VIII

DICHT GEFOLGT VON BRUDER EADULF

betrat Fidelma das Gemach der Äbtissin. Hilda von Witebia saß am Kamin. Vor ihr stand ein großer Bursche mit blondem Haar und einer Narbe im Gesicht, in dem Fidelma sofort den jungen Mann erkannte, den Bruder Taran ihr im sacrarium gezeigt hatte: Alhfrith, Oswius erstgeborenen Sohn. Als sie ihn jetzt von nahem sah, dachte sie sofort, daß die Narbe gut zu ihm paßte, denn seine Gesichtszüge waren zwar nicht häßlich, wirkten aber auf merkwürdige Weise grausam. Vielleicht lag es daran, daß seine Lippen auffallend schmal waren und seine Augen eisblau, kalt und leblos aussahen -wie die Augen einer Leiche.

«Das ist Alhfrith von Deira», stellte die Äbtissin ihren Besucher vor.

Bruder Eadulf verbeugte sich tief, wie es die Art der Sachsen war, wenn sie ihren Prinzen gegenübertraten. Fidelma hingegen blieb aufrecht stehen und schenkte ihm nicht mehr als ein kurzes, ehrerbietiges Nicken. Anders hätte sie es auch nicht getan, wenn sie einem Provinzkönig in Irland begegnet wäre, denn ihr Rang berechtigte sie, selbst mit dem Hochkönig auf gleicher Stufe zu verkehren.

Alhfrith streifte Schwester Fidelma mit einem kurzen, gleichgültigen Blick und wandte sich dann auf sächsisch an Bruder Eadulf. Fidelma konnte nur wenig Sächsisch, und Alhfrith sprach so schnell und mit einem so breiten Akzent, daß sie kaum etwas verstand. Sie hob eine Hand und unterbrach den Thronerben von Northumbrien.

«Es wäre sicherlich besser», sagte sie auf lateinisch, «wenn wir uns auf eine Sprache einigen könnten, die wir alle beherrschen. Ich kann kein Sächsisch. Wenn wir keine gemeinsame Sprache finden, käme Euch, Bruder Eadulf, die Aufgabe zu, für mich zu dolmetschen.»

Alhfrith hielt in seinem Redefluß inne und machte durch seinen Gesichtsausdruck mehr als deutlich, daß er es nicht gewohnt war, unterbrochen zu werden.

Äbtissin Hilda unterdrückte ein Lächeln.

«Da Alhfrith kein Lateinisch kann», sagte sie, «schlage ich vor, daß wir miteinander Irisch sprechen. Ich denke, das ist eine Sprache, derer wir alle mächtig sind.»

Mit zusammengezogenen Augenbrauen wandte sich Alhfrith an Fidelma.

«Columbans Mönche haben mich ein wenig Irisch gelehrt, als sie unserem Land das Christentum brachten. Wenn Ihr kein Sächsisch könnt, werde ich eben Irisch sprechen.» Er sprach langsam und mit einem starken Akzent, aber seine Kenntnisse reichten aus, um sich verständlich zu machen.

Mit einer Handbewegung forderte Fidelma ihn auf fortzufahren. Verärgert mußte sie jedoch feststellen, daß er sich wieder Eadulf zuwandte, um seine Worte an ihn zu richten.

«Es gibt keinen Grund mehr, Eure Untersuchung fortzusetzen. Der Übeltäter sitzt hinter Schloß und Riegel.»

Bruder Eadulf wollte gerade antworten, als Schwester Fidelma ihm das Wort abschnitt.

«Und werdet Ihr uns auch verraten, wer dieser Übeltäter ist?»

Alhfrith blinzelte erstaunt. Sächsische Frauen kannten den ihnen gebührenden Platz. Aber er hatte schon mehrfach Bekanntschaft mit der Kühnheit irischer Frauen geschlossen. Nicht zuletzt war Fin, seine Stiefmutter, eine Beispiel für die Anmaßung der Irinnen gewesen, sich den Männern ebenbürtig zu fühlen. Er unterdrückte die scharfe Erwiderung, die ihm auf den Lippen lag, und beschränkte sich darauf, Fidelma strafend anzusehen.

«Aber gewiß doch. Es ist ein Bettler aus Irland. Er nennt sich Canna, Sohn Cannas.»

Fidelma hob fragend die Augenbrauen.

«Und wie habt Ihr ihn entdeckt?»

