Jetzt spreche ich also nicht mehr mit Mum, und mit Luke spreche ich auch kaum noch.
Mehr als eine Woche ist vergangen. Heute kommt Nanny Sue, und ich bin bereit. Ich komme mir vor wie ein Gladiator auf dem Weg in die Arena, voll ausgerüstet mit stacheligen Knüppeln und baumeligen Eisendingern. Aber ich bin immer noch stinksauer auf Luke. Ehrlich gesagt, werde ich immer wütender, je mehr Zeit vergeht. Wie konnte er einen Termin vereinbaren, ohne sich vorher mit mir abzusprechen? Wir sitzen beim Frühstück und haben bisher kaum zwei Worte miteinander gewechselt. Und ganz bestimmt hat keiner von uns Nanny Sue erwähnt.
»Möchtest du noch etwas Milch, Minnie?«, sage ich frostig und greife an Luke vorbei zum Krug. Luke seufzt. »Becky, so kann es nicht weitergehen. Wir müssen miteinander reden.« »Schön. Reden wir.« Ich zucke mit den Schultern. »Worüber? Das Wetter?«
»Na ja ... was macht deine Arbeit?«
»Ist okay.« Klappernd rühre ich meinen Kaffee um.
»Wunderbar!« Luke klingt so begeistert, dass mir ganz anders wird. »Bei uns läuft auch alles gut. Sieht so aus, als könnten wir jeden lag mit einem Termin bei Christian Scott-Hughes rechnen. Seit über einem Jahr versucht der Kunde an ihn ranzukommen, und deshalb sind die da ganz aufgeregt.«
Jappadappadu. Als würde ich mich für ein schnarchiges Treffen mit Christian Scott-Hughes interessieren.
»Toll«, sage ich höflich.
»Leider muss ich heute meiner persönlichen Assistentin den Marsch blasen. Nicht so gut.« Er seufzt. »Das kam eher überraschend.«
Was? Er muss was tun?
Ich hebe den Kopf, kann meine distanzierte Haltung nicht mehr wahren. Er will Bonnie den Marsch blasen? Wie kann er Bonnie den Marsch blasen? Sie ist doch perfekt! Sie ist ein Schatz!
»Aber ... ich dachte, du bist ganz begeistert von ihr«, sage ich und gebe mir Mühe, nur mildes Interesse zu zeigen. »Ich dachte, sie ist die beste Assistentin, die du je hattest.«
»Das dachte ich auch. Aber in letzter Zeit ist sie ... « Luke zögert. »Ich kann sie nur als ungeeignet bezeichnen.« Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, dass Bonnie ungeeignet sein könnte.
»Was meinst du damit? Was hat sie denn getan?«
»Es ist merkwürdig.« Luke wischt mit der Hand über seine Stirn und wirkt ratlos. »Meistens verhält sie sich ausgesprochen diskret und taktvoll. Und dann mischt sie sich in Dinge ein, die sie -offen gesagt -nichts angehen. Wie zum Beispiel, dass sie Bemerkungen zu meinem Duschgel macht!« Luke runzelt die Stirn. »Ich finde solches Verhalten absolut unprofessionell, du nicht?«
Ich spüre, wie meine Wangen heiß werden. »Äh ... ich vermute ... «
»Es kamen weitere Bemerkungen, die noch taktloser und aufdringlicher waren. Ehrlich gesagt, habe ich sie nicht eingestellt, um mir ihre Ansichten zu meiner Familie oder meinem Haus anzuhören. Oder zur Wahl meiner Krawatten.«
Scheiße. Scheiße. Das ist alles meine Schuld. Aber das darf ich ihm nicht sagen, oder?
»Na, ich finde, du solltest ihr noch eine Chance geben«, sage ich eilig. »Du willst sie doch nicht grundlos vor den Kopf stoßen, oder? Wahrscheinlich wollte sie nur nett plaudern. Ich kann mir kaum vorstellen, dass sie noch mal indiskret sein wird. Da bin ich mir eigentlich ganz sicher.«
Weil ich sie gleich anrufen und ihr sagen werde, dass sie das mit den Vorschlägen lieber lassen soll.
Luke mustert mich mit wunderlichem Blick. »Wieso interessiert es dich so? Ich wusste gar nicht, dass du sie kennst.«
»Tu ich auch nicht! Ich finde nur, dass Menschen eine zweite Chance bekommen sollten. Und deshalb finde ich, du solltest auch deiner Assistentin eine zweite Chance geben. Wie heißt sie noch? Bobbie?«, füge ich treuherzig hinzu.
»Bonnie«, verbessert mich Luke. »Bonnie.« Ich nicke. »Natürlich. Ich bin ihr nur einmal begegne!«, füge ich hinzu. »Vor einer Ewigkeit.« Ich werfe Luke einen verstohlenen Blick zu, aber er scheint mir nichts zu ahnen. Gott sei Dank.
»Ich muss los.« Er steht auf, wischt sich den Mund. »Also ... Ich hoffe, es läuft gut heute.« Er gibt Minnie einen Kuss. »Viel Glück, Spätzchen.«
»Sie ist nicht auf der Flucht«, erwidere ich knapp. »Sie braucht kein Glück.«
»Na, wie dem auch sei ... sag mir Bescheid, wie es gelaufen ist.« Er macht eine unbeholfene Geste. »Becky, ich weiß, wie dir zumute ist wegen ... heute. Aber ich glaube wirklich, das könnte der Durchbruch sein, den wir brauchen.«
Ich mache mir nicht mal die Mühe, ihm zu antworten. Nie im Leben wird irgendeine kinderstehlende Boot-Camp-Expertin in meiner Familie einen »Durchbruch« erleben.
Um zehn Uhr bin ich für sie bereit. Das Haus ist gerüstet, und ich bin gerüstet, und selbst Minnie versucht, in ihrem Marie Chantal-Trägerkleidchen einen braven Eindruck zu machen.
Ich habe Recherchen angestellt. Zuerst habe ich mir Nanny Sues Website angesehen und jede einzelne Seite gelesen. Leider steht da noch nichts vom Boot Camp, nur ein Hinweis: »Meine neue Reihe von Verhaltensschulungen für Kinder und Erwachsene wird demnächst beginnen -nähere Einzelheiten später.« Huh. Überrascht mich gar nicht, dass sie damit hinterm Berg hält.
Dann habe ich mir alle ihre DVDs gekauft und angesehen.
Es ist immer dasselbe Muster. Da gibt es eine Familie mit herumwuselnden Kindern und streitenden Erwachsenen und normalerweise einem alten, kaputten Kühlschrank im Garten oder ungesicherten Steckdosen oder irgendwas. Dann kommt Nanny Sue rein und guckt sich alles an und sagt: »Ich möchte sehen, wer die Ellises wirklich sind«, was heißen soll: »Ihr macht eine ganze Menge falsch, aber ich sag euch noch nicht, was.«
Am Ende schreien sich die Erwachsenen immer an und heulen sich dann schluchzend an Nanny Sues Schulter aus und erzählen ihre Lebensgeschichte. Und jede Woche holt sie ihre kleine Schachtel mit den Taschentüchern raus und sagt feierlich: »Ich glaube, hier geht es nicht nur um das Betragen Ihrer Kinder, was?«, und sie nicken, plaudern alles über ihr Sexualleben oder Probleme bei der Arbeit oder Familientragödien aus, und dazu läuft traurige Musik, und am Ende muss man selbst heulen.
Ich meine, es ist komplett berechenbar, und nur komplette Vollidioten fallen auf ihre Tricks rein.
Und jetzt will sie das Drama wahrscheinlich noch verschärfen und alle Kinder in ein Boot Camp schicken, irgendwo in der Wüste, in Utah oder Arizona, denn das macht sich dann im Fernsehen noch viel besser, wenn sie sich alle am Ende wiedersehen.
Tja, nicht mit mir. Nie im Leben.
