XI

FIDELMA SAH ATHELNOTH FRAGEND

an.

«Und Ihr habt die Brosche eigenhändig in Eure Tasche gesteckt?»

«Ja. Gestern nachmittag.»

«Wer könnte sie herausgenommen haben?»

«Keine Ahnung. Niemand wußte, daß sie sich in meinem Besitz befand.»

Eadulf wollte schon eine spitze Bemerkung machen, als Fidelma ihn zurückhielt.

«Nun gut, Athelnoth. Sucht noch einmal gründlich nach der Brosche, und wenn Ihr sie gefunden habt, laßt es uns sofort wissen.»

Nachdem sie Athelnoth in seiner Zelle zurückgelassen hatten, wandte sich Eadulf an Fidelma.

«Ihr glaubt ihm doch nicht, oder?»

Fidelma zuckte die Achseln.

«Meint Ihr, er hat die Wahrheit gesagt?»

«Beim lebendigen Gott, nein! Natürlich nicht!»

«Dann hat Gwid also recht. Als Athelnoth zu Etains cubiculum kam, ging es um mehr als die Rückgabe einer einfachen Brosche.»

«Ganz gewiß. Athelnoth lügt.»

«Aber beweist das, daß er Etain ermordet hat?»

«Nein», räumte Eadulf ein. «Doch es könnte auf das Mordmotiv hinweisen.»

«Richtig. Auch wenn irgend etwas daran nicht schlüssig ist. Ich war mir sicher, daß Athelnoth die

Geschichte mit der Brosche erfunden hat, bis er behauptete, das Schmuckstück sei noch immer in seinem cubiculum. Ihm mußte doch klar sein, daß das sofort auffliegen würde.»

«Er stand unter dem Druck, uns möglichst rasch eine glaubhafte Geschichte auftischen zu müssen. Deshalb hat er die erstbeste Ausrede gebraucht, ohne sich deren Schwachpunkte klarzumachen.»

«Das klingt überzeugend. Und doch können wir es uns leisten, Athelnoth für eine Weile sich selbst zu überlassen. Kennt Ihr jemanden unter den sächsischen Geistlichen, der Euch ein wenig mehr über Athelnoth erzählen könnte? Vielleicht sogar jemanden, der ihn begleitete, als er Etain an der Grenze nach Rheged abholte? Ich würde gern mehr über diesen Athelnoth erfahren.»

«Eine gute Idee. Ich werde mich beim Abendessen umhören», stimmte Eadulf zu. «Wollen wir in der Zwischenzeit Bruder Seaxwulf vernehmen?»

Fidelma nickte.

«Warum nicht? Seaxwulf und Agatho gehören zu denen, die Etain zuletzt lebend gesehen haben. Laßt uns in Schwester Athelswiths officium zurückkehren und die gute Schwester bitten, Seaxwulf für uns ausfindig zu machen.»

Auf dem Weg zum Gästehaus war plötzlich lautes Geschrei zu hören. Eadulf spitzte besorgt die Ohren.

«Gibt es etwa schon wieder Schwierigkeiten?»

«Das werden wir mit Sicherheit nicht herausfinden, wenn wir hier stehenbleiben», versetzte Fidelma und wandte sich der Quelle des Lärms zu. Sie trafen auf eine Gruppe Geistlicher, die sich an mehreren Fenstern des Klostergebäudes drängten. Ea-dulf bahnte ihnen beiden einen Weg zu einem der Fenster, so daß sie nach draußen schauen konnten. Im ersten Augenblick konnte Fidelma nicht feststellen, was sich dort tat. Eine wütende Menschenmenge hatte sich um ein auf dem Boden liegendes Bündel schmutziger Lumpen versammelt. Unter lautem Gebrüll bewarfen sie es mit Steinen, wobei sie seltsamerweise einen Sicherheitsabstand hielten. Erst als Fidelma bemerkte, daß sich das Bündel bewegte, wurde ihr mit Schrecken klar, daß es sich um einen Menschen handelte. Die Menge steinigte jemanden zu Tode.

«Was geht hier vor?» erkundigte sie sich entsetzt.

Eadulf wandte sich fragend an einen der anderen Brüder, der ihm mit ängstlicher Miene antwortete.

«Ein Opfer der Gelben Pest», übersetzte Ea-dulf, «der Seuche, die unser Land ins Unglück reißt und Männer, Frauen und Kinder ohne Ansehen von Alter, Geschlecht oder Stellung trifft. Offenbar hat sich jemand hergeschleppt, um im Kloster Hilfe zu suchen, ist aber dem Markt zu nahe gekommen, den die Kaufleute im Schutz der Klostermauer aufgebaut haben.»

Fidelma sah ihn entgeistert an.

«Ihr meint, die Leute steinigen einen kranken Menschen zu Tode? Und niemand setzt dieser Greueltat ein Ende?»

Eadulf sah beschämt zu Boden.

«Würdet Ihr es wagen, Euch dieser aufgehetzten Meute in den Weg zu stellen?» Er zeigte auf die von Wut und Angst verzerrten Gesichter. «Außerdem», sagte er, «ist es ohnehin vorbei.»

Fidelma preßte die Lippen zusammen. Die Reglosigkeit des Bündels bestätigte Eadulfs Worte.