Bruder Eadulf fühlte sich bei ihrem herausfordernden Tonfall sichtlich unwohl. Zwar hatte er in ihrem Heimatland mit der selbstbewußten Art der irischen Frauen Bekanntschaft geschlossen, doch wenn er ihr in seinem eigenen Land begegnete, löste sie bei ihm stets Unbehagen aus.

«Das war ganz einfach», erwiderte Alhfrith kühl. «Der Mann ist überall herumgelaufen und hat den Leuten erzählt, wann und auf welche Weise Äbtissin Etain ermordet werden würde. Entweder ist er ein großer Hexenmeister, oder er muß der Mörder sein. Als christlicher König, der sich zur Kirche Roms bekennt, glaube ich nicht an Hexerei», sagte er mit Nachdruck. «Den genauen Zeitpunkt des Todes konnte nur der voraussagen, der auch vorhatte, das Verbrechen zu begehen.»

Eadulf nickte zögernd, doch Fidelma sah den sächsischen Prinzen zweifelnd an.

«Gibt es Zeugen dafür, daß er die genaue Stunde des Mordes an Äbtissin Etain vorausgesagt hat?»

Mit großer Geste zeigte Alhfrith auf Äbtissin Hilda.

«Da habt ihr eine Zeugin, die über jeden Zweifel erhaben ist.»

Schwester Fidelma musterte die Äbtissin fragend.

Hilda wirkte überrascht und errötete leicht.

«Es stimmt, daß dieser Bettler mich gestern morgen aufsuchte und voraussagte, daß heute in der Abtei Blut fließen würde.»

«Genauere Angaben hat er nicht gemacht?»

Alhfrith schnaubte ärgerlich, als Hilda verneinen mußte.

«Er sagte nur, daß an dem Tag, an dem sich die Sonne am Himmel verfinsterte, Blut die Steine der Abtei beflecken würde. Ein gelehrter Bruder aus Iona hat mir erklärt, daß es heute nachmittag zu einer Sonnenfinsternis kam, weil der Mond zwischen uns und die Sonne trat.»

«Hat er vorausgesagt, daß es Äbtissin Etains

Blut sein würde, und hat er den genauen Zeitpunkt ihres Todes prophezeit?» hakte Fidelma nach.

«Nicht in meiner Gegenwart ...», begann Äbtissin Hilda.

«Aber es gibt andere Zeugen, die genau das beschwören werden», fiel Alhfrith ihr ins Wort. «Wollt Ihr mein Wort in Frage stellen?»

Mit einem entwaffnenden Lächeln wandte sich Schwester Fidelma an den sächsischen König. Nur bei genauer Betrachtung hätte man bemerkt, wie falsch dieses Lächeln war.

«Euer Wort ist kein Beweis im rechtlichen Sinne, Alhfrith von Deira. Selbst unter sächsischem Gesetz muß es für eine Missetat unmittelbare Beweise geben, die nicht bloß auf Hörensagen oder Mutmaßungen beruhen. Wenn ich Euch richtig verstehe, berichtet Ihr uns nur, was andere Euch gesagt haben. Ihr habt diesen Zeugen nicht selbst vernommen.»

Alhfrith errötete. Offenbar wußte er nicht, was er darauf erwidern sollte.

In diesem Augenblick ergriff Bruder Eadulf zum erstenmal das Wort.

«Schwester Fidelma hat recht. Niemand hat Euer Wort in Frage gestellt, weil Ihr kein Zeuge seid und daher auch nicht bestätigen könnt, was dieser Mann gesagt hat.»

Fidelma verbarg ihr freudiges Erstaunen darüber, daß der sächsische Mönch für sie in die Bresche sprang. Sie wandte sich zu Äbtissin Hilda um.

«An unserem Auftrag, in dieser Angelegenheit zu ermitteln, hat sich nichts geändert, Mutter Oberin, außer daß wir jetzt einen Verdächtigen haben. Seht Ihr das nicht auch so?»

Äbtissin Hilda stimmte zu, auch wenn es ihr sichtlich unangenehm war, sich gegen ihren jungen Verwandten stellen zu müssen.

Alhfrith stöhnte verärgert auf. «Das ist die reinste Zeitverschwendung. Die Irin wurde von einem ihrer Landsleute getötet. Je eher diese Nachricht verkündet wird, desto besser. Zumindest wird es den Gerüchten und ungerechtfertigten Anschuldigungen ein Ende setzen, daß sie von einem Anhänger Roms getötet wurde, damit sie bei der Eröffnung der Synode nicht das Wort ergreifen kann.»