Ich sehe mich in der Küche um und prüfe nach, ob alles an seinem Platz ist. Ich habe eine riesige Tafel am Kühlschrank aufgehängt, auf der Minnie goldene Sternchen für gutes Benehmen sammeln kann, und die unterste Treppenstufe mit »Stille Treppe« ausgeschildert, und auf dem Tisch liegt ein ganzer Haufen pädagogisch wertvolles Spielzeug. Aber mit etwas Glück tut meine erste Breitseite gleich ihre Wirkung und es kommt gar nicht erst so weit.
Auf keinen Fall darf man bei Nanny Sue sagen: »Mein Kind hat keinerlei Probleme.« Denn dann knöpft sie sich einen vor und findet garantiert welche. Also werde ich schlauer sein.
Es klingelt an der Tür, und ich zucke zusammen. »Komm mit, Min«, murmle ich. Gehen wir und schaffen uns die böse Kinderexpertin vom Hals!«
Ich mache die Tür auf, und da steht sie. Nanny Sue höchstpersönlich, mit ihrem typischen, blonden Bob, hübschen, zarten Zügen und rosa Lippenstift. In echt sieht sie viel kleiner aus und trägt Jeans, eine gestreifte Bluse und eine wattierte Jacke, wie eine Reiterin. Ich dachte, sie käme in ihrer blauen Uniform mit dem Hut, wie im Fernsehen. Fast erwarte ich schon, dass die Titelmusik einsetzt und eine Stimme aus dem Off sagt: »Heute wurde Nanny Sue zum Haus der Brandons gerufen ...«
»Rebecca? Ich bin Nanny Sue«, sagt sie mit ihrem altbekannten, singenden Tonfall aus dem Südwesten Englands.
»Nanny Sue! Gott sei Dank! Wie bin ich froh, dass Sie gekommen sind!«, sage ich dramatisch. »Wir wissen überhaupt nicht mehr, was wir machen sollen! Sie müssen uns helfen, und zwar so schnell wie möglich!«
»Ach, ja?« Nanny Sue macht einen verdutzten Eindruck. »Ja! Hat mein Mann Ihnen denn nicht gesagt, wie verzweifelt wir sind? Das ist unsere Minnie. Sie ist zwei.«
»Hallo, Minnie. Wie geht es dir?« Nanny Sue hockt sich hin, um mit Minnie zu sprechen, und ich warte ungeduldig, bis sie sich wieder erhebt.
»Sie glauben ja nicht, was für Probleme wir mit ihr hatten. Es ist beschämend. Blamabel geradezu. Ich mag es kaum zugeben.« Ich lasse meine Stimme beben. »Sie weigert sich zu lernen, wie man sich die Schuhe zubindet. Ich habe es versucht ... mein Mann hat es versucht ... alle haben es versucht. Aber sie tut es einfach nicht!«
Es folgt eine Pause, während der ich weiter die besorgte Mutter spiele. Nanny Sue wirkt etwas erstaunt. Ha!
»Rebecca«, sagt sie. »Minnie ist noch sehr jung. Von einem zweijährigen Kind sollte man nicht erwarten, dass es sich die Schuhe selbst zubinden kann.«
»Oh!« Augenblicklich strahle ich sie an. »Ach, ich verstehe. Na, dann ist ja alles in Ordnung! Andere Probleme haben wir mit ihr nicht. Vielen Dank, Nanny Sue, bitte schicken Sie meinem Mann die Rechnung. Ich sollte Sie nicht länger aufhalten. Auf Wiedersehen. «
Bevor sie noch etwas sagen kann, knalle ich ihr die Tür vor der Nase zu.
Sieg! Ich klatsche Minnie ab und will mir schon in der Küche ein Belohnungs-Kit -Kat genehmigen, als es wieder an der Tür klingelt.
Ist sie gar nicht weggegangen?
Ich spähe durch den Spion, und da steht sie, wartet geduldig auf der Treppe. Was will sie? Sie hat unsere Probleme gelöst. Sie kann gehen. »Rebecca?« Ihre Stimme dringt durch die Tür. »Sind Sie da?« »Hallo!«, ruft Minnie. »Schscht!«, zische ich. »Sei still!« »Rebecca, Ihr Mann hat mich gebeten, Ihre Tochter zu begutachten und Ihnen beiden meine Einschätzung zu unterbreiten. Das ist mir auf Grundlage einer einminütigen Begegnung kaum möglich.«
»Sie muss nicht begutachtet werden!«, rufe ich durch die Tür zurück.
Nanny Sue reagiert nicht, sondern steht nur da und wartet mit dem gleichen geduldigen Lächeln. Will sie denn keinen freien Tag haben?
Wenn ich ehrlich sein soll, weiß ich nicht so richtig weiter. Ich dachte, sie würde einfach abhauen. Was ist, wenn sie Luke erzählt, dass ich sie nicht reinlassen wollte? Was ist, wenn es am Ende wieder einen Riesenkrach gibt?
Oh, Gott. Vielleicht ist es einfacher, wenn ich sie reinlasse, sie ihre sogenannte »Beurteilung« macht und ich sie auf diesem Wege loswerde.
»Na, schön.« Ich reiße die Tür auf. »Kommen Sie rein! Aber meine Tochter hat keine Probleme. Und ich weiß genau, was Sie vorhaben und was Sie gleich sagen werden. Und eine Stille Treppe haben wir auch schon.«
»Du meine Güte ...« Nanny Sues Augen blitzen kurz auf. »Sie sind ja glänzend vorbereitet, was?« Sie tritt ein und lächelt erst Minnie an, dann mich. »Bitte machen Sie sich keine unnötigen Gedanken. Ich möchte mir nur einen ganz normalen Tag bei Ihnen beiden ansehen. Verhalten Sie sich wie immer, und tun Sie, was Sie sonst auch tun würden. Ich möchte sehen, wer die Brandons wirklich sind.<<
Ich wusste es! Sie hat uns die erste Falle gestellt. Im Fernsehen hat die Familie entweder keinen Plan für den Tag, oder das Kind weigert sich, den Fernseher auszumachen, und alle fangen an zu streiten. Aber ich bin ihr so was von voraus. Ich habe mich auf diesen Moment vorbereitet, für alle Fälle. Offen gesagt habe ich ihn mit Minnie geprobt.
»Hm, ich weiß nicht«, sage ich nachdenklich. »Was meinst du, Minnie? Wollen wir zusammen etwas backen?« Ich schnalze mit der Zunge. »Ach, da fallt mir ein, dass wir gar kein mühlsteingemahlenes Bio-Mehl mehr haben. Vielleicht könnten wir aus Pappkartons kleine Häuser basteln. Die könntest du dann mit bleifreier Farbe anmalen ...«
Vielsagend sehe ich Minnie an. Das ist ihr Stichwort. Sie soll: »Laufen! Natur!«, sagen. Ich habe es mit ihr eingeübt und alles. Stattdessen starrt sie sehnsüchtig zum Fernseher im Wohnzimmer hinüber.
»Peppa Wutz«, sagt sie. »Mein Peppa Wutz ... «
»Wir können uns heute keine echten Schweinchen ansehen, Schätzchen!«, unterbreche ich sie hastig. »Aber machen wir doch einen kleinen Spaziergang durch die Natur und diskutieren über die Umwelt!«
Ich bin richtig stolz auf meine Idee mit dem Spaziergang durch die Natur. Es ist pädagogisch wertvoll und total einfach. Man muss nur hinterhertapern und hin und wieder sagen: »Da ist eine Eichel! Da ist ein Eichhörnchen!« Und schon wird Nanny Sue ihre Niederlage eingestehen. Sie muss uns Höchstnoten geben und zugeben, dass es an einer perfekten Familie einfach nichts zu verbessern gibt, und dann kann Luke nichts mehr sagen.