«Wenn der Menge klar wird, daß der Kranke tot ist, wird sie sich zerstreuen, und jemand wird die Leiche fortschleifen, damit sie verbrannt werden kann. In letzter Zeit sind einfach zu viele von uns an der Seuche gestorben, als daß man mit diesen Leuten noch vernünftig reden könnte.»

Wie Fidelma wußte, handelte es sich bei der Gelben Pest um eine meist tödlich verlaufende Form der Gelbsucht, die seit Jahrzehnten in Europa wütete und inzwischen auch Britannien und Irland erreicht hatte. In Irland, wo sie buidhe cho-naill genannt wurde, war sie vor acht Jahren zum erstenmal aufgetreten - eingeleitet, wie die Gelehrten behaupteten, von einer totalen Sonnenfinsternis. Sie griff vor allem im Hochsommer um sich und hatte bereits die Hälfte der irischen Bevölkerung dahingerafft. Zwei Hochkönige, die Provinzkönige von Ulster und Munster sowie zahlreiche andere Persönlichkeiten von Rang zählten zu ihren Opfern, und auch kirchliche Würdenträger wie Fechin von Fobhar, Ronan, Aileran der Weise, Cronan, Manchan und Ultan von Clonard waren ihr erlegen. Ja, es waren so viele Eltern gestorben und hatten hungernde Kinder zurückgelassen, daß Ultan von Ardbraccan ein Waisenhaus eröffnet hatte, um den jüngsten Opfern der Seuche Obdach zu geben und sie zu nähren.

Fidelma kannte die Schrecken der Gelben Pest.

«Steht Euer sächsisches Volk denn so wenig über den Tieren?» schnaubte Fidelma. «Wie kann es zu seinen eigenen Mitgeschöpfen so unbarmherzig sein? Und schlimmer noch, wie können Brüder und Schwestern Christi dabeistehen und seelenruhig zuschauen, als ob es um eine Belustigung auf einem Jahrmarkt ginge?»

Die anderen Glaubensbrüder und -schwestern hatten mit einem gleichgültigen Achselzucken ihre Plätze an den Fenstern verlassen und waren zu ihren jeweiligen Aufgaben zurückgekehrt. Falls sie Fidelmas unmißverständlichen Tadel gehört hatten, ließen sie es sich nicht anmerken.

«Eure Sitten sind nicht unsere Sitten», entgegnete Eadulf geduldig. «Soviel habe ich inzwischen gelernt. Ich habe die Zufluchtsstätten für Kranke und Schwache in Irland gesehen. Vielleicht werden wir eines Tages von Euch lernen. Doch jetzt befindet Ihr Euch in einem Land, in dem sich die Menschen vor Tod und Krankheit fürchten. Und die Gelbe Pest gilt als allergrößtes Übel, das alle dahinrafft, die sich ihm entgegenstellen. Was den Menschen angst macht, wollen sie zerstören. Ich habe Söhne gesehen, die ihre eigenen Mütter mitten im Winter aus dem Haus geworfen haben, weil bei ihnen Anzeichen der Seuche aufgetreten sind.»

Fidelma wollte widersprechen, doch was war der Sinn? Eadulf hatte recht. Die Sitten Northum-briens waren anders als die ihres Heimatlandes.

«Laßt uns mit Seaxwulf sprechen», sagte sie und wandte sich vom Fenster ab.

Draußen war das Geschrei inzwischen verebbt. Die Leute hatten ihre Steine fallen gelassen und sich wieder den Vergnügungen des Marktes zugewandt. Das reglose Lumpenbündel lag unbeachtet im Schlamm.

Als Seaxwulf den Raum betrat, erkannte Fidelma in ihm sofort den jungen Mann mit dem strohblonden Haar, der im sacrarium neben Wilfrid gestanden hatte.

Seaxwulf war ein schlanker, junger Mann mit einem hübschen, ebenmäßigen Gesicht, der verlegen kicherte, sobald jemand unmittelbar das Wort an ihn richtete. Er hatte hellblaue Augen und die seltsame Angewohnheit zu zwinkern, während er lispelnd und mit auffallend hoher Stimme sprach. Fidelma mußte sich mehrmals ins Gedächtnis rufen, daß ihr ein Mann und kein kokettes Mädchen gegenübersaß. Die Natur schien dem jungen Mann durch eine seltsame Unentschlossenheit in der Frage des Geschlechts einen grausamen Streich gespielt zu haben. Sein Alter war schwer festzustellen, doch sie schätzte ihn auf Anfang Zwanzig, obwohl sein Bartflaum nicht den Eindruck machte, als hätte er sich je rasieren müssen.

Es war Bruder Eadulf, der den jungen Mann auf sächsisch befragte, während Fidelma sich große Mühe gab, mit ihren unzureichenden, aber stetig wachsenden Kenntnissen dieser Sprache der Unterhaltung zu folgen.

«Ihr seid am Tage ihres Todes bei Äbtissin Etain gewesen», eröffnet e Eadulf mit einer einfachen Feststellung das Gespräch.

Seaxwulf kicherte und schlug eine schlanke Hand vor den Mund. Über seine Fingerspitzen hinweg warf er ihnen schelmische Blicke zu.

«Ach ja?»

Seine Stimme klang merkwürdig sinnlich.

Eadulf schnaubte angewidert.

«Aus welchem Grund habt Ihr die Äbtissin in ihrer Zelle aufgesucht?»

