Alle starren mich erwartungsvoll an. Sobald ich den Straßennamen sage, laufen sie hin und finden alles raus. »Ich ... äh ...« Ich kratze mich an der Nase, um Zeit zu schinden. »Ich ... kann mich nicht erinnern.« »Du kannst dich nicht erinnern?«, sagt Janice unsicher. »Deine eigene Adresse?« »Schätzchen«, sagt Mum mit kaum verhohlener Ungeduld. »Du musst doch wissen, wo du wohnst!«

»Ich kann mich einfach nur nicht mehr an den genauen Namen der Straße erinnern! Ich glaube, er fangt an mit ... B an füge ich willkürlich hinzu.«

»Ruf doch Luke an!«

»Er geht nicht ran«, sage ich schnell. »Der ist bestimmt beschäftigt.«

Mum und Dad tauschen Blicke, als sei ihnen gar nicht klar gewesen, was für ein Schwachkopf ihre Tochter ist.

»Ich sitze hier nicht länger rum!« Mum schnalzt mit der Zunge. »Becky, du hast gesagt, es liegt ganz in der Nähe von den Läden. Wir spazieren einfach ein bisschen durch die Gegend, und dann wirst du es schon erkennen, wenn wir da sind. Graham, du bleibst hier und wartest auf Luke.«

Sie steht auf. Ich kann nichts machen. Ich werfe Alf einen gequälten Blick zu und rufe: »Wir gehen ein Stück spazieren!«

»Jetzt überleg mal, Becky ...«, sagt Mum, als alle -bis auf Dad -auf die Straße drängen.

»In welcher Richtung liegt es?«

»Äh ... da lang, glaub ich.« Sofort zeige ich in die Richtung, die vom Haus wegführt, und alle traben mir hinterher.

»Ist es in der Barnsdale Road?«Janice fährt mit dem Finger den Index ihres Straßenplans ab. »Barnwood Close?«

»Ich glaube nicht ... «

»Becky, Schätzchen!«, bricht es plötzlich aus Mum hervor. »Wie kann es sein, dass du dich nicht an den Namen deiner eigenen Straße erinnerst? Ihr seid Hausbesitzer! Du musst Verantwortung übernehmen! Du musst ...«

»Daddy!«, ruft Minnie plötzlich freudig. »Daaaaaddy!«

Sie zeigt auf das Büro eines Immobilienmaklers. Da sitzt Luke, im Schaufenster, und macht dem offensichtlich erschütterten Magnus die Hölle heiß.

Dreck. Wieso musste ich hier entlanggehen?

»Ist das euer Makler?« Mum blickt zu dem Schild mit der Aufschrift Ripley & Co. auf. »Na, das passt ja gut! »Wir können einfach reingehen und uns die Schlüssel holen! Bravo, Minnie, mein Schatz!«

»Luke scheint mir ziemlich ärgerlich zu sein«, bemerkt Janice, als Luke wilde Gesten in Magnus' Richtung macht. »Geht es um die Ablöse, Liebes? Denn da kann ich euch nur raten: Lasst die Finger davon. Sollen sie doch den Duschvorhang mitnehmen. Nicht, dass ihr am Ende vor Gericht landet wie mein Bruder ... «

»Komm schon, Becky!« Mum ist schon halb bei der Tür. »Was ist denn?«

Wie angewurzelt stehe ich da.

»Mum ... « Meine Stimme klingt etwas erstickt. »Es gibt da was ... was ich dir sagen muss. Ehrlich gesagt ... ich war nicht ganz ehrlich.« Abrupt bleibt Mum stehen. Als sie sich umdreht, hat sie kleine, rosa Flecken auf den Wangen.