Als ich Minnie ihre Stiefel angezogen habe (klitzekleine UGGs, total niedlich), greife ich in meine Tasche und hole vier dunkelgraue Samtbänder hervor, die ich jeweils am Ende mit einem Klettverschluss versehen habe. Gestern Abend habe ich diese Teile gebastelt, und sie sehen echt hübsch aus.
»Wir sollten lieber unsere Stillen Schleifehen mitnehmen«, sage ich großspurig.
»Stille Schleifehen?«, erkundigt sich Nanny Sue höflich.
»Ja, mir ist aufgefallen, dass Sie in Ihrer Fernsehsendung die Stille Treppe nicht zum Einsatz bringen können, wenn Sie unterwegs sind. Deshalb habe ich >Stille Schleifehen< gemacht. Ganz einfach, aber wirkungsvoll. Man klettet sie einfach an die Jacke des Kindes, wenn es unartig war.«
»Verstehe.« Nanny Sue äußert keine Meinung, aber das liegt bestimmt daran, dass sie vor Neid innerlich brodelt und wünschte, sie wäre selbst darauf gekommen.
Ehrlich, ich glaube, ich könnte ohne Weiteres Kinderexpertin werden. Ich habe viel mehr Ideen als Nanny Sue, und ich könnte auch noch Modetipps geben.
Ich begleite sie zur Tür hinaus, und wir gehen die Auffahrt hinunter. »Schau, Minnie, ein Vogel!« Ich zeige auf irgendein Viech, das aus einem Baum aufflattert. »Vielleicht ist er vom Aussterben bedroht«, füge ich feierlich hinzu. »Wir müssen die Natur bewahren.«
»Eine Taube?«, sagt Nanny Sue milde. »Ob die vom Aussterben bedroht ist?«
»Ich versuche nur, grün zu denken.« Ich werfe ihr einen tadelnden Blick zu. Hat sie denn keine Ahnung von der Umwelt?
Eine Weile latschen wir so vor uns hin, und ich deute auf ein paar Eichhörnchen. Dann kommen wir zur Ladenzeile am Ende von Mums Straße, und ich kann nicht verhindern, dass mein Blick nach rechts schweift:, um kurz nachzugucken, was es in dem Antiquitätenladen so zu sehen gibt.
»Kaufen!«, sagt Minnie und zerrt an meiner Hand.
»Nein, wir gehen nichts kaufen, Minnie.« Nachsichtig lächle ich sie an. »Wir wollen doch durch die Natur spazieren, weißt du noch? Uns die Natur ansehen.«
»Kaufen! Taxi!« Zuversichtlich hebt sie ihre Hand und schreit noch lauter: »TAXI! TAAXXIIII!« Gleich darauf kommt das erste Taxi angerattert, hält direkt auf uns zu.
»Minnie! Wir nehmen kein Taxi! Ich weiß nicht, warum sie das gemacht hat«, füge ich eilig hinzu. »Es ist gar nicht so, als würden wir ständig Taxi fahren ... «
»Minnie!«, höre ich eine laute, fröhliche Stimme. »Wie geht es meiner kleinen Stammkundin?« Verdammt. Es ist Pete, der uns normalerweise zum Shoppen nach Kingston fährt. Ich meine, nicht, dass wir so oft hinfahren. »Pete bringt uns manchmal zum ... zum ... Kinderturnen im Softplay Center«, sage ich eilig zu Nanny Sue.
»Tax-iiiii!« Minnie bekommt diesen Blick, wie ein wilder Stier mit roten Bäckchen. Oh, Gott. Im Beisein von Nanny Sue kann ich keinen Wutanfall riskieren. Vielleicht könnten wir ja doch mit dem Taxi irgendwohin fahren.
»Also ... « Pete beugt sich aus dem Fenster. »Wohin soll's denn heute gehen, meine Hübschen?« »Starbucks«, artikuliert Minnie deutlich, bevor ich etwas sagen kann. »Starbucks-Shops.«
»Wie immer also?«, sagt Pete fröhlich. »Rein mit euch!«
Ich spüre, wie mein Gesicht rot anläuft.
»Wir wollen nicht zu Starbucks, Minnie!«, sage ich schrill. »Was für eine ... eine verrückte Idee! Würden Sie uns bitte zum Kinderturnen bringen, Pete? In diesem Softplay Center in Leatherhead, wo wir immerzu sind?«
Verzweifelt blicke ich ihm tief in die Augen, damit er nicht sagt: »Wovon reden Sie da?«
»Muffin?« Voller Hoffnung blickt Minnie zu mir auf. »Muffin Starbucks?«
»Nein, Minnie!«, schnauze ich sie an. »Jetzt sei ein braves Mädchen, sonst kriegst du ein Stilles Schleifchen.« Ich hole die Stillen Schleifchen aus meiner Tasche und schwenke sie unheilschwanger vor ihr hin und her. Augenblicklich greift Minnie danach.
»Mein! Meeeiiiin!«
Sie soll die Stillen Schleifchen doch nicht haben wollen!
»Vielleicht später«, sage ich und stopfe sie wieder in meine lasche. Das ist alles Nanny Sues Schuld. Sie verdirbt mir noch alles.
Wir steigen ein, ich schnalle Minnie an, und Pete fahrt los.
»Rebecca«, sagt Nanny Sue freundlich. »Wenn Sie Besorgungen zu machen haben, lassen Sie sich von mir bitte nicht aufhalten. Ich komme gern mit zum Shoppen. Ich mache alles mit, was Sie auch sonst tun würden.«
»Aber natürlich!« Ich gebe mir Mühe, so locker wie möglich zu klingen. »Heute ist ein ganz normaler Tag! Kinderturnen steht an! Hier, nimm, Schätzchen«, füge ich an Minnie gewandt hinzu und gebe ihr einen Dinkelkeks, den ich aus dem Bioladen habe. Skeptisch sieht sie ihn an, leckt daran, dann wirft sie ihn auf den Boden und schreit: »Muffin! Muffin STARBUCKS!«
Mein Gesicht wird puterrot.
»Starbucks ist ... der Name von der Katze unserer Freundin«, improvisiere ich verzweifelt. »Und Muffin ist die andere Katze. Minnie liebt Tiere über alles. Stimmt es nicht, Schätzchen?«
»Haben Sie den großen Kasten da drüben schon gesehen?«, höre ich Petes fröhliche Stimme von vorn. »Jetzt haben sie ihn endlich aufgemacht!«
Wir sind auf der Schnellstraße angekommen. Plötzlich sehe ich, wohin Pete zeigt. Da steht eine riesige, schwarzweiße Plakatwand mit der Aufschrift:
HEATHFIELD VILLAGE!
NEUES LUXUS OUTLET ZENTRUM
ERÖFFNUNG HEUTE!
Wow. Seit Ewigkeiten ist davon die Rede, dass das Riesending da eröffnet werden soll. Mein Blick schweift auf der Plakatwand weiter abwärts.
HEUTE SPEZIELLE EINFÜHRUNGSANGEBOTE! JEDER KUNDE BEKOMMT EIN GESCHENK! NÄCHSTE AUSFAHRT!
Jeder Kunde bekommt ein Geschenk?
Ich meine, wahrscheinlich wird es nichts Aufregendes sein. Eine winzige Duftkerze oder ein Stück Schokolade oder so was. Und die Läden dort sind bestimmt auch gar nicht so toll. Außerdem habe ich überhaupt kein Interesse an irgendeinem Einkaufszentrum, weil wir ja auch nicht zum Einkaufen hergekommen sind, oder? Wir sind hergekommen, um etwas pädagogisch Wertvolles zu machen, das unsere Bindung zueinander stärkt.
»Guck mal, die Wolken!“, sage ich zu Minnie und zeige eilig aus dem gegenüberliegenden Fenster. »Weißt du, wie Wolken entstehen, Süße? Das geht mit. .. äh ... Wasser.“
Meine ich Wasserdampf? Oder einfach nur normalen Dampf?