Seaxwulf klapperte wieder mit den Wimpern und stieß ein erneutes Kichern aus.

«Das ist mein Geheimnis.»

«Ist es nicht», widersprach Eadulf streng. «Wir haben den Auftrag Eures Königs, Eures Bischofs und der Äbtissin dieses Klosters, die Wahrheit aufzudecken. Ihr seid durch Euer Gelübde dazu verpflichtet, uns alles mitzuteilen, was Ihr wißt.»

Seaxwulf blinzelte und zog in gespielter Verärgerung einen Schmollmund.

«Also gut, meinetwegen!» Seine Stimme klang wie die eines eingeschnappten Kindes. «Ich habe die Äbtissin auf Geheiß Wilfrids von Ripon aufgesucht. Ich bin sein Sekretär und sein Vertrauter.»

«Und zu welchem Zweck seid Ihr zur Äbtissin gegangen?» beharrte Eadulf.

Der junge Mann hielt inne und runzelte verstockt die Stirn. «Das solltet Ihr Abt Wilfrid fragen.»

«Ich frage aber Euch», versetzte Eadulf in fast grobem Ton. «Und ich erwarte eine Antwort. Also los!»

Seaxwulf schob die Unterlippe vor. Schwester Fidelma schlug den Blick zu Boden, um ihre Belustigung über das Betragen des seltsamen jungen Mönchs zu verbergen.

«Ich sollte auf Wilfrids Geheiß mit der Äbtissin verhandeln.»

An dieser Stelle schaltete sich Fidelma ein, die nicht sicher war, ob sie das Wort richtig verstanden hatte.

«Verhandeln?» fragte sie ungläubig.

«Ja. Als Anführer der Delegation Roms und Columbans hatten Wilfrid und Etain die Absicht, sich vor der öffentlichen Debatte auf bestimmte Punkte zu einigen.»

Fidelma riß entgeistert die Augen auf.

«Äbtissin Etain wollte sich mit Wilfrid von Ripon einigen?» Sie bat Eadulf, ihre Frage zu übersetzen.

Seaxwulf zuckte mit den schmalen Schultern.

«Sich vor einer Debatte über bestimmte Punkte zu verständigen, spart viel Zeit und Ärger, Schwester.»

«Ich bin mir nicht sicher, was Ihr damit meint. Wollt Ihr etwa sagen, daß bestimmte Meinungsverschiedenheiten schon vor der öffentlichen Debatte ausgeräumt werden sollten?»

Wieder mußte Eadulf ihre Frage ins Sächsische und anschließend die Antwort des Mönchs zurück ins Irische übersetzen.

Durch seinen verächtlichen Blick gab Seaxwulf zu verstehen, daß er die Frage für völlig überflüssig hielt.

«Aber natürlich», lautete seine Antwort.

«Und Äbtissin Etain war zu solchen Absprachen bereit?»

Fidelma war völlig verblüfft über die Enthüllung, daß die Gegner geheime Verhandlungen führten, von der die Allgemeinheit keine Kenntnis hatte. Es kam ihr unehrlich vor, bestimmte Punkte im vorhinein abzuklären, ohne den Streit vor der Synode offen auszutragen.

Seaxwulf zuckte erneut die Achseln.

«Ich bin selbst in Rom gewesen. Dort ist dieses Vorgehen gang und gäbe. Warum mit einer langwierigen öffentlichen Debatte Zeit vergeuden, wenn man durch private Absprachen sein Ziel viel schneller und bequemer erreichen kann?»

«Und wie weit waren diese Verhandlungen gediehen?»

«Nicht weit», erklärte Seaxwulf in vertraulichem Ton. «Was die Tonsur betrifft, hatten wir allerdings eine gewisse Einigung erzielt. Wie Ihr wißt, hält Rom die Tonsur Eurer Kirche für barbarisch. Wir bekennen uns zu der Tonsur des Heiligen Petrus, der damit an die Dornenkrone Christi gemahnen wollte. Äbtissin Etain erwog, öffentlich einzugestehen, daß sich die Kirche Colum-bans in der Frage der Tonsur auf einem Irrweg befände.»

Fidelma schluckte.

«Aber das ist unmöglich», flüsterte sie.

Seaxwulf lächelte zufrieden, als bereite ihm ihr Entsetzen Genugtuung.

«O doch. Im Tausch für dieses Zugeständnis wollte Wilfrid in der Frage des Segens einlenken. Wie Ihr wißt, deuten wir Anhänger Roms beim Segen die Dreieinigkeit mit Daumen, Zeige- und Mittelfinger an, während Ihr Zeigefinger, Ringfinger und kleinen Finger erhebt. Wilfrid war bereit, beide Formen als gültig anzuerkennen.»

Fidelma hatte Mühe, ihr Erstaunen zu verbergen.

«Wie lange waren diese Verhandlungen schon im Gange?»

«Seit der Ankunft der Äbtissin in Streones-halh. Zwei oder drei Tage, ich weiß es nicht mehr ganz genau.» Der junge Mann betrachtete gedankenverloren seine ausgestreckten Hände und runzelte dabei mißbilligend die Stirn, als wäre er plötzlich mit dem Schnitt seiner Fingernägel unzufrieden.

Fidelma sah Eadulf an.

«Ich glaube, das rückt die Sache in ein völlig neues Licht», sagte sie auf irisch, wohlwissend, daß Seaxwulf sie nicht verstand.