«Wenn diese Nachricht der Wahrheit entspricht, wird sie auch verkündet werden», versicherte ihm Fidelma. «Erst einmal müssen wir jedoch klären, ob es sich überhaupt um die Wahrheit handelt.»

«Vielleicht», beeilte sich Bruder Eadulf hinzuzufügen, als der sächsische Prinz drohend die Stirn runzelte, «könnt Ihr uns sagen, wer die Zeugen sind und unter welchen Umständen der Verdächtige verhaftet wurde?»

Alhfrith zögerte.

«Wulfric, einer meiner Thane, hörte, wie der Mann auf dem Markt damit prahlte, er habe Etains Tod vorausgesagt. Er fand drei Leute, die bereit sind, unter Eid auszusagen, sie hätten den Bettler

Etains Tod prophezeien hören, noch ehe ihre Leiche entdeckt worden war. Der Bettler wurde festgenommen und muß mit dem Tod auf dem Scheiterhaufen rechnen, weil er es wagte, Gottes Gesetz zu verhöhnen und sich als allwissender Prophet auszugeben.»

Fidelma sah Alhfrith von Deira offen ins Gesicht.

«Ihr habt den Mann bereits verurteilt, ehe er überhaupt gehört worden ist?»

«Ich habe ihn gehört, und ich habe ihn zum Tod durch das Feuer verurteilt!» versetzte Alhfrith.

Schwester Fidelma öffnete den Mund, um zu widersprechen, doch Eadulf schnitt ihr das Wort ab.

«Das steht in Übereinstimmung mit unseren Sitten und Gesetzen, Fidelma.»

Fidelmas Augen waren kalt.

«Ausgerechnet Wulfric», sagte sie mit gepreßter Stimme. «Ich habe diesen Wulfric von Frihop bereits auf dem Weg nach Streoneshalh kennengelernt. Er hat einen Bruder Columbans einzig und allein zu seinem Vergnügen an einem Straßenbaum aufgeknüpft. Gegen einen Einwohner unseres Landes und einen Anhänger unseres Glaubens würde er wahrlich einen guten Zeugen abgeben.»

Alhfrith riß die Augen auf, und sein Mund öffnete sich, aber es kam kein Laut heraus. Fidelmas Unverfrorenheit hatte ihm die Sprache verschlagen.

Äbtissin Hilda hatte sich unruhig von ihrem Stuhl erhoben. Selbst Bruder Eadulf wirkte verstört.

«Schwester Fidelma!» Hilda war die erste, die ihre Sprache wiederfand. «Ich weiß, daß es Euch mitgenommen hat, Bruder Aelfric von Lindisfarne tot an einem Baum hängen zu sehen, doch wie ich Euch schon sagte, die Sache wird untersucht.»

«Schön», erwiderte Fidelma. «Allerdings wird sich diese Untersuchung unweigerlich auf die Glaubwürdigkeit eines Zeugen namens Wulfric stützen, obwohl der Than von Frihop in dieser Sache kaum als zuverlässig gelten kann. Ihr habt noch drei andere Zeugen genannt. Sind sie unabhängig, oder hat der Than sie sich durch Drohung oder Bestechung gefügig gemacht?»

Als Alhfrith die Bedeutung ihrer Frage begriff, verfinsterte sich sein Gesicht, und seine Augen funkelten vor Zorn.

«Ich habe nicht die Absicht, hierzubleiben und mich von einer . Frau beleidigen zu lassen, ganz egal, welchen Rang sie bekleidet», fauchte er. «Stünde sie nicht unter dem besonderen Schutz meines Vaters, würde ich sie für ihre Frechheit auspeitschen lassen. Und was den irischen Bettler betrifft, wird er morgen bei Tagesanbruch auf dem Scheiterhaufen brennen.»

«Ob er schuldig ist oder nicht?» gab Fidelma hitzig zurück.

«Er ist schuldig.»

«Hoheit», Bruder Eadulfs ruhige Stimme ließ den Vizekönig von Deira auf dem Weg zur Tür innehalten. «Hoheit, es mag ja sein, wie Ihr sagt, nämlich daß der Bettler schuldig ist. Aber wir sollten auf jeden Fall mit unserer Untersuchung fortfahren dürfen. Es handelt sich um eine Angelegenheit von höchster Wichtigkeit. Unser Auftrag kommt direkt vom König, Eurem Vater. Die Augen der Christenheit richten sich auf Witebia, und es steht viel auf dem Spiel. Die Schuld des Mörders muß ohne jeden Zweifel bewiesen sein, sonst kann es leicht geschehen, daß ein Krieg das Königreich verheert und Northumbrien Raub und Plünderung zum Opfer fällt. Nicht nur aus diesem Grund haben wir die Pflicht, Eurem Vater, dem König, zu gehorchen.»