»Ich wusste es. Ich wusste, dass da irgendwas nicht stimmt. Du hast uns etwas verschwiegen, Becky! Was ist es?« Ihre Miene wird lang, als käme ihr plötzlich ein schrecklicher Gedanke. »Ist es kein Einzelhaus?«

»Nein, es ist ein Einzelhaus, aber ...«

»Müsst ihr auf der Straße parken?« Ich höre Janice und Martin scharf einatmen. In Surrey ist einem der eigene Parkplatz heilig. »Nein, das ist es nicht. Es ist. .. « Mein Atem geht so schnell, dass ich kaum sprechen kann. »Es ist. .. «

»Mrs. Brandon.« Ein Mann im Anzug, den ich nicht kenne, kommt aus dem Maklerbüro auf den Gehweg hinausgelaufen. »David Ripley -Geschäftsführender Teilhaber.« Er hält mir seine Hand hin. »Bitte, bleiben Sie doch nicht hier draußen in der Kälte stehen! Lassen Sie mich Ihnen wenigstens eine Tasse Kaffee anbieten. Ich bin mir Ihrer unglücklichen Lage wohl bewusst, aber glauben Sie mir, wir tun alles, was in unserer Macht steht, um Ihnen so bald wie möglich ein neues Zuhause zu beschaffen.«

Ich kann Mum nicht ansehen. Ich kann niemanden ansehen. Jetzt kann mich nur noch ein plötzlicher Tornado retten. »Becky ein neues Zuhause beschaffen?«, wiederholt Mum zögerlich.

»Wir sind untröstlich, was den Irrtum mit dem Mietvertrag angeht«, fährt David Ripley fort. »Ihre Kaution wird natürlich sofort erstattet ... «

»Mietvertrag?« Die Schärfe in Mums Stimme erreicht sogar David Ripley, der sich sogleich zu ihr umwendet.

»Verzeihung, ist das Ihre Mutter?« Er reicht ihr die Hand. »Nett, Sie kennenzulernen. Lassen Sie mich Ihnen versichern, dass wir alles tun, um Ihrer Tochter ein Haus ... «

»Aber sie hat doch ein Haus!«, sagt Mum schrill. »Sie hat ein Haus gekauft! Wir sind hier, um die Schlüssel abzuholen! Was glauben Sie, was wir sonst hier in Maida Vale wollen?«

David Ripley blickt verwirrt von Mum zu mir.

»Verzeihung ... habe ich da irgendwas verpasst?«

»Nein«, sage ich, schwitzend vor Scham. »Meine Mutter hat nicht ... alles mitbekommen. Ich muss mit ihr sprechen.« »Ah.« David Ripley hebt die Hände mit vorsichtiger Geste und zieht sich in sein Büro zurück. »Ich bin da drinnen, wenn Sie mich brauchen.« »Mum ... « Ich schlucke. »Ich weiß, ich hätte es dir sagen sollen ... «

»Martin, murmelt Janice, und die beiden ziehen sich diskret zurück, um sich das Schaufenster eines Reisebüros anzusehen. Mum steht nur da, runzelt die Stirn -aus Unverständnis und Enttäuschung.

Plötzlich ist mir zum Heulen zumute. Meine Eltern waren so stolz auf mich, weil ich mein erstes Haus gekauft habe. Allen ihren Freunden haben sie es erzählt. Und hier stehe ich nun und habe alles versaut, wie üblich.

»Es gab eine Verzögerung mit dem Haus«, nuschle ich und starre auf den Bürgersteig. »Und wir haben uns nicht getraut, es euch zu sagen, weil ihr so genervt davon wart, dass wir euer Haus so vollgerümpelt haben. Also haben wir uns irgendwo eingemietet, aber dann wurde daraus auch nichts. Und jetzt ... sitzen wir auf der Straße.« Ich zwinge mich, den Kopf zu heben. »Verzeih mir.«

»Wir sind den ganzen Weg hierhergefahren ... und ihr habt gar kein Haus?«

»Ja. Ich meine, wir kriegen eins, aber ... «

»Du meinst, du hast uns absichtlich getäuscht? Du hast Dad seine kleine Ansprache halten lassen? Du hast dir von uns das Bild schenken lassen? Und es war alles gelogen«

»Es war nicht wirklich gelogen ..