Eadulf verzog das Gesicht.

«Wieso das?»

«Was meint Ihr, was die meisten Brüder und Schwestern denken würden, wenn sie wüßten, daß hinter den Kulissen, ohne ihr Wissen und ohne ihre Beteiligung solche Verhandlungen stattfinden? Daß die eine Seite als Gegenleistung für ein Zugeständnis in einem bestimmten Punkt wiederum in einem anderen nachgibt? Würde das die Flamme der Feindseligkeit, die schon jetzt unter den Brüdern und Schwestern glimmt, nicht aufs neue entfachen? Und wäre nicht denkbar, daß jemand über diese Vorgänge so empört war, daß er versuchte, den Verhandlungen sofort ein Ende zu setzen, notfalls durch einen Mord?»

«Schon möglich. Aber dieses Wissen allein hilft uns wenig.»

«Warum?»

«Weil es bedeutet, daß wir Hunderte von Verdächtigen haben, und zwar sowohl unter den Gefolgsleuten Roms als auch unter den Anhängern Ionas.»

«Dann müssen wir eine Möglichkeit finden, die Zahl der Verdächtigen einzugrenzen.»

Eadulf nickte und wandte sich wieder an den jungen Mönch.

«Wer wußte von Euren Verhandlungen mit der Äbtissin?»

Seaxwulf zog einen Schmollmund, wie ein Kind, das sein Wissen nur widerwillig preisgibt.

«Sie waren streng geheim.»

«Also wußtet nur Ihr und Wilfrid von Ripon davon?»

«Und Äbtissin Etain.»

«Was war mit Gwid, Etains Sekretärin?» warf Fidelma ein.

Seaxwulf lachte höhnisch.

«Gwid? Die Äbtissin hatte zu ihrer Sekretärin kein Vertrauen. Im Gegenteil, sie wies mich sogar ausdrücklich an, in dieser Angelegenheit nicht mit Gwid zu sprechen und ihr gegenüber mit keinem Wort zu erwähnen, daß sie mit Wilfrid von Ripon in Verbindung stand.»

«Wie kommt Ihr zu der Aussage, daß Etain zu Gwid kein Vertrauen hatte?»

«Weil Gwid sonst ganz bestimmt an den Verhandlungen teilgenommen hätte. Ich habe Gwid und Etain nur ein einziges Mal zusammen gesehen, und da haben sie sich angeschrien. Leider kann ich Euch nicht sagen, worum es ging, weil ich kein Irisch verstehe.»

«Es wußte also niemand sonst von den Verhandlungen?» hakte Eadulf noch einmal nach.

«Ich glaube nicht - außer Äbtissin Abbe, wenn ich mich recht besinne. Sie lief mir über den Weg, als ich gerade Etains cubiculum verließ, denn sie war gleich neben Etain untergebracht. Sie sah mich äußerst mißtrauisch an, aber ich habe nichts weiter gesagt, sondern bin meiner Wege gegangen. Allerdings habe ich noch gesehen, daß sie sofort Äbtissin Etains Zelle betrat, und kurz darauf hörte ich laute Stimmen. Ich bin mir zwar nicht sicher, ob sie den Zweck meines Besuches erraten hat, aber wahrscheinlich war Äbtissin Abbe klar, daß Etain und Wilfrid miteinander verhandelten.»

Fidelma beschloß, in diesem Punkt noch einmal nachzuhaken.

«Während Ihr fortgingt, haben Abbe und Etain also laut miteinander gestritten?»

«Das nehme ich an. Ich habe ihre erhobenen Stimmen gehört, das war alles.»

«Und habt Ihr Äbtissin Etain seitdem noch einmal gesehen?»

Seaxwulf schüttelte den Kopf.

«Ich bin auf kürzestem Weg zu Wilfrid geeilt, um ihm von der Bereitschaft der Äbtissin zu berichten, in der Frage der Tonsur Petrus’ richtungsweisende Worte anzuerkennen. Dann läutete es auch schon zum Beginn der Versammlung, und ich ging gemeinsam mit Wilfrid ins sacrarium. Kurz darauf hörten wir, daß Äbtissin Etain ermordet worden sei.»

Fidelma seufzte tief. Dann nickte sie Seaxwulf zu.

«Also gut, Bruder. Ihr könnt jetzt gehen.»

Nachdem sich die Tür hinter Seaxwulf geschlossen hatte, sah Eadulf Fidelma an. Seine braunen Augen leuchteten aufgeregt.

«Äbtissin Abbe! Die Schwester des Königs höchstpersönlich! Eine Besucherin in Etains cubi-culum, die Schwester Athelswiths wachsamem Auge entgangen ist, was sich leicht erklären läßt, da ihre Unterkunft gleich neben Etains Zelle lag.»

Schwester Fidelma wirkte weniger begeistert.

«Wir werden mit ihr sprechen müssen. Tatsächlich hätte sie ein Motiv gehabt. Abbe ist als leidenschaftliche Verfechterin der Lehren Columbans bekannt. Wenn sie den Eindruck hatte, daß Etain ohne das Wissen der maßgeblichen Vertreter der Kirche Ionas Zugeständnisse machte, muß sie sehr verärgert gewesen sein, und das wiederum kann sehr rasch zum Mordmotiv werden.»

Eadulf nickte eifrig.