Den letzten Satz hatte er besonders nachdrücklich gesprochen.

Alhfrith blieb stehen und blickte, Schwester Fidelma geflissentlich übersehend, erst Bruder Eadulf und dann Äbtissin Hilda an. «Ihr habt bis zur Morgendämmerung Zeit zu beweisen, daß der Bettler unschuldig ist ... Wenn Euch das nicht gelingt, wird er sterben. Und haltet die Frau im Zaum.» Er deutete auf Fidelma, ohne sie anzusehen. «Meine Geduld hat ihre Grenzen.»

Mit diesen Worten ging er hinaus und ließ die Tür laut hinter sich ins Schloß fallen.

Äbtissin Hilda sah Fidelma vorwurfsvoll an.

«Schwester, Ihr scheint zu vergessen, daß Ihr nicht in Eurem Land seid und wir andere Sitten und Gesetze haben.»

Schwester Fidelma senkte den Kopf.

«Ich werde mein Bestes tun, mich daran zu erinnern, und hoffe, daß Bruder Eadulf mir mit seinem Rat zur Seite stehen wird, wenn ich im Unrecht bin. Mein oberstes Ziel ist es jedoch, die Wahrheit zu ergründen. Der Wahrheit gebührt mehr Respekt als den Prinzen.»

Die Äbtissin seufzte tief. «Ich werde König Oswiu über die neuesten Entwicklungen unterrichten. In der Zwischenzeit mögt Ihr mit Eurer Untersuchung fortfahren. Aber denkt daran, Alhfrith ist König von Deira, der Provinz, zu der nun einmal auch diese Abtei gehört, und das Wort eines Königs ist und bleibt Gesetz.»

Im Gang vor dem Gemach der Äbtissin blieb Bruder Eadulf stehen und sah Fidelma an. In seinem Lächeln lag auch ein gewisses Maß an Bewunderung.

«Äbtissin Hilda hat recht, Schwester. Bei unseren sächsischen Prinzen kommt Ihr nicht weit, wenn Ihr ihre überlegene Stellung nicht anerkennt. Ich weiß, in Irland ist es anders, aber Ihr seid jetzt in Northumbrien. Jedenfalls habt Ihr dem jungen Alhfrith reichlich Stoff zum Nachdenken gegeben. Er scheint jedoch ein äußerst nachtragender junger Mann zu sein. Ihr tätet gut daran, Euch vorzusehen.»

Fidelma erwiderte sein Lächeln.

«Ihr müßt mir sagen, wenn ich etwas falsch mache, Bruder Eadulf. Aber es ist schwer, jemanden wie Alhfrith zu mögen.»

«Könige und Prinzen kommen nicht auf den

Thron, um gemocht zu werden», erwiderte Eadulf. «Welchen Schritt wollt Ihr als nächstes unternehmen?»

«Ich würde gern mit dem Bettler sprechen», erwiderte sie prompt. «Wollt Ihr zu dem Medikus gehen, um seinen Bericht über die Autopsie entgegenzunehmen, oder möchtet Ihr mich begleiten?»

«Ich habe das Gefühl, daß Ihr mich brauchen könntet», antwortete Eadulf ernst. «Ich traue diesem Alhfrith nicht.»

Kurz darauf trafen sie Schwester Athelswith, die ihnen berichtete, Bruder Edgar habe die Untersuchung vorgenommen, aber nichts weiter gefunden. Die Leiche sei in die Katakomben der Abtei gebracht worden, um später dort bestattet werden zu können.

Schwester Athelswith war es auch, die sie hinunter ins hypogeum führte, wie sie das riesige unterirdische Gewölbe des Klosters nannte. Über eine steinerne Wendeltreppe gelangten sie in einen großen Kellerraum mit einer hohen Decke. Durch dunkle Torbögen konnte man von hier aus in weitere unterirdische Räume gelangen. Eine Öllampe in der zitternden Hand, ging Athelswith ihnen durch ein Labyrinth modrig riechender Gänge voraus, bis sie zu den Katakomben kamen, wo in langen Reihen von Steinsarkophagen die Toten der Abtei bestattet lagen. Der unverwechselbare und doch schwer zu beschreibende Geruch des Todes lag in der Luft.