»Burberry“, sagt Pete interessiert. »Nicht schlecht. Mein Schwiegersohn kriegt das ganze nachgemachte Zeug aus Hong Kong, und der sagt ... „
Burberry? Mein Kopf zuckt herum, und ich sehe die nächste Plakatwand -diesmal mit allen Designern, die sie im Outlet führen.
Burberry. Matthew Williamson. Dolce & Gabbana. Oh, mein Gott. Anya Hindmarch. Temperley. Vivienne Westwood? Alles zu Discount-Preisen? Zum Greifen nah?
Das Taxi rückt ein Stück vorwärts, und mich ergreift die nackte Panik. Jeden Moment sind wir an der Ausfahrt vorbei. Dann ist es zu spät.
Okay, denken wir es mal vernünftig durch. Ich weiß, wir sollten nach Lcatherhead fahren und in einem Bällebad herumhüpfen. Aber andererseits ... Nanny Sue hat gesagt, sie hätte nichts dagegen, wenn wir shoppen gehen würden. Sie hat es wortwörtlich so gesagt.
Nicht, dass ich etwas für mich kaufen wollte. Selbstverständlich nicht. Ich halte mein Versprechen. Aber das da ist ein brandneues, hochmodernes Discount-Shopping-Center, das Geschenke verteilt. Wir können nicht einfach daran vorbeifahren. Das wäre ... das wäre ... falsch. Es wäre undankbar. Es wäre gegen die Natur. Und Minnie darf ich ja was kaufen, oder? Es gehört zu den Pflichten einer Mutter, ihr Kind einzukleiden.
Ich werfe noch einen Blick auf die Liste. Petit Bateau. Ralph Lauren Girls & Boys. Funky Kids. Baby in Urbe. Ich werde etwas atemlos. Es gibt kein Entrinnen.
»Wissen Sie, mir ist gerade was eingefallen. Minnie braucht noch ein paar neue Söckchen.« Ich versuche, beiläufig zu klingen. »Vielleicht könnten wir mal einen Blick in dieses neue Shopping Center werfen, statt zum Turnen zu fahren. Nur so eine Idee. Was meinen Sie?«
»Das ist Ihre Entscheidung.« Nanny Sue hebt beide Hände. »Voll und ganz.« »Also, äh, Pete, könnten Sie uns stattdessen zum Outlet bringen?« Ich spreche etwas lauter. »Ich danke Ihnen!«
»Dann sollte ich wohl lieber meinen Kofferraum ausräumen, was?« Er dreht sich um und grinst mich an. »Für die vielen Tüten.«
Kraftlos lächle ich zurück. Ich werde Nanny Sue nachher erklären, dass er einen echt schrulligen Sinn für Humor hat.
»Dann gehen Sie also gern shoppen, Rebecca?«, sagt Nanny Sue freundlich.
Ich mache eine Pause, als müsste ich darüber nachdenken.
»Nicht gern«, sage ich schließlich. »Gern würde ich nicht sagen. Ich meine, es muss einfach gemacht werden, oder? Es muss ja was im Kühlschrank sein.« Zerknirscht zucke ich mit den Schultern. »Eine verantwortungsvolle Mutter kann sich dem nicht entziehen.«
Wir halten vor dem Haupteingang, dessen gigantische Glastüren in ein riesiges, luftiges Atrium führen. Dort stehen Palmen, und Wasser plätschert an einer Stahlwand herab, und als wir eintreten, glitzern mich schon »Valentino« und »Jimmy Choo« aus der Ferne an. Die Luft ist von duftendem Zimtgebäck und dampfenden Cappuccino-Maschinen erfüllt, gemischt mit teuren Leder-und Designerdüften und einfach ... Neuheit.
»Und wohin müssen Sie?«, fragt Nanny Sue mit einem Blick in die Runde. »Wir suchen Söckchen, richtig?«
»Ich ... äh ...«
Ich kann kaum geradeaus denken. Mulberry ist direkt vor uns, und ich habe schon eine traumhafte Tasche gesehen. »Mh ... « Ich muss mich zusammenreißen. »Ja. Söckchen.«
Kindersöckchen. Nicht Valentino. Nicht Jimmy Choo. Nicht Mulberry. Oh, Gott, ich frage mich, was diese Tasche wohl kosten mag ...
Aufhören. Nicht hinsehen. Ich kaufe nichts für mich. Ich denke nicht mal daran.
»Mein! Meeeeiiiinn Püppi!« Minnies Stimme reißt mich in die Gegenwart zurück. Sie steht draußen vor Gucci und deutet auf eine Schaufensterpuppe.
»Das ist kein Püppchen, Süße. Das ist eine Schaufensterpuppe! Komm.« Ich nehme sie fest bei der Hand und führe sie zum Wegweiser. »Wir kaufen dir ein paar Söckchen.«
Wir machen uns auf den Weg zur Kid Zone, in der sich alle Kindergeschäfte befinden. Da gibt es einen Clown, der die Kunden begrüßt, und Stände voller Spielzeug, und der ganze Bereich kommt einem eher wie ein Jahrmarkt vor.
»Buch!« Minnie ist schnurstracks zu einem der Stände gelaufen und hat sich ein großes, rosafarbenes Buch mit Feen geschnappt. »Mein Buch.«
Ha! Zufrieden werfe ich Nanny Sue einen Blick zu. Meine Tochter hat sich für ein pädagogisch wertvolles Buch entschieden, nicht für irgendwelchen Plastikschrott!
»Selbstverständlich darfst du dir ein Buch kaufen, Minnie«, sage ich laut. »Wir bezahlen es von deinem Taschengeld. Ich bringe Minnie nämlich Finanzplanung bei«, füge ich an Nanny Sue gewandt hinzu. »Ich schreibe alles auf, was wir von ihrem Taschengeld kaufen.«
Ich zücke mein kleines, pinkes Smythson-Büchlein, auf dem vorn »Minnies Taschengeld« steht. (Ich habe es extra prägen lassen. Es war ziemlich teuer, aber es ist ja auch eine Investition in das ökonomische Verantwortungsbewusstsein meiner Tochter.)
»Männlein!« Minnie hat sich außer dem Buch noch eine Puppe geschnappt. »Mein Männlein! Meeeiiin!«
»Äh ...« Skeptisch betrachte ich die kleine Puppe. Sie ist ganz süß, und wir haben kaum Puppen. »Na gut, okay. Solange du sie von deinem Taschengeld bezahlst. Verstehst du, Süße?« Ich spreche superdeutlich: »Wir müssen sie von deinem Taschengeld bezahlen!«
»Sagen Sie mal!«, meint Nanny Sue, als wir zur Kasse gehen. »Wie viel Taschengeld bekommt Minnie denn?«
»Fünfzig Pence die Woche«, antworte ich und greife nach meinem Portemonnaie. »Aber wir haben ein System, bei dem sie einen Vorschuss bekommen kann und ihn dann zurückzahlt. So lernt sie Finanzplanung. «
»Verstehe ich nicht«, beharrt Nanny Sue. »Inwiefern lernt sie Finanzplanung?« Ehrlich. Für eine sogenannte Expertin ist sie ganz schön langsam. »Weil alles in dem Büchlein festgehahen wird.« Ich schreibe die Kosten für das Feen-Buch und die kleine Puppe auf, klappe das Büchlein zu und strahle Minnie an. »Komm, wir suchen dir ein paar Söckchen!«
Mein Gott. Ich liebe Funky Kids. Sie ändern jede Saison ihr Dekor, und heute ist der ganze Laden als Scheune hergerichtet, mit Holzbalken und nachgemachten Strohballen. Die haben fantastische Sachen für Kinder, zum Beispiel lustige, kleine Strickjäckchen mit Kapuzen und wattierte Mäntel mit applizierten Flicken. Ich finde geradezu anbetungswürdige Söckchen mit Kirschen und Bananen um den Saum, zum halben Preis für 4.99, und lege zwei Paar davon in meinen Korb.