«Mit unserer ersten Vermutung, der Mord hinge mit der Synode zusammen, lagen wir also vielleicht doch richtig. Nur daß Etain nicht von einem Anhänger Roms, sondern von einem Mitglied ihrer eigenen Kirche ermordet wurde.»

Fidelma verzog das Gesicht.

«Wir sind nicht hier, um die römische Delegation von Schuld freizusprechen, sondern um die Wahrheit aufzudecken.»

«Auch ich fühle mich der Suche nach der Wahrheit verpflichtet», versicherte Eadulf. «Aber

Äbtissin Abbe gehört sicherlich zum Kreis der Verdächtigen ...»

«Bisher haben wir nur Bruder Seaxwulfs Wort, daß sie nach ihm in Etains Zelle ging. Und Ihr erinnert Euch sicherlich auch daran, daß Schwester Athelswith nach Bruder Seaxwulf noch einen weiteren Besucher, nämlich Priester Agatho, erwähnte. Wenn ihre Beobachtungen stimmen, hat Etain den Streit mit Abbe unbeschadet überstanden. Denn wenn Abbe gleich nach Seaxwulf in Etains Zelle ging, muß Agatho nach Abbe bei ihr gewesen sein.»

In dem Augenblick läutete die Glocke zur cena, der Hauptmahlzeit des Tages.

Die Begeisterung war aus Eadulfs Gesicht verschwunden.

«Agatho hatte ich völlig vergessen», murmelte er zerknirscht.

«Ich nicht», erwiderte Fidelma bestimmt. «Aber wir werden trotzdem nach dem Abendessen mit Äbtissin Abbe sprechen.»

Fidelma hatte keinen großen Hunger. Ihr gingen zu viele Gedanken im Kopf herum. Daher aß sie nur etwas Obst und ein Stück von dem schweren Brot, das man im Kloster paximatium nannte, und ging dann in ihr cubiculum, um sich auszuruhen. Da die meisten Glaubensbrüder und -schwestern noch im Refektorium weilten, herrschte im domus hospitale wohltuende Ruhe. Fidelma wollte allein sein, noch einmal alles durchdenken, was Bruder Eadulf und sie bisher in Erfahrung gebracht hatten, und etwas Sinn und Ordnung in das Ganze bringen. Aber es gelang ihr nicht. Ihr Lehrer, der Bre-hon Morann von Tara, hatte ihr wie allen seinen Schülerinnen und Schülern eingeprägt, mit ihrem Urteil stets zu warten, bis wirklich alle Tatsachen ermittelt waren. Und doch verspürte Fidelma eine Ungeduld, die sich nur schwer bezwingen ließ.

Seufzend erhob sie sich von ihrem Bett und beschloß, einen Spaziergang über die Klippen zu machen. Vielleicht würde die frische Abendluft ihr etwas Klarheit verschaffen.

Sie verließ das domus hospitale und überquerte einen viereckigen Innenhof in Richtung monaste-riolum, wo die älteren Nonnen und Mönche sich ihren Studien widmeten und die jüngeren ihren Unterricht bekamen. Jemand hatte etwas an die Wand geschrieben: docendo discimus. Fidelma lächelte. Die Worte waren treffend. Tatsächlich lernte man beim Lehren.

Dem monasteriolum hatte Fidelma bereits einen Besuch abgestattet, als sie das Buch, das Abt Cummene von Iona ihr als Geschenk mitgegeben hatte, beim librarius abgegeben hatte. Streones-halhs Büchersammlung war beeindruckend. Hilda hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die Bibliothek ständig zu vergrößern und so viele Bücher wie möglich zu sammeln, da sie entschlossen war, ihr ganzes Volk das Lesen und Schreiben zu lehren.

Die Sonne stand schon tief hinter den Bergen, und die Klostergebäude warfen lange Schatten. Bald würden sie ganz von der Dämmerung eingehüllt sein. Fidelma blieb gerade noch genug Zeit für einen kurzen Spaziergang, ehe sie zum Gespräch mit Äbtissin Abbe in Schwester Athelswiths officium zurückerwartet wurde.

Sie ging den äußeren Kreuzgang entlang, von dem aus man durch ein Seitentor auf einen Pfad zu den Klippen gelangen konnte, als sie vor sich plötzlich die Gestalt eines Mönches bemerkte. Er hatte den Kopf mit einer Kapuze verhüllt.

Einer inneren Eingebung folgend, blieb Fidelma stehen. Es kam ihr seltsam vor, daß ein Bruder innerhalb der Klostermauern seine Kapuze trug. Doch in diesem Augenblick erschien auch schon eine zweite Gestalt in der Nähe des Seitentors. Fidelma zog sich in die Schatten des Gewölbes zurück. Ihr Herz schlug schneller, auch wenn es dafür keinen sachlichen Grund zu geben schien - außer daß sie in der zweiten Gestalt Wulfric von Frihop erkannte.

Die beiden Männer begrüßten sich auf sächsisch.

Vorsichtig tastete sich Fidelma näher an die beiden heran und wünschte inständig, sie würde mehr von dieser Sprache verstehen.