Als sie plötzlich einen menschlichen Klagelaut hörten, blieb Athelswith wie angewurzelt stehen und vollführte eine hastige Kniebeuge.

Schwester Fidelma legte der furchtsamen domina eine Hand auf den Arm. «Das ist jemand, der um die Tote weint», sagte sie mit besänftigender Stimme.

Zögernden Schrittes führte Schwester Athelswith sie weiter voran.

Bald darauf wurde klar, woher das Schluchzen kam. In einer kleinen Nische im hinteren Teil der Katakomben brannten zwei Kerzen. Dort hatte man den Leichnam von Äbtissin Etain aufgebahrt. In ein schlichtes Totenhemd gekleidet, lag sie auf einer Steinplatte. Zu ihren Füßen kauerte Schwester Gwid. Ein ums andere Mal erhob sich das Mädchen schluchzend, warf sich auf den Boden und schrie: «Domine miserere peccatrice!»

Schwester Athelswith wollte zu ihr gehen, aber Fidelma hielt sie zurück.

«Lassen wir sie ruhig noch eine Weile mit ihrer Trauer allein.»

Die domina senkte den Kopf und führte sie weiter.

«Die arme Schwester ist völlig verzweifelt. Sie muß wirklich sehr an der Äbtissin gehangen haben», bemerkte sie nach einer Weile.

«Jeder von uns hat seine eigene Art zu trauern», erwiderte Fidelma.

Jenseits der Katakomben befand sich eine Reihe von Lagerräumen mit dem Weinkeller, auch apothe-ca genannt, in dem große, aus Franken, Gallien und Iberia eingeführte Fässer standen. Fidelma blieb stehen und kräuselte angewidert die Nase. Außer dem Geruch nach Wein durchdrangen noch andere Dünste die unterirdischen Räume.

«Wir befinden uns unmittelbar unter der großen Küche der Abtei, Schwester», erklärte Athels-with entschuldigend. «Die Gerüche ziehen durch die Mauern bis hier hinunter.»

Fidelma antwortete nicht darauf, sondern bedeutete der domina weiterzugehen. Nach einer Weile kamen sie zu einer Reihe kleiner Kammern, die, wie ihnen Schwester Athelswith erklärte, der Aufbewahrung von Vorräten dienten, unter besonderen Umständen jedoch auch als Gefängniszellen zum Einsatz kamen. Pechfackeln erleuchteten die grauen, kalten Wände.

In ihrem spärlichen Licht hockten zwei Männer und würfelten.

Schwester Athelswith sprach sie in gebieterischem Tonfall auf sächsisch an.

Die beiden Männer erhoben sich murrend, und einer von ihnen nahm einen Schlüssel von einem Haken.

Schwester Athelswith, deren Aufgabe erfüllt war, wandte sich um und verschwand in der Düsternis.

Der Mann wollte Eadulf gerade den Schlüssel geben, als sein Blick auf Fidelma fiel. Er grinste anzüglich und sagte etwas, das sein Gefährte offenbar sehr lustig fand.

In scharfem Ton wies Eadulf sie zurecht. Die beiden Krieger zuckten mit den Schultern, und der eine warf den Schlüssel auf den Tisch. Fidelma verstand genug Sächsisch, um zu begreifen, daß Eadulf sich nach den Namen der Zeugen erkundigte, die gegen den Verdächtigen aussagen würden. Der erste Krieger grunzte und nannte ein paar Namen, darunter den Wulfrics von Frihop. Dann kehrten sie zu ihrem Würfelspiel zurück und beachteten die beiden nicht weiter.

«Was hat er gesagt?» flüsterte Fidelma.

«Ich habe nach den Namen der Zeugen gefragt.»

«Das habe ich verstanden. Aber was hat er davor gesagt?»

Sichtlich verlegen zuckte Eadulf mit den Schultern. «Es waren die Worte eines Unwissenden», antwortete er ausweichend.

Fidelma drang nicht weiter in ihn, sondern sah schweigend zu, wie er die schwere Eichentür aufschloß.

In der winzigen, übelriechenden Zelle gab es kein Licht.

Auf einem Bündel Stroh in einer Ecke saß ein Mann mit langem Haar und struppigem Bart. Man hatte ihn offenbar recht unsanft behandelt, denn sein Gesicht war von blauen Flecken übersät, und auf seinen zerlumpten Kleidern waren Blutflecken zu sehen.

Mit dunklen, stumpfen Augen blickte er zu Fidelma auf, und ein Geräusch, das an ein Kichern erinnerte, gurgelte in seiner Kehle.