»Schön«, sagt Nanny Sue resolut. »Gut gemacht. Wollen wir zur Kasse gehen?«
Ich antworte nicht. Ein Ständer mit Trägerkleidchen hat mich abgelenkt. Die habe ich schon im Katalog gesehen. Sie sind aus mintgrünem Feincord mit weißer Bordüre aus Kreuzstichstickerei. Sie sind absolut hinreißend und um 70 % herabgesetzt! Eilig sondiere ich die Ständer, aber es gibt kein einziges für Zwei-bis Dreijährige. Natürlich nicht. Die sind schon weg. Verdammt.
»Entschuldigung?«, sage ich zu einer vorbeihastenden Verkäuferin. »Gibt es die hier auch in Größe 2-3?« Augenblicklich verzieht sie das Gesicht.
»Tut mir leid. Ich glaube, in der Größe haben wir keine mehr. Die sind sehr gefragt.« »Braucht Minnie denn unbedingt so ein Kleidchen?«, erkundigt sich Nanny Sue, als sie hinter mich tritt. Langsam habe ich genug von Nanny Sue und ihrer sinnlosen Fragerei.
»Die sind außergewöhnlich preiswert«, sage ich ganz ruhig. »Ich finde, als verantwortungsvolle Mutter sollte man immer nach preiswerten Sonderangeboten Ausschau halten, finden Sie nicht auch, Nanny Sue? Wenn ich es recht bedenke ... « Plötzlich kommt mir eine Idee. »Ich glaube, ich bunkere eins für nächstes Jahr.«
Ich nehme ein Kleidchen für Drei-bis Vierjährige. Wieso ist mir das nicht gleich eingefallen? Ich nehme auch noch ein rotes und gehe zu dem Ständer mit den pinken Regenmänteln mit den Blumenkapuzen. Da gibt es überhaupt keine kleinen Größen, aber ich finde eine Größe 7-8. Ich meine, Minnie wird schließlich einen Mantel brauchen, wenn sie sieben ist, oder?
Und da gibt es ein wirklich süßes Samtjäckchen für Zwölfjährige, für nur 20, heruntergesetzt von 120! Es wäre doch ein totaler Fehler, es nicht zu kaufen.
Ich kann gar nicht fassen, wie vorausschauend ich bin, während ich immer mehr Sachen in meinen Korb lege. Ich habe praktisch alle entscheidenden Kleidungsstücke für die nächsten zehn Jahre gekauft, spottbillig! Jetzt braucht sie nichts mehr!
Als ich den ganzen Stapel bezahle, glühe ich förmlich vor Selbstzufriedenheit. Ich habe Hunderte gespart.
»Schön!« Nanny Sue scheinen ein wenig die Worte zu fehlen, als die Kassiererin mir drei riesige Tüten reicht. »Da haben Sie doch erheblich mehr als nur ein paar Söckchen gekauft! «
»Hab nur vorausgedach« Ich nehme einen weisen, mütterlichen Ton an. »Kinder wachsen so schnell. Das darf man nicht vergessen. Wollen wir jetzt einen Kaffee trinken«
»Starbucks?«, stimmt Minnie sofort mit ein. Sie hat darauf bestanden, den pinken Regenmantel Größe 7-8 zu tragen, obwohl er am Boden schleift. »Starbucks-Muffin?«
»Vielleicht sollten wir lieber gleich zu einer Coffee-Shop Kette gehen.« Ich versuche, bedauernd zu klingen. »Es könnte sein, dass es hier keine Bioläden gibt.«
Ich konsultiere den Lageplan -um zum Cafe-und Restaurantbereich zu kommen, müssen wir an allen Designer-Shops vorbei. Was okay ist. Es wird schon gehen. Ich werde einfach nicht in die Schaufenster gucken.
Als wir drei loslaufen, ist mein Blick starr geradeaus gerichtet, auf diese spitze, moderne Skulptur, die von der Decke hängt. Es geht schon. Es macht mir nichts aus. Ich habe mich daran gewöhnt, nicht shoppen zu gehen. Es fehlt mir fast überhaupt nicht ...
Oh, mein Gott, da ist dieser Burberry-Mantel mit den Rüschen, der sogar auf dem Laufsteg war. Gleich da im Fenster. Ich frage mich, wie viel ...
Nein. Geh weiter, Becky. Nicht hinsehen. Ich schließe die Augen, bis sie nur noch zwei schmale Schlitze sind. Ja, das ist gut. Wenn ich die Läden nicht richtig sehen kann ...
»Ist alles in Ordnung?« Plötzlich sieht mich Nanny Sue an. »Rebecca, sind Sie krank?«
»Es geht mir gut!« Meine Stimme klingt ein wenig erstickt. Es ist so lange her, seit ich zuletzt shoppen war. Ich merke, dass sich in mir ein gewisser Druck aufbaut, eine Art brodelnde Verzweiflung.
Aber ich muss sie ignorieren. Ich habe es Luke versprochen. Ich habe es versprochen.
Denk an was anderes. Ja. Zum Beispiel daran, wie ich in dem Schwangerschaftskurs war und man mir gesagt hat, ich solle atmen, um mich von den Schmerzen abzulenken. Ich werde atmen, um mich vom Shoppen abzulenken.
Einatmen ... ausatmen ... einatmen ... oh, mein Gott, das ist ein Temperley-Kleid.
Meine Beine sind stehen geblieben. Es ist ein weißgoldenes Temperley-Abendkleid in einem Laden, der Fifty Percent Frocks heißt. Es hat eine atemberaubende Stickerei um den Hals, reicht bis auf den Boden und sieht aus, als wäre es bis eben noch auf dem roten Teppich gewesen. Und daneben steht ein Schild, auf dem steht »Heute noch mal 20% billiger«.
Ich kralle meine Finger um meine Einkaufstüten, als ich durch die Scheibe starre. Ich darf dieses Kleid nicht kaufen. Ich darf es nicht mal ansehen. Aber irgendwie ... kann ich mich auch nicht rühren. Wie angewurzelt stehe ich auf dem polierten Marmorboden.
»Rebecca?« Auch Nanny Sue ist stehen geblieben. Sie betrachtet das Kleid und schnalzt missbilligend mit der Zunge. »Diese Kleider sind schrecklich teuer, nicht? Sogar noch heruntergesetzt. «
Was anderes fällt ihr dazu nicht ein? Das ist das schönste Kleid auf der Welt, und es kostet nur einen Bruchteil dessen, was es normalerweise kosten würde, und wenn ich Luke nicht dieses dämliche Versprechen gegeben hätte ...
Oh, mein Gott. Ich habe die Lösung. Im Grunde könnte es die Lösung für so vieles sein.
»Minnie.« Abrupt drehe ich mich zu ihr um. »Mein süßes, allerliebstes kleines Mädchen.« Ich beuge mich zu ihr herab und nehme ihr Gesicht in beide Hände. »Schätzchen ... hättest du gern ein Temperley-Kleid als Geschenk zu deinem einundzwanzigsten Geburtstag?«
Minnie antwortet nicht, was nur daran liegt, dass sie nicht versteht, was ich ihr da anbiete. Wer möchte kein Temperley-Kleid zu seinem einundzwanzigsten Geburtstag? Und bis sie einundzwanzig wird, ist es ein seltenes Vintage-Stück! Ihre Freundinnen werden alle total neidisch sein! Sie werden sagen: »Gott, Minnie, ich wünschte, meine Mutter hätte mir so ein Kleid gekauft, als ich zwei war.Die Leute werden sie Das Mädchen mit dem Vintage-Temperley-Kleid nennen.«
Und ich könnte es mir für Lukes Party leihen. Nur um es für sie auszuprobieren.
»Muffin?«, sagt Minnie hoffnungsvoll.