»Und was war es dann?«, explodiert Mum plötzlich, und ich schrecke zurück. »Wir latschen hier durch Maida Vale. Janice und Martin haben sich extra die Mühe gemacht. Wir alle haben Einzugsgeschenke dabei ...«

»Aber ich habe euch gesagt, dass ihr nicht mitkommen sollt!«, sage ich trotzig, doch Mum scheint mich nicht zu hören.

»Alles, was du tust, Becky, endet in einem Fiasko! Alles sind nur Träumereien! Was wird dein Vater dazu sagen? Weißt du, wie enttäuscht er sein wird?«

»Wir kriegen doch aber ein Haus!« sage ich verzweifelt. »Bestimmt, versprochen! Und bis dahin könnt ihr das Bild wiederhaben.«

»Es ist genauso wie mit George Michael ... «

»Ist es nicht!«, falle ich ihr ins Wort. »Es ist nicht schon wieder dasselbe wie mit George Michael.« Wütend wische ich mir eine Träne aus dem Auge. »Es gibt nur ... ein kleines Problem.«

»Es gibt immer ein kleines Problem, Liebes! Immer!« Mum ist außer sich. »Mit der Party wird es bestimmt genauso ... «

»Nein, wird es nicht!«, brülle ich beinah. »Und ich habe euch nicht darum gebeten, dass ihr den ganzen Weg hierherfahrt, oder? Und auch nicht, dass ihr mir was schenkt! Und wenn du nicht zu Lukes Party kommen möchtest, Mum, dann musst du es auch nicht! Ehrlich gesagt: Lass es lieber sein!«

Inzwischen laufen mir Tränen über die Wangen, und ich sehe, dass Janice und Martin angestrengt die Sonderangebote nach Marokko studieren, als wären sie geradezu fasziniert davon.

»Nein!« Betrübt blickt Minnie zu mir auf. »Nein wein!«

»Okay.« Plötzlich wird Lukes Stimme laut, und ich blicke auf und sehe ihn zu uns herüberkommen. »Ich hab's geregelt. Sie bringen uns unter ... « Er stutzt und sieht von einem zu anderen. »Was ist los? Was ist passiert?«

Mum sagt nichts, kneift nur den Mund zusammen.

»Nichts«, murmle ich trübsinnig. »Wir haben nur ... geredet.«

»Aha«, sagt Luke, offensichtlich verwirrt. »Na gut, ich habe eine Suite mit drei Zimmern im West Place ausgehandelt, bis sie uns ein neues Quartier besorgt haben.«

»Das West Place!« Janice wendet sich vom Schaufenster des Reisebüros ab. »Das war im Fernsehen! Weißt du noch, Martin? Dieses hübsche, neue Hotel mit dem Pool auf dem Dach? Mit den vielen Mosaiken?«

»Na ja, ich hab mich nicht abspeisen lassen.« Luke lässt ein Lächeln blitzen. »Wir können heute einziehen, und unsere Sachen werden eingelagert ... « Sein Satz verklingt mit der Spannung, die in der Luft liegt. »Und ... ist dir das recht? Becky?«

»Mum sollte da wohnen.« Die Worte kommen aus meinem Mund, bevor ich sie noch richtig durchdacht habe. »Mum und Dad sollten da einziehen.«

»O-kaaay ... «, sagt Luke zögernd. »Nun, das wäre sicher eine Möglichkeit ... «

»Wir haben Mum und Dad so lange auf der Pelle gehockt, und jetzt haben wir sie auch noch enttäuscht. Wir sollten ihnen das Luxusapartment überlassen ... «

Ich starre ins Leere. Ich bringe es nicht fertig, Mum anzusehen. Lukes Blick geht zwischen uns hin und her, sucht nach Anhaltspunkten. Ich sehe, dass Janice ihm lautlos etwas zu sagen versucht.

»Jane?«, sagt Luke schließlich. »Wäre dir das recht? Eine Weile im West Place zu wohnen?«

»Es wäre mir sehr recht«, sagt Mum mit abgehackter, unnatürlicher Stimme. »Danke, Luke. Ich rufe gleich Graham an und sage es ihm.«

Mich kann Mum offenbar auch nicht ansehen. Gut, dass wir nicht mehr zusammenwohnen müssen.