«Willkommen in meinem prächtigen Heim!» Er versuchte, spöttisch und zuversichtlich zu klingen, doch seine krächzende Stimme zitterte.

«Bist du Canna?» fragte Fidelma.

«Canna, der Sohn Cannas aus Ard Macha», bestätigte der Bettler. «Will mir die Kirche ihren Segen mit auf den Weg geben?»

«Deshalb sind wir nicht hier», erwiderte Bruder Eadulf scharf.

Der Bettler betrachtete ihn eingehend.

«Wen haben wir denn da? Einen sächsischen Bruder, und dazu noch einen, der sich zu Rom bekennt. Falls Ihr mich dazu bringen wollt, ein Geständnis abzulegen, kommt Ihr vergebens. Ich habe Äbtissin Etain nicht umgebracht.»

Fidelma sah auf die jämmerliche Gestalt hinunter.

«Wißt Ihr, weshalb man Euch anklagt?»

Canna schaute auf. Seine Augen weiteten sich, als er in der jugendlichen Schwester eine Landsmännin erkannte.

«Weil ich meine Kunst ausgeübt habe.»

«Was für eine Kunst sollte das sein?»

«Ich bin Astrologe. Durch die Deutung der Gestirne ist es mir möglich, Ereignisse vorauszusehen.»

Eadulf seufzte ungläubig.

«Ihr gebt also zu, daß Ihr den Tod der Äbtissin vorausgesagt habt?»

Der Mann nickte selbstzufrieden.

«Und das war nicht einmal besonders schwer. In Irland ist unsere Kunst uralt, wie Euch die gute Schwester hier bestätigen wird.»

Fidelma nickte zustimmend.

«Ja, unsere Astrologen besitzen die besondere Gabe ...»

«Das ist mehr als eine Gabe», unterbrach sie der Bettler. «Die Astrologie muß studiert werden wie jede andere Wissenschaft oder Kunst. Und ich habe viele Jahre damit zugebracht.»

«Nun gut», lenkte Fidelma ein. «In Irland gibt es die Kunst der Astrologie seit Menschengedenken. Früher gehörte die Deutung der Sterne zu den Vorrechten der Druiden, heute durchdringt sie das gesamte Leben, und viele Häuptlinge und Könige beginnen nicht einmal mit dem Bau eines neuen Hauses, ohne ein Horoskop erstellen und die günstigste Zeit für ein solches Unterfangen ermitteln zu lassen.»

Eadulf schnaubte verächtlich. «Behauptet Ihr etwa, daß Ihr Etains Tod aus einem Horoskop herausgelesen habt?»

«Genau das.»

«Und Ihr habt ihren Namen und die Stunde ihres Todes genannt?»

«Ja.»

«Und es gibt Leute, die Eure Prophezeiungen hörten, noch ehe Äbtissin Etain gestorben ist?»

«Ja.»

Eadulf starrte Canna ungläubig an.

«Und dennoch schwört Ihr, sie nicht getötet oder irgendeinen Anteil an ihrem Tod gehabt zu haben?»

Canna schüttelte den Kopf.

«Ich bin unschuldig. Darauf schwöre ich tausend Eide.»

Eadulf wandte sich an Fidelma.

«Ich bin ein einfacher Mann, der nur das glaubt, was er sieht. Deshalb meine ich, daß Canna der Mörder sein oder in den Mordplan eingeweiht gewesen sein muß. Kein Mensch kann die Zukunft voraussagen.»

Mit ernster Miene schüttelte Schwester Fidelma den Kopf.

«In unserem Volk ist die Wissenschaft der Astrologie weit fortgeschritten. Selbst einfache Leute kennen die Himmelserscheinungen und stellen im täglichen Leben einfache astronomische Beobachtungen an. Viele können die jeweilige Stunde der Nacht an der Stellung der Gestirne ablesen.»

«Aber vorauszusagen, daß die Sonne sich ausgerechnet in dem Augenblick am Himmel verfinstert ...», begann Eadulf.

«Das ist nun wirklich keine besondere Kunst», unterbrach ihn Canna, verärgert über den Tonfall des Sachsen.

«In Irland würde es niemand als schwierig ansehen, eine Sonnenfinsternis vorauszusagen», stimmte ihm Fidelma zu.

«Und den Mord an einem Menschen zu prophezeien?» beharrte Eadulf. «Soll das ebenfalls nicht schwierig sein?»

Fidelma zögerte und biß sich auf die Lippen.