Die beiden Männer lachten. Warum auch nicht? Was war so außergewöhnlich daran, daß ein sächsischer Than und ein sächsischer Mönch miteinander scherzten? Es war einzig und allein eine Art sechster Sinn, der Fidelma wachsam sein ließ. Die beiden Männer schauten sich während ihres Gespräches immer wieder vorsichtig um, als fürchteten sie sich vor Zeugen. Ihre Stimmen klangen verschwörerisch und leise. Dann gaben sie sich die Hand, und Wulfric ging zum Tor hinaus, während der mit seiner Kapuze verhüllte Bruder zurück in Fidelmas Richtung schritt.

So gut sie konnte, preßte sich Fidelma in den Schatten eines Säulenbogens.

Der Bruder ging an Fidelma vorbei und überquerte den viereckigen Innenhof in Richtung mo-nasteriolum. Auf halbem Weg warf er die Kapuze zurück. Sie hatte ihren Zweck erfüllt, und innerhalb der Klostermauern eine Kapuze zu tragen, hätte bloß verdächtig gewirkt. Fidelma konnte einen kurzen Aufschrei des Erstaunens nicht unterdrücken, als sie den Mann mit der Tonsur Colum-bans erkannte.

Es war Bruder Taran.

Abbe war eine stämmige Frau, die ihrem Bruder Oswiu auffallend ähnelte. Sie war Mitte Fünfzig, hatte tief ins Gesicht eingegrabene Falten und hellblaue, fast wäßrige Augen. Zusammen mit ihren drei Brüdern hatte man sie nach Iona ins Exil gebracht, als ihr Vater, der König von Bernicia, von seinem Rivalen, Edwin von Deira, getötet worden war. Edwin hatte die beiden Reiche zu einem einzigen Königreich vereinigt, das er, weil es «nördlich des Flusses Humber» lag, «Northumbrien» nannte. Als Abbes Brüder Eanfrith, Oswald und Oswiu zurückkehrten, um nach Edwins Tod ihren Anspruch auf den Thron geltend zu machen, begleitete Abbe sie als Geistliche der Kirche Columbans. Auf einer Landspitze in Coldingham gründete sie ein Kloster für Männer und Frauen und wurde von Oswald, der nach dem Tod ihres ältesten Bruders Eanfrith König geworden war, als dessen Äbtissin bestätigt.

Fidelma hatte viel von Coldingham gehört, das einen recht zweifelhaften Ruf genoß. Es hieß, die Nonnen und Mönche seien hedonistischen Genüssen verfallen, Äbtissin Abbe nehme den Glauben an den Gott der Liebe allzu wörtlich, und in den für Gebet und stille Einkehr erbauten cubicula würde dem Essen, Trinken und anderen sinnlichen Vergnügungen gefrönt.

Die Äbtissin ließ ihren belustigten, aber wohlwollenden Blick auf Fidelma ruhen.

«Mein Bruder, König Oswiu, hat mir von Eurem Auftrag erzählt.» Da sie in Iona aufgewachsen war, klang ihr Irisch wie das einer Einheimischen. Sie wandte sich an Eadulf. «Wie ich höre, seid Ihr ebenfalls lange Zeit in Irland gewesen?»

Eadulf lächelte kurz und nickte.

«Wir können irisch miteinander sprechen.»

«Gut.» Die Äbtissin seufzte und wandte sich wieder Fidelma zu. «Ihr seid hübsch, mein Kind. In Coldingham ist eine junge Frau wie Ihr immer willkommen.»

Fidelma spürte, daß sie errötete.

Abbe neigte kichernd den Kopf.

«Das sollte keine Beleidigung sein.»

«Ich bin auch nicht beleidigt», erwiderte Fidelma.

«Dazu hättet Ihr auch keinen Grund, Schwester. Ihr solltet nicht alles glauben, was Ihr über unser Haus zu hören bekommt. Unser Wahlspruch lautet dum vivimus, vivamus - wir leben, also laßt uns leben! In unserem Kloster wohnen Männer und Frauen, die dem größten Geschenk Gottes, nämlich dem Leben huldigen. Gott hat Männer und Frauen geschaffen, damit sie in Liebe miteinander leben. Wir verehren ihn, indem wir uns zu Werkzeugen seiner Vorsehung machen, zusammen leben, zusammen arbeiten und seine Werke preisen. Heißt es nicht im ersten Brief des heiligen Johannes:

Fidelma rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her.

«Mutter Oberin, es ist nicht an mir, in Frage zu stellen, wie und nach welchen Regeln Ihr Euer Haus führt. Ich bin hier, um den gewaltsamen Tod Etains von Kildare aufzudecken.»

Abbe seufzte.

«Etain! Das war eine Frau, die zu leben verstand.»

«Und doch ist sie jetzt tot, Mutter Oberin», warf Eadulf ein.

«Ich weiß.» Ihre Augen blieben auf Fidelma gerichtet. «Und ich würde zu gerne wissen, was das mit mir zu tun haben soll.»

«Es hat einen Streit zwischen Euch und Etain gegeben», stellte Fidelma mit ruhiger Stimme fest.

Die Äbtissin blinzelte, verriet jedoch sonst mit keiner Geste, daß die Bemerkung sie getroffen hatte. Sie schwieg beharrlich.

«Vielleicht könnt Ihr uns erklären, worüber Ihr Euch mit der Äbtissin von Kildare gestritten habt?» forderte Eadulf sie schließlich auf.