»Ich geh mit Minnie Schaufenster gucken«, sage ich und nehme Minnie bei der Hand. »Sag mir Bescheid, wenn wir zurückfahren können.«

Schließlich sind wir gegen vier wieder zu Hause. Mum und Dad sind vor uns zurückgefahren, haben ein paar Sachen eingepackt, und Luke hat sie in der Luxussuite untergebracht, die anscheinend ziemlich protzig ist. Nicht, dass ich etwas davon hören wollte.

Ich habe Minnie ihren Tee gemacht und Peppa Wutz angestellt, sitze am Kamin und starre trübsinnig in die Flammen, als Luke wieder auftaucht. Er kommt herein und betrachtet mich einen Moment.

»Becky, jetzt komm schon. Was ist los mit dir und deiner Mum?«

»Schscht!«, macht Minnie unwirsch und zeigt auf den Fernseher. »Peppa!«

»Nichts.« Ich wende mich ab.

»Irgendwas ist doch los«, sagt Luke und geht neben meinem Sessel in die Hocke. »So habe ich euch zwei noch nie erlebt.« Schweigend sehe ich ihn an, als sich die Antworten in meinem Kopf überschlagen.

Sie denkt, ich kann dir keine Party schmeißen. Sie denkt, es wird ein Reinfall. Und tief in meinem Inneren fürchte ich, dass sie vielleicht recht haben könnte.

»Nur so Mutter-Tochter-Zeug«, sage ich schließlich.

»Huuh!« Skeptisch zieht er eine Augenbraue hoch. »Na ja, ich bin froh, dass wir ein bisschen Zeit miteinander haben. Es gibt da etwas, worüber ich mit dir reden muss.«

Er zieht sich einen Stuhl heran und betrachtet ihn ein wenig besorgt.

»Du hattest recht, Becky«, sagt er freimütig. »Ich habe dir etwas verheimlicht. Und es tut mir leid. Aber ich wollte sicher sein, bevor ich etwas sage.«

Augenblicklich bessert sich meine Laune. Er will mir von Sage Seymour erzählen! Ja! Vielleicht treffen wir uns heute Abend! Vielleicht will er uns zum Essen ins Ivy oder so einladen! Ich weiß, dass sie momentan in den Pinewood Studios dreht, weil ich sie gegoogelt habe. (Nur weil ich Anteil an der Karriere meines Mannes nehme, wie es jede wohlmeinende Ehefrau tun würde.)

Oh, das würde mir diesen beschissenen Tag echt retten! Und ich könnte dieses Nanette-Lepore-Kleid tragen, das ich noch nie anhatte, mit meinen pinken Vivienne-Westwood Schuhen.

»Mach dir keine Gedanken, Luke.« Ich strahle ihn an. »Ich weiß, dass du diskret sein musst.«

Vielleicht bittet sie mich, ihre Einkaufsberaterin zu werden! Vielleicht hat Luke mich empfohlen! Ich könnte sie für die Golden Globes einkleiden. Ich meine, sie braucht doch jemanden, der darauf achtet, dass ihr Saum gerade sitzt ... »Ich habe kürzlich einen meiner Kontakte getroffen. Jemanden, der ... Prominente vertritt«. sagt Luke ganz langsam. »Tatsächlich?« Ich versuche, lässig zu klingen. »Was für Prominente denn?«

»Hast du zufällig schon mal gehört von ... «

Ob ich schon mal von ihr gehört habe? Ist er verrückt geworden? Du meine Güte, sie hat einen Oscar! Sie ist eine der berühmtesten Frauen auf der Welt! »Natürlich habe ich das!«, platze ich heraus, noch während er sagt:

» ... einer gewissen Nanny Sue?«

Einen Augenblick lang starren wir einander an.

»Nanny Sue?«, wiederhole ich schließlich .

»Offenbar ist sie Expertin für Kindererziehung.« Luke zuckt mit den Schultern. »Hat eine Fernsehsendung. Ich hatte noch nie von ihr gehört.«

Ich bin so frustriert, dass ich ihm eine kleben könnte. Erstens: Selbstverständlich habe ich schon von Nanny Sue gehört, und er kennt sie nur nicht, weil er nicht genug fernsieht. Zweitens: Wieso reden wir über sie und nicht über Sage Seymour?

