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SCHWESTER ATHELSWITH KEHRTE MIT

der Nachricht zurück, daß Athelnoth im sacrarium der Debatte beiwohne und sie ihn unmöglich holen könne, ohne die gesamte Synode zu stören. Fidelma und Eadulf beschlossen, die Zeit damit zu überbrücken, daß sie ebenfalls ins sacrarium gingen und eine Weile dem Disput lauschten. Offenbar hatte Bischof Colman anstelle von Äbtissin Etain mit einer kurzen, schnörkellosen Zusammenfassung der Lehren Ionas die Synode eröffnet. Wilfrid hatte auf die nüchterne Rede des Bischofs mit scharfem Spott geantwortet und sich die schlichte Geradlinigkeit seines Gegners zunutze gemacht.

Fidelma und Eadulf blieben an einer Seitentür stehen, wo ihnen die beißenden Weihrauchschwaden am wenigsten in den Augen brannten.

Als sie eintraten, hatte sich gerade ein hochgewachsener, kantiger Mann von seinem Sitz erhoben. Eine auskunftswillige Schwester zu Fidelmas Linken erklärte ihnen, daß dies der ehrwürdige Bischof Cedd sei, der zu den ersten Jüngern Aidans zählte. Cedd sei gerade von einer Mission im Land der Ostsachsen zurückgekehrt, flüsterte ihnen die Schwester zu, und sei dazu bestimmt worden, während der Synode im Bedarfsfall vom Sächsischen ins Irische zu dolmetschen. Cedd sei der älteste von vier Brüdern, die allesamt von Aidan bekehrt worden seien und in der keltischen Kirche Northumbriens eine wichtige Rolle spielten. Chad habe seine Ausbildung in Irland erhalten und sei jetzt Bischof von Lastingham. Caelin und Cynebill, die anderen beiden Brüder, nähmen ebenfalls an der Versammlung teil.

«Was das Datum unserer Osterfeier betrifft», sagte Cedd, «herrscht große Verunsicherung. Eanflaed, unsere gute Königin, begeht sie nach den Regeln Roms, und Oswiu, unser guter König, feiert nach den Lehren Columbans. Wer hat recht, wer hat unrecht? So, wie die Dinge liegen, kann es leicht geschehen, daß der König seine Fastenzeit beendet hat und schon den Ostersabbat begeht, während die Königin und ihr Gefolge noch fasten. Mit dieser Unklarheit können sich vernünftige Menschen nicht zufrieden geben.»

«Wie wahr, wie wahr!» rief der kampfeslustige Wilfrid, ohne sich die Mühe zu machen, von seinem Platz aufzustehen. «Und sie ließe sich sofort beheben, wenn Ihr Euren Irrtum bei der Berechnung des Osterfests endlich eingesteht.»

«Eine Berechnung, die Anatolius, einer der gelehrtesten Männer unserer Kirche, ausdrücklich gebilligt hat», entgegnete Cedd. Auf seinem wettergegerbten, hageren Gesicht traten in Höhe seiner Wangenknochen zwei leuchtende, hellrosa Flecken hervor.

«Anatolius von Laodikeia? Unsinn!» Wilfrid sprang auf und breitete die Arme aus. «Ich habe keinen Zweifel daran, daß Ihr Euch Eure sogenannten kalendarischen Berechnungen erst vor zwei Jahrhunderten auf Euren einsamen Inseln ausgedacht habt. Roms Berechnungen dagegen wurden sorgfältig ausgearbeitet und gehen auf Vik-torius von Aquitanien zurück.»

«Viktorius!» Ein sonnengebräunter, kaum mehr als dreißig Jahre alter Mann aus den Reihen der Anhänger Columbans schnellte von seinem Sitz. Er hatte blondes Haar, und seine Miene war äußerst angespannt. «Jedes Kind weiß, daß diese Berechnungen auf einem Irrtum beruhen.»

Die auskunftsfreudige Schwester beugte sich zu Fidelma.

«Das ist Cuthbert von Melrose. Er ist dort Prior, seitdem unser seliger Bruder Boisil gestorben ist. Cuthbert gehört zu unseren besten Rednern.»

«Auf einem Irrtum?» schnaubte Wilfrid ärgerlich. «Diesen Irrtum müßt Ihr uns erklären.»

«Wir stehen zu den Berechnungen, auf die sich die Synode von Arles geeinigt hat, und halten es mit unserem Osterfest wie die frühesten Christen», erwiderte Cuthbert. «Rom ist im Irrtum. Rom hat sich von der ursprünglichen Datierung des Oster-fests entfernt, indem es die von Viktorius aufgestellten Behauptungen übernahm. Dieser Viktorius von Aquitanien hat aber nichts anderes getan, als in der Amtszeit von Papst Hilarius ein paar Veränderungen durchzusetzen. Er hat nicht einmal gründliche Berechnungen angestellt.»