»Kleid«, sage ich mit fester Stimme. »Das ist für dich, Minnie! Es ist dein Geburtstagsgeschenk!« Entschlossen führe ich sie in den Laden und ignoriere Nanny Sues erstaunten Blick. Ich brauche zehn Sekunden, um den Laden zu überschauen und festzustellen, dass das Temperley-Kleid das Beste ist, was sie haben. Ich wusste, dass es ein guter Deal ist.
»Hi«, sage ich atemlos zu der Verkäuferin. »Ich möchte bitte gern das Temperley-Kleid. Oder besser ... es ist für meine Tochter. Ich kaufe es im Voraus ... offensichtlich!«, füge ich mit einem kleinen Lachen hinzu. »Für ihren einundzwanzigsten Geburtstag.«
Die Verkäuferin starrt Minnie an. Dann mich. Dann ihre Kolleginnen, als bräuchte sie Hilfe.
»Bestimmt hat sie später mal dieselbe Kleidergröße wie ich«, füge ich hinzu. »Also probiere ich es für sie an. Gefällt dir das hübsche Kleid, Minnie?«
»Nein Kleid.« Ihre Stirn runzelt sich zusammen.
»Süße, es ist ein Temperley.« Ich halte den Stoff hoch, um ihn ihr zu zeigen. »Du wirst zauberhaft darin aussehen! Eines Tages.«
»Nein Kleid!« Sie rennt zum anderen Ende des Ladens und klettert in eine offene Vorratsschublade.
»Minnie!«, rufe ich. »Komm da raus! Entschuldigen Sie ... «, rufe ich über meine Schulter hinweg der Verkäuferin zu.
»Muffin!«, schreit sie, als ich versuche, sie mit Gewalt herauszuhieven. »Will Muffin!«
»Du kriegst einen Muffin, sobald wir das Kleid haben«, sage ich beschwichtigend. »Es geht ganz schnell ... «
»Nein Kleid!« Irgendwie entwindet sie sich meinem Griff und krabbelt ins Schaufenster. »Püppi! Mein Püppi!«
Jetzt greift sie sich die nackte Schaufensterpuppe.
« Minnie, hör bitte auf damit, Süße!« Ich gebe mir Mühe, nicht so entsetzt zu klingen, wie ich in Wirklichkeit bin. »Komm zurück!«
,>Mein Püppi!« Sie reißt die Puppe komplett vom Sockel, sodass sie krachend auf den Boden fällt, und nimmt sie in die Arme. ,>Meeeiiiin!«
»Komm da runter, Minnie!«, sage ich. »Das ist keine Püppi! Sie denkt, es ist eine Puppe«, füge ich zur Verkäuferin gewandt hinzu und bemühe mich um ein unbekümmertes Lachen. »Sind Kinder nicht urkomisch?«
Die Verkäuferin lacht nicht zurück. Sie lächelt nicht mal.
»Würden Sie sie bitte dort herunterholen?«, sagt sie.
»Natürlich! Tut mir leid ... « Rotgesichtig versuche ich, Minnie mit aller Kraft von der Puppe wegzureißen. Doch sie saugt sich daran fest wie eine Napfschnecke. »Komm schon, Minnie!« Ich versuche, entspannt und nachdrücklich zu klingen. »Komm, Schätzchen. Runter da!«
»Nein!«, kreischt sie. »Mein Püppiiiii!«
»Was ist hier los?«, bellt jemand hinter mir. »Was macht dieses Kind da? Könnte es vielleicht mal jemand zurückrufen?«
Mein Magen krampft sich zusammen. Ich kenne diese schnarrende, weinerliche Stimme. Ich fahre herum -und tatsächlich ist es die Elfe, die uns aus der Weihnachtsmannwerkstatt verbannt hat. Noch immer hat sie lila Fingernägel und ein lächerlich sonnenstudiogebräuntes Dekollete, doch jetzt trägt sie ein schwarzes Kostüm mit einem Schild, auf dem steht »Assistant Manager«
»Sie!« Ihre Augen werden schmal.
»Oh, hi«, sage ich nervös. »Nett, Sie wiederzusehen. Wie geht es dem Weihnachtsmann?« »Würden Sie bitte Ihr Kind entfernen?«, sagt sie spitz. »Äh ... okay. Kein Problem.« Ich sehe Minnie an, die sich nach wie vor an die Schaufensterpuppe klammert, als hinge ihr Leben davon ab. Ich werde sie nur dort wegbekommen, indem ich jeden Finger einzeln zurückbiege. Ich werde zehn Hände brauchen.
»Könnten wir die Schaufensterpuppe vielleicht ... kaufen?« Als ich den Gesichtsausdruck der Sonnenstudio-Elfe sehe, wünsche ich mir nur, ich hätte diese Frage nie gestellt.
»Komm, Minnie, jetzt aber runter da!« Ich versuche, forsch und fröhlich zu klingen, wie eine Mutter in einer Waschmittelwerbung. »Bye-bye, püppi.«
»Neeeeeeiiiinnn!« Sie klammert sich noch fester.
»Runter da!« Mit aller Kraft schaffe ich es, eine Hand zurückzubiegen, aber sofort krallt sie sich wieder fest.
»Meeeeiiin!«
»Holen Sie Ihre Tochter von dieser Schaufensterpuppe!«, fährt mich die Elfe an. »Da kommen Kunden! Schaffen Sie sie da runter!« »Ich versuche es ja!«, sage ich verzweifelt. »Minnie, ich kauf dir eine püppi. Ich kaufe dir zwei Püppis!« Ein paar Mädchen mit Einkaufstüten sind stehen geblieben, um uns zuzusehen, und eine fängt an zu kichern.
»Minnie, gleich kriegst du ein Stilles Schleifchen!« Mir ist total heiß und schwummerig. »Und du kommst auf die Stille Treppe! Und du kriegst nie wieder was Süßes! Und der Weihnachtsmann zieht auf den Mars, und die Zahnfee auch ...« Ich packe sie bei den Füßen, aber sie tritt mir ans Schienbein. »Autsch! Minnie!«
»Püppiiiiiii!«, heult sie.
»Wissen Sie was?«, bricht es plötzlich aus der Elfe hervor. »Nehmen Sie die Schaufensterpuppe! Nehmen Sie die verdammte Puppe einfach mit!«
« Mitnehmen?« Ich starre sie an, verdutzt.
« Ja! Egal! Gehen Sie endlich! GEHEN SIE! RAUS!«
Minnie liegt noch immer der Länge nach auf der Schaufensterpuppe und klammert sich mit aller Kraft daran. Unbeholfen hebe ich die Puppe mit beiden Händen auf und schleppe sie wie eine Leiche hinter mir her. Ächzend vor Anstrengung bringe ich es irgendwie fertig, sie bis vor die Tür zu manövrieren -dann lasse ich sie fallen und blicke auf. Nanny Sue ist uns mit meinen drei Einkaufstüten gefolgt. Jetzt beobachtet sie mich und Minnie mit undurchschaubarer Miene.
Und plötzlich ist es, als erwachte ich aus einer Trance. Plötzlich sehe ich alles, was eben passiert ist, mit Nanny Sues Augen. Ich schlucke mehrmals, versuche, mir irgendeine unbekümmerte Bemerkung wie »Tja, so sind Kinder... was soll man machen?«, zu überlegen. Aber mir will nichts einfallen, und außerdem ist mein Mund sowieso total ausgetrocknet. Wie konnte ich das geschehen lassen? Im Fernsehen wird nie jemand aus einem Laden rausgeworfen. Ich bin schlimmer als die ganzen Familien mit ihren alten Kühlschränken im Garten.
Was wird sie wohl in ihrer Beurteilung schreiben? Was wird sie Luke erzählen? Was wird sie ihm raten?
»Haben Sie jetzt genug eingekauft?«, sagt sie mit ganz normaler, freundlicher Stimme, als würden uns nicht sämtliche Passanten anstarren.