«Wenn Ihr wißt, daß ich mit Etain gestritten habe, werdet Ihr sicherlich auch den Grund für unseren Streit erfahren haben», entgegnete Abbe mit fester Stimme. «Ich bin auf Iona in Columcilles Abtei aufgewachsen. Die irischen Brüder Christi haben mich erzogen. Es geschah auf meinen ausdrücklichen Wunsch hin, daß mein Bruder Oswald die Mönche von Iona bat, uns Missionare zu schik-ken, damit sie unseren heidnischen Untertanen den Weg Christi wiesen. Und als die ersten Missionare nach Iona zurückkehrten und sagten, die North-umbrier seien für die Erlösung Christi nicht bereit, war ich es, die den Abt von Iona flehentlich bat, unser Volk nicht aufzugeben. Auf diese Bitte hin kam schließlich der Heilige Aidan, um in North-umbrien zu predigen. Und so habe ich die mühsame Bekehrung unseres Volkes und die allmähliche Verbreitung des Gottesworts miterlebt, zuerst unter Aidan, dann unter Finan und zuletzt unter

Colman. Jetzt ist dieses große Werk durch die Machenschaften solcher Leute wie Wilfrid von Ripon in Gefahr geraten. Ich jedoch stehe unverbrüchlich zu der wahren Kirche von Columban, und das wird immer so bleiben, ganz gleich, wie die Entscheidung hier in Streoneshalh ausfallen mag.»

«Und was war der Grund für Euren Streit mit Etain von Kildare?» kam Eadulf auf seine Frage zurück.

«Dieser schleimige Seaxwulf, dieser Mann, der in Wirklichkeit gar kein Mann ist, hat Euch wahrscheinlich erzählt, daß ich von dem Handel zwischen Etain und Wilfrid von Ripon Wind bekommen hatte. Handel! Ein Mittel ad captandum vulgus!»

«Seaxwulf hat uns erzählt, daß er als Mittelsmann zwischen Etain und Wilfrid wirkte und daß die beiden versuchten, sich bereits vor der Debatte in einigen strittigen Punkten zu einigen.»

Abbe stieß einen Schrei der Empörung aus.

«Seaxwulf! Dieser Dieb, dieser Schwätzer!»

«Dieb?» fragte Eadulf tadelnd. «Ist das nicht ein hartes Wort für einen Bruder?»

Abbe zuckte mit den Schultern.

«Hart, aber zutreffend. Als wir uns vor zwei Tagen alle hier versammelten, wurde Seaxwulf auf frischer Tat dabei ertappt, wie er die persönlichen Habseligkeiten einiger Brüder im dormitorium durchwühlte. Er wurde Wilfrid, seinem Abt, vorgeführt, der ihn auch zu seinem Sekretär berufen hat.

Seaxwulf gab zu, das achte Gebot gebrochen zu haben, und Wilfrid ließ ihn bestrafen. Er wurde mit einer Rute geschlagen, bis seine Haut rot und blutig war. Nur die Tatsache, daß er Wilfrids Sekretär war, bewahrte ihn davor, daß man ihm auch noch die Hand abschlug. Und dennoch hat Wilfrid sich geweigert, ihn als seinen Sekretär zu entlassen.»

Fidelma erschauderte beim Gedanken an die Grausamkeit sächsischer Strafen.

Äbtissin Abbe sprach weiter, ohne Fidelmas angewiderten Blick zu beachten.

«Es heißt, Seaxwulf sei schon öfter als Elster aufgefallen. Das Verlangen nach glänzenden Kostbarkeiten, die nicht ihm gehören, überfällt ihn immer wieder.»

Fidelma und Eadulf wechselten einen kurzen Blick.

«Ihr seid also der Meinung, daß Seaxwulf nicht vertrauenswürdig ist? Daß er möglicherweise lügt?»

«Was seine Rolle als Mittelsmann zwischen Wil-frid und Etain angeht, sicherlich nicht. Wilfrid vertraut Seaxwulf wie keinem anderen. Ich nehme an, das liegt daran, daß Wilfrid ihn, wenn er nur wollte, jederzeit töten oder sonstwie bestrafen könnte. Angst ist die zuverlässigste Quelle des Vertrauens. Aber Etain von Kildare hatte keine Befugnis, irgendwelche Vereinbarungen mit dem Gegner zu treffen. Als ich diesen Wurm aus Etains Zelle schleichen sah, schwante mir gleich, was gespielt wurde. Ich ging hinein, um Etain zur Rede zu stellen und ihr zu sagen, daß ich sie für eine Verräterin an unserer Sache hielt.»

«Und wie nahm Etain Eure Vorwürfe auf?»

«Sie gab offen zu, daß sie mit Wilfrid verhandelte. Sie sagte, es sei besser, sich in unwichtigen Dingen zu einigen, um den Widersacher in Sicherheit zu wiegen, als sich vom ersten Augenblick an wie kämpfende Hirsche ineinander zu verkeilen.»

Äbtissin Abbes Augen verengten sich.

«Jetzt wird mir einiges klar ... Ihr meint wohl, in diesem Streit ein Mordmotiv gefunden zu haben? Ihr glaubt, daß ich vielleicht .?»

Die Äbtissin lachte herzhaft.

«Zu einem Mord kommt es häufig, wenn jemand in einem Streit die Beherrschung verliert», erwiderte Fidelma mit ruhiger Stimme.

Äbtissin Abbes helle Augen blitzten sie belustigt an.