»Ja, hab ich«, sage ich mürrisch. »Ich habe ihr Buch gelesen. Was ist mit ihr?«

»Anscheinend will sie ein neues Unternehmen starten. So was wie ... « Er zögert, kann mir nicht in die Augen sehen. »Ein Camp für kindliches Verhaltenstraining. «

Das kann nicht sein Ernst sein.

»Du willst Minnie in ein Boot Camp schicken?« Fast bleiben mir die Worte im Hals stecken. »Aber ... aber ... das ist doch lächerlich! Sie ist erst zwei! Die würden sie doch gar nicht aufnehmen!«

»Offensichtlich machen sie auch Ausnahmen.« Meine Gedanken purzeln vor Entsetzen nur so durcheinander. Da saß ich eben noch glücklich vor dem Kamin und dachte, er wollte mir erzählen, dass wir heute Abend mit einem Filmstar Cocktails trinken. Und stattdessen sagt er mir, er will unsere Tochter wegschicken?

»Ist das ... « Ich schlucke. » Wie ein Internat?«

Mir wird ganz flau bei dem Gedanken. Er will sie in ein Internat für aufsässige Kinder schicken. Plötzlich sehe ich Minnie vor mir, im Schulblazer, mit eingezogenem Kopf, wie sie in der Ecke sitzt und ein Schild hält, auf dem steht: »Ich soll nicht sechzehn Mäntel im Internet bestellen.«

»Natürlich nicht!« Luke sieht schockiert aus. »Es soll nur ein Programm für Kinder mit bestimmten Verhaltensauffälligkeiten werden. Und es ist nur eine Idee.« Er reibt an seinem Nacken herum und kann mich immer noch nicht ansehen. »Ich habe schon mit dieser Nanny Sue gesprochen, und sie macht einen sehr verständnisvollen Eindruck. Sie würde herkommen und sich Minnie mal ansehen, wenn wir wollen, und uns dann etwas empfehlen. Also habe ich einen Termin ausgemacht.«

»Du hast was?« Ich kann es nicht glauben. »Du hast schon mit ihr gesprochen?«

»Ich habe mich nur erkundigt, welche Möglichkeiten es gibt.« Endlich sieht Luke mir in die Augen. »Becky, mir gefällt die Vorstellung genauso wenig wie dir. Aber wir müssen irgendwas tun.«

Nein, müssen wir nicht! Am liebsten möchte ich ihn anschreien. Und ganz bestimmt müssen wir keine Fremden zu uns ins Haus einladen, damit sie uns sagen, was wir tun sollen!

Aber ich merke schon, dass er einen Entschluss gefasst hat. Es ist genauso wie damals in unseren Flitterwochen, als er beschlossen hatte, dass wir mit dem Zug nach Lahore fahren, statt zu fliegen. Er wird nicht nachgeben.

Na, schön. Er kann so viele Erziehungsgurus engagieren, wie er will. Niemand nimmt mir meine Minnie weg. Soll Nanny Sue doch kommen und sich die Zähne ausbeißen. Der werd ich's zeigen. Pass mal auf.


DR. JAMES LINFOOT

36 HARLEY STREET

LONDON


W1

Rebecca Brandon

The Pines

42 Elton Road

Oxshott

Surrey

3. März 2006

Liebe Rebecca,

vielen Dank für Ihren Brief vom 1. März.

Vom »Schlaf-Shoppen« habe ich noch nie etwas gehört. Daher kann ich Ihnen auch weder die lateinische Bezeichnung dafür nennen noch Ihrem Gatten schreiben und ihm sagen, dass er »Rücksicht auf Ihr Krankheitsbild nehmen« soll.

Ich kann Ihnen nur raten, Ihren Hausarzt zu konsultieren, falls die Symptome nicht nachlassen sollten.

Mit freundlichen Grüßen,

James Linfoot


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