«Jawohl», pflichtete ihm Äbtissin Abbe von Col-dingham, Oswius Schwester, bei. «Und hat Dionysius Exiguus während des Pontifikats Felix’ III.

nicht noch weitere Veränderungen eingeführt? Die ursprünglichen Regeln für die Bestimmung des Osterfests, über die in Arles völlige Übereinstimmung herrschte, sind in den letzten dreihundert Jahren von Rom mehrfach abgewandelt worden. Wir dagegen halten an der Berechnung fest, auf die man sich in Arles geeinigt hat.»

«Ihr wagt es, im Angesicht Gottes Unwahrheiten zu verbreiten!» versetzte Agilbert, der fränkische Bischof, aufgebracht.

Es herrschte allgemeiner Aufruhr, bis der ehrwürdige Cedd durch eine Handbewegung zu verstehen gab, daß er noch einmal das Wort zu ergreifen wünschte.

«Brüder und Schwestern, wir sollten uns doch an diesem heiligen Ort in Barmherzigkeit üben. Diejenigen, die gegen die Kirche Columbans zu Felde ziehen, tun dies nicht aus Bosheit, sondern aus reiner Unwissenheit. Auch nach dem Konzil von Arles ist sich die christliche Welt immer in einem einig gewesen, nämlich daß unsere Ostergedenktage auf dem Kalender des Landes beruhen müssen, in dem Christus geboren worden und zum Mann herangereift ist. Unsere Berechnungen müssen sich also zwangsläufig auf den jüdischen Mondkalender stützen, und danach fällt das Passahfest - der Zeitpunkt, an dem unser Heiland gekreuzigt wurde - in den Monat Nisan. Im jüdischen Kalender war dies der siebte Frühlingsmonat, die Zeit, die nach unserer Jahresaufteilung in die

Monate März und April fällt. Deshalb nennen wir unseren Feiertag auch , einen Namen, den wir vom hebräischen Pesach oder Passah abgeleitet haben. Hat nicht Paulus in seinen Briefen an die Korinther von Christus als ihrem Passahlamm gesprochen, weil allgemein bekannt war, daß er an diesem Festtag gekreuzigt worden ist? Seit jeher fällt das Passahfest an den vierzehnten Tag des Nisan. Aufgrund dieser Berechnung feiern wir das Fest an dem Sonntag, der zwischen dem vierzehnten und zwanzigsten Tag dem ersten Vollmond nach der Frühlings-Tagundnachtgleiche folgt.»

«Aber Rom hat es für gesetzeswidrig erklärt, ein christliches Fest am gleichen Tag zu feiern, auf den auch ein jüdisches fällt», unterbrach ihn Wilfrid.

«Genau», entgegnete Cedd ruhig. «Und das war völliger Unsinn, hat doch das Konzil von Ni-caea, das auf das Konzil von Arles folgte, es ausdrücklich für gesetzlich erklärt. Christus war im Fleisch ein Jude ...»

Die Versammlung hielt erschrocken den Atem an.

Cedd ließ den Blick über seine Zuhörer schweifen.

«Oder war er das etwa nicht?» fragte er bissig. «War er Nubier? Franke vielleicht? Oder gar Sachse? Nein! In welchem Land wurde Christus geboren, und wo wuchs er zum Manne heran, wenn nicht im Land der Juden?»

«Er war der Sohn Gottes!» rief Wilfrid aufgebracht.

«Und der Sohn Gottes wählte das Land Israel als seine Geburtsstätte, er wählte Juden zu seinen irdischen Eltern, und sein Wort brachte er zuallererst denen, die von Gott erwählt waren. Erst als sie ihren Messias töteten, wandten sich die Juden von seinem Wort ab und überließen es den Nichtjuden, es an ihrer Stelle aufzugreifen. Ist es vor diesem Hintergrund nicht völlig widersinnig, die Tatsache zu leugnen, daß Christus während eines jüdischen Festtages hingerichtet wurde? Wie kommen wir dazu, ein vollkommen willkürliches Datum zu setzen, an dem die christliche Welt seiner Hinrichtung gedenken soll, obwohl dieses Datum mit dem tatsächlichen Tag seiner Hinrichtung in keinerlei Zusammenhang steht?»

Äbtissin Abbe nickte zustimmend.

«Wie ich hörte, haben die Anhänger Roms es auch darauf angelegt, unseren Ruhetag zu verlegen, weil er auf den gleichen Tag fällt wie der hebräische Sabbat», rief sie empört.

Wilfrids Augen funkelten wütend.

«Sonntag, der erste Tag der Woche, ist mit Recht der christliche Ruhetag, denn er steht symbolisch für die Auferstehung.»