«Deus avertat! Gott bewahre! Das ist ja lächerlich. Das Leben ist mir viel zu kostbar, um es auf solche Nebensächlichkeiten zu verschwenden.»

«Und doch wäre angesichts Eurer Worte von vorhin die Unterlegenheit der Kirche Columbans für Euch keine Nebensächlichkeit», beharrte Eadulf. «Die Vorherrschaft Ionas in Northumbrien ist Euch ein wichtiges, persönliches Anliegen. Und es waren Eure eigenen Worte, daß Ihr in Etain eine Verräterin an Eurer Sache saht.»

Einen kurzen Augenblick blickte die Äbtissin Eadulf haßerfüllt an. Ihre Gesichtszüge erstarrten zu einer bedrohlichen Maske. Doch schon im nächsten Augenblick war der Ausdruck verflogen, und die Äbtissin zwang sich zu einem kühlen Lächeln.

«Aber dafür hätte ich sie nicht getötet. Ihre Strafe wäre der Untergang ihrer Kirche gewesen.»

«Um welche Zeit seid Ihr gegangen?» wollte Fidelma wissen.

«Wie bitte?»

«Wann habt Ihr nach Eurem Streit Etains cubiculum verlassen?»

Äbtissin Abbe dachte nach.

«Ich kann mich nicht genau erinnern. Insgesamt muß ich wohl etwa zehn Minuten oder ein wenig länger bei ihr gewesen sein.»

«Hat jemand Euch herauskommen sehen? Schwester Athelswith vielleicht?»

«Nicht, daß ich wüßte.»

Mit einer stummen Frage wandte Fidelma sich an Eadulf. Er senkte den Blick und nickte.

«Nun gut, Mutter Oberin.» Fidelma stand auf, und Abbe folgte ihrem Beispiel. «Vielleicht werden wir später noch einige Fragen an Euch haben.»

Abbe lächelte.

«Keine Sorge, ich stehe Euch jederzeit zur Verfügung. Wirklich, Schwester, Ihr solltet mich einmal in meiner Abtei in Coldingham besuchen und Euch selbst ein Bild davon machen, wie schön es sein kann, das Leben zu genießen. Ihr seid viel zu jung und hübsch, um Euch der römischen Doktrin vom lebenslangen Zölibat zu unterwerfen. Hat nicht Augustinus von Hippo schon in seinen Confessiones gesagt:

Mit einem kehligen Lachen verließ Äbtissin Abbe den Raum und ließ eine schamrote Fidelma zurück.

Als sie sich umwandte und Eadulf lächeln sah, verwandelte sich ihre Verlegenheit in Zorn.

«Nun?» fragte sie barsch.

Das Grinsen verschwand aus Eadulfs Gesicht.

«Ich glaube nicht, daß Äbtissin Abbe die Mörderin ist», sagte er rasch.

«Warum nicht?» gab Fidelma zurück.

«Erstens, weil sie eine Frau ist.»

«Und weil eine Frau unfähig ist, ein solches Verbrechen zu begehen?» fragte Fidelma wütend.

Eadulf schüttelte den Kopf.

«Nein. Aber wie ich schon sagte, als wir Etains Leichnam untersuchten: Ich glaube nicht, daß eine Frau stark genug gewesen wäre, den Kopf der Äbtissin zurückzuhalten und ihr die Kehle durchzuschneiden.»

Fidelma versuchte, sich zu beruhigen. Warum sollte sie verärgert sein, fragte sie sich. Schließlich hatte Abbe ihr nur Komplimente gemacht. Und hatten ihre Worte nicht den Tatsachen entsprochen? Es war nicht Abbes Haltung, die sie störte. Es war etwas anderes, etwas, das tief in ihr saß und das sie nicht beim Namen nennen konnte. Eine Weile sah sie Eadulf nachdenklich an.

Verwirrt erwiderte der sächsische Mönch ihren Blick.

Fidelma ertappte sich dabei, daß sie als erste die Augen senkte.

«Was würdet Ihr dazu sagen, daß ich Bruder Taran, einen Mönch mit der Tonsur Columbans, heute abend am Seitentor der Abtei bei einem Treffen mit Wulfric von Frihop beobachtet habe?»

Eadulf hob die Augenbrauen.

«Ist das wahr?»

Fidelma bestätigte es mit einem Nicken.

«Für ein solches Treffen kann es viele Erklärungen geben.»

«Richtig», stimmte Fidelma zu, «aber keine, die mich zufriedenstellt.»

«Bruder Taran gehörte doch zu denen, die Äbtissin Etain am Tage ihres Todes in ihrer Zelle aufsuchten.»

«Ja. Und zu denen, die wir noch nicht befragt haben.»

«Wir haben ihm bisher nicht viel Beachtung geschenkt», räumte Eadulf ein. «Schwester Athels-with meinte, Taran habe Etain am frühen Morgen in ihren cubiculum besucht, und wir wissen, daß sie nach seinem Besuch noch am Leben war. Agatho ist derjenige, der sie als letzter sah.»

Fidelma zögerte.

«Ich glaube, wir sollten als nächstes mit Taran sprechen», sagte sie.

«Und ich glaube, wir sollten zuerst Agatho befragen», widersprach er. «Der Verdacht gegen ihn scheint mir dringender zu sein.»

Eadulfs Verblüffung war groß, als Fidelma ohne jeden Einwand in seinen Vorschlag einwilligte.

Загрузка...