«Das ist tatsächlich etwas anderes. Aber ich weiß, daß guten Astrologen auch so etwas gelingen kann.»

Canna unterbrach sie mit einem keuchenden Lachen.

«Wollt Ihr wissen, wie es gemacht wird?»

Schwester Fidelma nickte. «Sagt uns, wie Ihr zu Euren Schlußfolgerungen gekommen seid.»

Ächzend griff Canna in die Tasche seines zerlumpten Wamses, zog ein Stück Pergament hervor, auf dem zahlreiche Linien und Zahlen verzeichnet waren, und hielt es ihnen entgegen.

«Es ist ganz einfach. Am ersten Tag dieses Monats, der in Irland den heiligen Feuern des Bel geweiht ist, stand der Mond zur siebten Stunde des Tages zwischen uns und der Sonne, vielleicht auch einige Minuten vor oder nach der siebten Stunde. Das ließ sich nicht sagen, die Minuten oder Sekunden können wir bei so etwas nie genau angeben. Und hier, im achten Haus, stand der Stier. Das achte Haus bedeutet Tod. Der Stier ist das Sinnbild Irlands, aber auch das Tierkreiszeichen, das beim menschlichen Körper den Bereich der Kehle bezeichnet. Die Sterne kündigten also einen Tod durch Erwürgen, Erhängen oder Durchschneiden der Kehle an. Und aus dem Sternbild Stier schloß ich darauf, daß dieser Tod ein Kind Eireanns betreffen würde.»

Eadulf sah nicht überzeugt aus, aber Schwester Fidelma, die der Logik des Astrologen zu folgen schien, nickte nur und bedeutete Canna fortzufahren.

«Schaut her.» Canna deutete auf seine Berechnungen. «Zur gleichen Zeit empfingen die Planeten Merkur und Venus einander in ihren jeweiligen Häusern. Beherrscht Merkur nicht das zwölfte Haus, das für Mord, Heimlichtuerei und Verrat steht? Und Venus das achte Haus, das Haus des Todes? Und symbolisiert Venus nicht gleichzeitig auch alles Weibliche? Außerdem stand Venus auch noch im neunten, ebenfalls von Merkur beherrschten Haus, das alles Religiöse bezeichnet. Und als ob all diese Fingerzeige noch nicht ausreichten, gab es eine Konjunktion zwischen Merkur und der vom Mond verdeckten Sonne.»

Canna lehnte sich zurück und sah die beiden triumphierend an.

«Jedes Kind kann diese Zeichen lesen.»

Eadulf schnaubte verächtlich, um seine Unwissenheit zu verbergen.

«Da ich kein Kind bin, muß ich Euch wohl bitten, mir in einfachen Worten zu erklären, was all das zu bedeuten hat?»

Canna zog wütend die Brauen zusammen.

«Wenn Ihr es noch immer nicht verstanden habt: Die Position der Gestirne zeigte an, daß die Sonne sich um fünf Uhr nachmittags verfinstern und es zur gleichen Zeit einen Todesfall durch

Erwürgen, Erhängen oder Durchschneiden der Kehle geben würde. Die Gestirne offenbarten weiter, daß das Opfer eine Frau und aller Wahrscheinlichkeit nach eine Irin sein würde, die in enger Beziehung zur Religion stand. Und der Stand der Planeten deutete daraufhin, daß es sich bei diesem Tod um einen Mord handeln würde. Habe ich mich einfach genug ausgedrückt?»

Eine Weile starrte Eadulf den Bettler nachdenklich an, dann wandte er sich an Fidelma.

«Obgleich ich lange Zeit in Eurem Land studiert habe, Schwester, kenne ich diese Wissenschaft nicht. Wißt Ihr etwas darüber?»

Fidelma schürzte die Lippen.

«Viel zu wenig. Aber es reicht aus, um zu erkennen, daß Cannas Worte nach den Regeln seiner Kunst Sinn ergeben.»

Eadulf schüttelte zweifelnd den Kopf.

«Und doch sehe ich keine Möglichkeit, ihn vor Alhfriths Scheiterhaufen zu retten. Selbst wenn er die Wahrheit sagt und er Etain nicht umgebracht hat, wird jemand, der auf solche Weise die Zeichen des Himmels deutet, meinen sächsischen Landsleuten unheimlich sein.»

Schwester Fidelma seufzte.

«Was ich nach und nach über Eure sächsische Kultur erfahre, stimmt mich sehr nachdenklich. Aber mein Ziel muß es sein, Etains Mörder zu finden, und nicht, Euren Aberglauben zu bekämpfen. Canna gibt zu, daß er Etains Tod prophezeit hat.