Ich nicke schweigend, mit brennenden Wangen.
»Minnie«, sagt Nanny Sue. »Ich glaube, du tust der armen Püppi weh. Wollen wir sie jetzt loslassen und dir was Leckeres kaufen? Wir könnten ja auch Püppi was kaufen.«
Minnie dreht sich um und sieht Nanny Sue einen Moment misstrauisch an -dann klettert sie von der Puppe herunter.
« Braves Mädchen«, sagt Nanny Sue. »Wir lassen die Püppi da, wo sie wohnt.« Sie hebt die Puppe auf und lehnt sie an die Tür. »Und jetzt suchen wir dir was Hübsches zu trinken. Sag: »Ja, Nanny Sue.«
»Aah, Nanny Sue«, plappert Minnie ihr gehorsam nach.
Hä? Wie hat sie das gemacht?
»Rebecca, kommen Sie?«
Irgendwie schaffe ich es, meine Beine in Gang zu bringen, und laufe mit ihnen los. Nanny Sue fangt an zu reden, aber ich höre kein Wort davon. Die Sorge macht mich krank. Sie wird ihren Bericht abgeben und sagen, dass Minnie eine Spezialbehandlung in einem Boot Camp braucht. Ich weiß es genau. Und Luke wird auf sie hören. Was soll ich nur tun?
Um neun Uhr abends bin ich völlig neben der Spur, laufe auf und ab und warte darauf, dass Luke nach Hause kommt.
Es ist der schlimmste Moment in unserer Ehe. Mit Abstand. Mit Millionen Meilen Abstand. Denn wenn es hart auf hart geht, bleibt mir gar nichts anderes übrig, als Minnie irgendwo in Sicherheit zu bringen und Luke nie wiederzusehen und unsere Namen notariell ändern zu lassen und meine Trauer mit Alkohol und Drogen zu ertränken.
Na, gut. Schlimmstenfalls.
Als ich seinen Schlüssel in der Tür höre, erstarre ich.
»Becky?« Er erscheint in der Küchentür. »Ich dachte, du rufst mich an! Wie ist es gelaufen?«
»Prima! Wir waren shoppen und ... äh ... Kaffee trinken.« Ich klinge total aufgesetzt und steif, aber Luke scheint nichts davon zu merken, was nur wieder mal zeigt, wie aufmerksam er ist.
»Und was hat sie über Minnie gesagt?« »Nicht viel. Du weißt schon. Ich denke, sie wird sich wohl wieder melden. Wenn sie ihre Schlussfolgerungen gezogen hat.«
»Hmm.« Luke nickt, lockert seinen Schlips. Er geht zum Kühlschrank, dann bleibt er am Tisch stehen. »Dein BlackBerry blinkt.«
»Ach, ja?«, sage ich mit gespielter Überraschung. »Oh, dann habe ich wohl eine Nachricht bekommen! Willst du sie abhören? Ich bin soooo müde.«
»Wenn du möchtest.« Luke wirft mir einen merkwürdigen Blick zu, nimmt das Gerät und wählt die Mailbox an, während er sich eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank holt.
»Das ist sie.« Abrupt blickt er auf. »Es ist Nanny Sue.« »Wirklich?« Ich versuche, erstaunt zu klingen. »Na ... dann stell sie doch auf Mithören!« Während die Küche von den gedehnten Vokalen Südwestenglands erfüllt ist, lauschen wir beide regungslos.
» ... folgt ein vollständiger Bericht. Ich wollte nur kurz sagen, dass Minnie ein zauberhaftes Kind ist. Es war mir ein Vergnügen, den Tag mit ihr und Ihrer Frau zu verbringen. Beckys erzieherisches Talent ist tadellos, und ich kann in Ihrer Familie keinerlei Probleme erkennen. Herzlichen Glückwunsch! Auf Wiederhören. «
»Wow!«, rufe ich, nachdem aufgelegt wurde. »Wenn das nicht erstaunlich ist! Da können wir die ganze Episode ja jetzt hinter uns lassen und zu Wichtigerem übergehen.«
Luke hat bisher mit keiner Wimper gezuckt. Jetzt wendet er sich um und sieht mich lange und eindringlich an.
»Becky.«
»Ja?« Ich werfe ihm einen nervösen Blick zu.
»War das zufällig Janice, die mit Akzent gesprochen hat?«
Was? Wie kann er so was auch nur sagen?
Ich meine, okay, es war Janice, aber sie hat ihre Stimme perfekt verstellt. Ich war echt beeindruckt. »Nein!« Ich plustere mich auf. »Das war Nanny Sue, und ich bin echt gekränkt, dass du mich so was fragst.« »Gut. Na, ich ruf sie gleich mal an und rede mit ihr.« Er holt seinen BlackBerry hervor.
»Nein, nicht!«, jaule ich.
Wieso ist er so misstrauisch? Das ist kein feiner Charakterzug. Das werde ich ihm eines Tages mal sagen. »Du störst sie nur«, improvisiere ich. »Es gehört sich nicht, so spät noch anzurufen.« »Das ist deine einzige Sorge, ja?« Er zieht die Augenbrauen hoch. »Dass es sich nicht gehört?«
»Ja«, sage ich trotzig. »Natürlich.«
»Na, dann schick ich ihr eine Mai!.«
Oh, Gott. Das läuft nicht wie geplant. Ich dachte, ich könnte wenigstens etwas Zeit schinden.
»Okay, okay! Es war Janice«, sage ich verzweifelt, als er schon tippt. »Aber ich hatte keine Wahl! Luke, es war schrecklich. Es war eine Katastrophe. Minnie ist aus einem Laden rausgeflogen, und sie hat eine Schaufensterpuppe gestohlen, und Nanny Sue hat nichts gesagt, hat mich nur so angesehen, und ich weiß genau, was sie uns empfehlen wird, aber ich kann Minnie nicht in irgendein Boot Camp in Utah schicken! Ich kann es einfach nicht. Und wenn du mich zwingst, muss ich eine richterliche Verfügung erwirken, und wir gehen vor Gericht, und dann sind wir wie Kramer gegen Kramer, und sie ist für ihr Leben gezeichnet, und alles ist nur deine Schuld! «
Aus heiterem Himmel laufen mir Tränen über das Gesicht.
»Was?« Ungläubig starrt Luke mich an. »Utah?«
»Oder Arizona. Oder wo das auch sein mag. Ich kann das nicht, Luke.« Ich reibe mir die Augen und fühle mich genau wie Meryl Streep. »Verlang das nicht von mir!«
»Ich verlange doch nichts von dir! Himmel!« Er scheint absolut perplex zu sein. »Verdammte Scheiße, wer hat denn was von Utah gesagt?«
»Ich ... äh ... « Ich bin nicht mehr ganz sicher. Irgendwer bestimmt.
»Ich habe diese Frau engagiert, weil ich dachte, sie könnte uns ein paar Ratschläge zur Kindererziehung geben. Wenn es hilfreich ist, nutzen wir sie. Wenn nicht, dann nicht.«
Luke klingt dermaßen sachlich, dass ich ihn überrascht anblinzle.
Plötzlich fällt mir ein, dass er die Sendung noch nie gesehen hat. Er weiß nicht, wie Nanny Sue in dein Leben eindringt und alles verändert und du dich am Ende an ihrer Schulter ausheulst.
»Ich glaube, dass man auf Profis hören sollte«, sagt Luke ganz ruhig. »Nachdem sie sich Minnie jetzt angesehen hat, sollten wir uns ihre Empfehlungen anhören. Aber darüber geht es nicht hinaus. Abgemacht?«
Wie kann er eine Situation, die wie ein riesiges, verheddertes Spinnennetz aussieht, auf einen einzigen Faden reduzieren? Wie macht er das?