«Und doch ist der Sonnabend der traditionelle Tag der Ruhe, weil er der letzte Tag der Woche ist», warf ein anderer Bruder ein - Chad, der Abt von Lastingham, wie Fidelmas Nachbarin ihr bereitwillig zuflüsterte.

«Die vielen von Rom durchgesetzten Veränderungen führen uns immer weiter von unseren ursprünglichen Gedenktagen fort. Sie lassen unsere Feiertage willkürlich erscheinen und rauben ihnen jeglichen Sinn», rief Abbe laut. «Warum nicht zugeben, daß Rom im Irrtum ist?»

Wilfrid mußte warten, bis der heftige Beifall unter den Anhängern Columbans verebbt war.

Cedds Gelehrsamkeit brachte Wilfrid sichtlich in Verlegenheit. Wohl aus diesem Grund versuchte er, die Worte des altehrwürdigen Abts ins Lächerliche zu ziehen.

«Rom ist also im Irrtum?» schnaubte er. «Wenn Rom im Irrtum ist, ist auch Jerusalem im Irrtum, Alexandria und Antiochia ebenfalls, ja die ganze Welt ist im Irrtum, nur die Iren und Bretonen wissen, was richtig ist .»

Abt Chad war sofort auf den Beinen.

«Vielleicht wird es den edlen Wilfrid von Ripon erstaunen zu hören», begann er mit unüberhörbar spöttischem Unterton, «daß die Kirchen des Ostens die neue römische Datierung des Osterfests bereits zurückgewiesen haben. Sie folgen den gleichen Berechnungen wie wir. Und sie sind weit davon entfernt, den Namen Anatolius von Laodikeia zu verhöhnen. Weder die Kirche der Iren und Bre-tonen noch die Kirchen des Ostens haben sich von der ursprünglichen, in Arles beschlossenen Datierung abgewandt. Einzig und allein Rom versucht, die alte Tradition aus den Angeln zu heben.»

«Euer Fehler ist, daß Ihr Rom für den Mittelpunkt der Welt haltet», meldete sich Bischof Col-man zu Wort. «Ihr tut gerade so, als hätten wir uns mit dem Rest der Christenheit überworfen. Und doch haben sich die Kirchen Ägyptens und Syriens, ja die Kirchen des gesamten Ostens auf ihrem Konzil von Chalcedon geweigert, die römischen Vorschriften .»

Empörte Zwischenrufe aus den Rängen der Anhänger Roms übertönten den Rest seiner Rede. Der Aufruhr wurde so groß, daß man kein einziges Wort mehr verstand.

Schließlich stand König Oswiu auf und hob die Hand.

Nur allmählich kam der Saal zur Ruhe.

«Brüder und Schwestern, unsere Debatte am heutigen Vormittag war lang und anstrengend, und zweifellos haben wir viel Stoff zum Nachdenken ausgetauscht. Ich denke, wir sollten uns eine Pause gönnen, um neben der geistigen auch körperliche Nahrung zu uns zu nehmen. Den Nachmittag sollten wir in Meditation verbringen und uns erst heute abend wieder hier versammeln.»

Das allgemeine Stimmengewirr schwoll erneut an, als sich die Menge erhob, sich aber nur zögernd zu zerstreuen begann.

«Wo ist Athelnoth?» fragte Fidelma ihre Nachbarin.

Angestrengt ließ die Schwester ihren Blick über die Menge schweifen.

«Dort drüben, Schwester, auf der anderen Seite der Halle. Neben dem jungen Mann mit dem strohblonden Haar.»

Mit einem kurzen Seitenblick auf Eadulf wandte Schwester Fidelma sich in die angegebene Richtung und bahnte sich einen Weg durch die noch immer in zahlreichen Grüppchen debattierende Menge auf die Gestalt zu, die ihre Nachbarin ihr gezeigt hatte. Athelnoth stand dicht hinter dem streitlustigen Wilfrid von Ripon, und es sah ganz so aus, als wartete er auf eine Gelegenheit, mit ihm zu sprechen. Daneben stand ein hellblonder Mönch, der für Wilfrid mehrere Bücher und Dokumente bereitzuhalten schien.

«Bruder Athelnoth?» sprach Fidelma ihn von hinten an.

Athelnoth schrak zusammen. Fidelma konnte sehen, wie sich die Muskeln in seinem Nacken anspannten. Dann wandte er sich langsam zu ihr um.

Obgleich er nicht sehr groß war, schien er seine Begleiter dennoch zu überragen. Er hatte ein breites Gesicht, eine hohe Stirn, eine feine Adlernase und dunkle Augen. Fidelma nahm an, daß viele Frauen ihn anziehend fanden. Auf sie wirkten seine düsteren Züge jedoch eher unheimlich.