Jetzt müssen wir die Zeugen finden, die ihren Namen und die genaue Stunde ihres Todes gehört haben wollen. Kurz, wir müssen herausfinden, wie genau seine Prophezeiung gewesen ist. Ich fürchte, er ist ein eitler Mann.»

Wütend spuckte Canna aus.

«Ich habe Euch erzählt, was ich gesagt habe und warum ich es gesagt habe. Ich habe keine Angst vor den Sachsen und ihren Strafen. Mit dieser Prophezeiung werde ich als einer der größten Seher meiner Zeit in die Geschichte eingehen.»

Schwester Fidelma zog die Augenbrauen hoch.

«Legt Ihr es darauf an, Canna? Wollt Ihr zum Märtyrer werden, um Euch einen Platz in der Geschichte zu sichern?»

Canna kicherte heiser.

«Soll die Nachwelt das gerechte Urteil über mich fällen.»

Schwester Fidelma schob Eadulf zur Tür der Zelle, wandte sich aber noch einmal um.

«Warum habt Ihr heute Äbtissin Etain besucht?»

Canna erschrak. «Nun ...», begann er unsicher, «um sie zu warnen natürlich.»

«Ihr wolltet sie vor ihrer eigenen Ermordung warnen?»

«Nein .» Canna streckte trotzig das Kinn vor. «Doch. Warum hätte ich sonst zu ihr gehen sollen?»

Vor der Zelle wandte sich Eadulf an Fidelma.

«Kann es sein, daß dieser Mann Etain getötet hat, um seine eigene Prophezeiung zu erfüllen?» fragte er. «Immerhin gibt er zu, bei ihr gewesen zu sein, und Schwester Athelswith kann dies bezeugen.»

«Ich bezweifele es. Ich habe große Achtung vor der Kunst, die er ausübt. Die Astrologie ist in meinem Land seit Menschengedenken hoch angesehen. Niemand könnte die Sterne willkürlich mit solcher Logik auslegen. Nein, ich habe das Gefühl, Canna erkannte an der Konstellation der Sterne tatsächlich, daß ein Unheil nahte. Die Frage ist bloß, ob er wirklich so genau gewußt hat, wem der Tod drohte. Hat Äbtissin Hilda nicht bezeugt, er habe, als er bei ihr war, keine genauen Angaben gemacht, sondern nur prophezeit, daß zur Zeit der Sonnenfinsternis in der Abtei Blut fließen würde?»

«Aber wenn Canna nicht wußte, wer der Untat zum Opfer fallen würde, was hat er dann bei Äbtissin Etain gewollt?»

«Es ist schon spät. Wenn Alhfrith entschlossen ist, diesen Mann am frühen Morgen hinzurichten, bleibt uns nur wenig Zeit. Laßt uns nach den Zeugen suchen und herausfinden, was sie tatsächlich gehört haben. Ich schlage vor, Ihr nehmt Euch die drei Sachsen und den Than von Frihop vor, und ich spreche noch einmal mit Schwester Athelswith über Cannas Besuch bei Etain. Um Mitternacht treffen wir uns dann im domus hospitale.»

Auf dem Weg zurück zur Abtei dachte Fidelma kopfschüttelnd daran, wie bereitwillig Canna sich zum Opfer der sächsischen Gerichtsbarkeit machte. Sie war überzeugt davon, daß er, was den Mord an Etain betraf, unschuldig war. Sein einziger Fehler lag in seiner übertriebenen Geltungssucht. Durch eine große Prophezeiung, von der die Chronisten noch nach Generationen berichten würden, versuchte er, Unsterblichkeit zu erlangen.

Sie war wütend auf Canna, denn so beeindruk-kend seine Weissagung auch sein mochte, hielt sie doch alle Beteiligten davon ab, den echten Bösewicht, den Mörder ihrer Freundin und Mutter Oberin, Etain von Kildare, zu finden.

Inzwischen war ihr klargeworden, daß viele Teilnehmer der großen Versammlung Etains Redegewandtheit fürchteten. War diese Furcht so groß, daß sie beschlossen hatten, sie auf ewig zum Schweigen zu bringen? Fidelma hatte in den letzten Tagen genug Gewalt zwischen den Anhängern Columbans und Roms gesehen, um zu wissen, daß der Haß sehr tief saß - vielleicht sogar tief genug, um Etain das Leben zu kosten.

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