»Ich kann Minnie nicht wegschicken.« Meine Stimme ist immer noch zittrig. »Du wirst uns auseinanderreißen müssen.«
»Becky, hier wird nichts gerissen«, sagt Luke geduldig. »Wir fragen Nanny Sue, was wir tun können, ohne Minnie wegzuschicken. Okay? Drama beendet?«
Darauf bin ich überhaupt nicht vorbereitet. Ehrlich gesagt war ich auf noch mehr Drama eingestellt.
»Okay«, sage ich schließlich.
Luke macht sein Bier auf und grinst mich an. Dann runzelt er die Stirn. »Was ist das?« Er kratzt eine Platzkarte vom Boden der Flasche. >Happy Birthday Mike<. Wer ist Mike?«
Mist. Wie ist das denn da hingekommen?
»Keine Ahnung!« Ich reiße ihm die Karte aus der Hand und knülle sie zusammen. »Komisch. Hab ich wohl aus dem Laden. Wollen wir ... äh ... fernsehen?«
Da wir das Haus für uns allein haben, müssen wir nicht die ganze Zeit Snooker gucken. Oder Real Life Crime. Oder Dokus über den Kalten Krieg. Wir kuscheln auf dem Sofa, während die Gasflamme friedlich vor sich hin flackert, und Luke zappt sich durch die Kanäle, als er plötzlich stutzt und mich ansieht.
»Becky ... du glaubst doch nicht wirklich, dass ich Minnie jemals wegschicken würde, oder? Ich meine, hältst du mich für so einen Vater?«
Er sieht ziemlich aufgewühlt aus, und plötzlich habe ich ein ganz schlechtes Gewissen. Ich habe es tatsächlich geglaubt.
»Äh ... « Mein Telefon klingelt, bevor ich antworten kann. »Es ist Suze«, sage ich mit ungutem Gefühl. »Ich sollte besser rangehen ... « Eilig laufe ich hinaus und hole tief Luft. »Hi, Suze!«
Seit unserem Mini-Streit habe ich Suze mehrmals angesimst, aber miteinander gesprochen haben wir noch nicht. Ob sie mir noch böse ist? Sollte ich die Sache mit der Spezialkekssorte überhaupt erwähnen?
»Hast du Style Central gesehen?« Ihre Stimme gellt durch die Leitung, überrascht mich richtig. »Hast du es gesehen? Ich hab mir gerade ein Heft bringen lassen. Ich dachte, ich traue meinen Augen nicht!«
»Was? Ach, du meinst Tarkies Interview? Sieht er gut aus? Danny meinte, Tarquin wäre richtig experimentierfreudig gewe ... « »Experimentierfreudig? So nennt er das? Interessante Wortwahl. Da würde mir ein besseres Wort einfallen.« Suzes Stimme hat etwas seltsam Scharfes, Sarkastisches an sich. »Was ist los?« Suze ist sonst nie sarkastisch.
»Suze ... ist alles okay?«, sage ich nervös.
»Nein, ist es nicht! Ich hätte Tarkie nie allein zu diesem FotoShooting schicken dürfen! Ich hätte Danny niemals trauen dürfen. Was habe ich mir nur dabei gedacht? Wo waren Tarkies Berater? Wer hat die Fotostrecke gemacht? Denn wer es auch war: Ich werde ihn verklagen ... «
»Suze!« Ich versuche, ihren Wortschwall zu bremsen. »Sag doch mal: Was ist denn los«
« Sie haben Tarkie in Leder-Bondage-Klamotten gesteckt!«, bricht es aus ihr hervor. Das ist los! Er sieht aus wie ein schwules Model!«
Oh, Gott. Die Sache bei Tarquin ist, er kann tatsächlich ein bisschen ... metrosexuell aussehen. Und Suze ist ziemlich empfindlich, was das angeht.
»Komm schon, Suze«, sage ich beschwichtigend. Er sieht bestimmt nicht richtig schwul aus ... «
»Doch, tut er! Und zwar absichtlich! Die haben nicht mal erwähnt, dass er verheiratet ist und Kinder hat! Es dreht sich alles nur um den sexy Lord Tarquin mit seinen gestählten Muckis und um das, was er unter seinem Kilt versteckt! Und sie haben alle möglichen, zweideutigen Requisiten verwendet ... « Ich höre förmlich, wie sie sich schüttelt. Ich bring Danny um. Ich bring ihn um!«
Bestimmt übertreibt sie. Aber andererseits kann Suze eine ziemliche Löwenmutter werden, wenn es um ihre Familie geht. »Ich bin nicht sicher, ob es wirklich so schlimm ist, wie du meinst ... «, setze ich an.
»Ach, meinst du?«, sagt sie wütend. »Na, dann warte mal, bis du es siehst! Und ich weiß nicht, wieso du ihn verteidigst, Bex. Dich hat er auch reingelegt.«
Ich glaube, langsam wird Suze ein bisschen seltsam. Wie um alles in der Welt sollte Danny mich in einem Interview über seine neue Kollektion reingelegt haben?
»Okay, Suze«, sage ich geduldig. »Inwiefern hat Danny mich reingelegt?«
»Lukes Party. Er hat geplaudert.«
So schnell bin ich noch nie die Treppe raufgelaufen. Innerhalb von dreißig Sekunden bin ich online, klicke mich fiebrig durch, bis ich zur richtigen Seite komme. Und da ist es, gleich unter einem schwülstigen Schwarzweiß-Foto von Tarkie, der im engen, weißen T-Shirt Holz hackt und den Kilt fast obszön weit unten trägt. (Er hat tatsächlich hübsche Bauchmuskeln, unser Tarkie. Das war mir gar nicht so bewusst.)
Kovitz plant eine eigene Möbel-Kollektion und eine Lifestyle-Website, steht da im Interview. Nimmt sich der Mode-Wirbelwind auch mal eine Auszeit? >Natürlich<, lacht Kovitz, ich feiere gern. Gerade bin ich auf dem Weg nach Goa, dann komme ich extra für eine Surprise Party zurück. Die gilt übrigens Luke Brandon, dem Mann von Rebecca Brandon, die diese ganze Zusammenarbeit initiiert hat. So schließen sich in der Modewelt die Kreise.«
Ich lese es dreimal und atme immer schnelIer.
Ich bring Danny um. Ich bring ihn um!
Von: Becky Brandon Betrifft: DRINGENDE NACHRICHT!!!!!! Datum: 13. März 2006
An: Abonnenten@stylecentral-magazine.com
Liebe Leser von Style Central,
beim Lesen der letzten Ausgabe von Style Central wird Ihnen vielleicht ein kleiner Hinweis von Danny Kovitz auf eine Überraschungsparty für meinen Mann Luke Brandon -aufgefallen sein.
Ich bitte Sie herzlichst, ALLES ZU VERGESSEN UND ES AUS IHREM GEDÄCHTNIS ZU LÖSCHEN. Sollten Sie meinen Mann zufällig kennen, erwähnen Sie es bitte nicht. Es soll nämlich eine ÜBERRASCHUNG werden.
Noch besser wäre es, wenn Sie die Seite herausreißen und vernichten könnten.
Mit aufrichtigem Dank
Rebecca Brandon (geborene Bloomwood)
Leute, die über die Party Bescheid wissen
Ich
Suze
Tarquin
Danny
Jess
Tom.
Mum
Dad
Jaice
Martin
Bonnie
Diese drei Frauen die am Nebentisch gelauscht haben
Gary
Janices Klempner
Rupert und Harry bei The Service
Vertriebschefs von Bollinger, Dom Perignon, Bacardi, Veuve Cliqnot, Party Time
Beverages, Jacob´s Creek, Kentish English Sparkling Wine
Cliff
Maniküre (ich war so gestresst, dass ich mit irgendwem sprechen musste und sie hat versprochen, nichts auszuplaudern)
165 geladene Gäste (ohne die Leute von Brandon C)
500 Leser von Style Central
Insgesamt = 693
Oh Gott.