«Ihr wollt mich sprechen, Schwester?» fragte er mit volltönender, angenehmer Stimme.

Eadulf, der ihr in dem Gedränge nur mit Mühe hatte folgen können, erschien keuchend neben ihr.

«Wir wollten Euch sprechen.»

«Der Zeitpunkt ist denkbar ungünstig.» Athel-noths Tonfall deutete kühle Überlegenheit an, und jetzt, da er Eadulf sah, richtete er seine Worte ausschließlich an den sächsischen Mönch. Fidelma störte die Angewohnheit der Sachsen, sie, sobald ein Mann zugegen war, einfach zu übersehen. «Ich warte darauf, mit Abt Wilfrid sprechen zu können.»

Bruder Eadulf ergriff das Wort, ehe Fidelma antworten konnte. Vielleicht hatte er das wütende Funkeln in ihren Augen gesehen.

«Es wird nicht lange dauern, Bruder. Es geht um den Tod von Äbtissin Etain.»

Athelnoth konnte seine Züge nicht ganz beherrschen. Ein merkwürdiger Ausdruck huschte über sein Gesicht und verschwand, ehe Schwester Fidelma ihn deuten konnte.

«Was hat ihr Tod mit Euch zu tun?» erwiderte Athelnoth ungehalten.

«König Oswiu hat uns mit der Untersuchung des Mordfalles betraut, und zwar mit ausdrücklicher Billigung von Bischof Colman und Äbtissin Hilda.»

Schwester Fidelmas ruhige, klare Worte reichten aus, um Athelnoths Einwände zu entkräften. Solcher Machtbefugnis konnte auch er nichts entgegensetzen.

«Und was wollt Ihr von mir?» Fidelma konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, daß sich ein angriffslustiger Ton in seine Stimme schlich.

«Laßt uns hinausgehen. Hier versteht man sein eigenes Wort nicht», schlug Eadulf vor und deutete auf die Seitentür des sacrarium. Die versammelten Glaubensbrüder und -schwestern debattierten noch immer hitzig und schienen das Mittagsmahl vergessen zu haben, das im Refektorium auf sie wartete.

Athelnoth zögerte. Er sah Wilfrid an, der in ein ernstes Gespräch mit Agilbert, dem rundlichen Wighard und dem gebrechlichen Erzbischof von Canterbury vertieft war und niemanden sonst wahrzunehmen schien. Schließlich wandte er sich seufzend um und folgte Eadulf und Fidelma zur Tür. Sie gelangten in den hortus olitorius, den ausgedehnten Küchengarten, der jenseits des sacrarium lag.

Die warme Maisonne warf ihr helles Licht auf die bunten Beete. Der Duft unzähliger Pflanzen und Kräuter lag in der Luft.

«Laßt uns ein wenig zwischen den Beeten wandeln und nach der Enge in der Versammlungshalle Gottes frische Luft genießen», schlug Eadulf in fast salbungsvollem Ton vor.

Die anderen beiden nickten. Sie schritten einen der breiten Gartenwege entlang, wobei Fidelma und Eadulf Athelnoth in ihre Mitte nahmen.

«Kanntet Ihr Äbtissin Etain?» eröffnete Eadulf fast beiläufig das Gespräch.

Athelnoth warf ihm einen raschen Seitenblick zu.

«Das kommt darauf an, was Ihr unter versteht», gab er zurück.

«Ich kann die Frage ja noch einmal anders stellen», entgegnete Eadulf geduldig. «Wie gut kanntet Ihr Etain von Kildare?»

Athelnoth errötete leicht. Er zögerte, dann antwortete er knapp: «Nicht besonders gut.»

«Aber Ihr kanntet sie?» fragte Fidelma, zufrieden mit der Art, wie der sächsische Mönch die Befragung eingeleitet hatte.

«Ich bin ihr vor vier Tagen das erste Mal begegnet.»

Als niemand darauf etwas erwiderte, sprach Athelnoth hastig weiter.

«Bischof Colman rief mich vor einer Woche zu sich und sagte mir, er habe gehört, Äbtissin Etain von Kildare sei auf dem Weg nach Witebia, um an der großen Synode teilzunehmen. Ihr Schiff sei im Hafen von Ravenglass im Königreich Rheged eingelaufen, und die Reise würde sie über die Berge nach Catraeth führen. Colman bat mich, gemeinsam mit einigen Brüdern nach Catraeth zu reiten, die Äbtissin dort in Empfang zu nehmen und sicher nach Witebia zu geleiten. Und genau das habe ich auch getan.»

«Es war Euer erstes Zusammentreffen mit der Äbtissin?» hakte Fidelma noch einmal nach.

Athelnoth runzelte die Stirn.

«Weshalb stellt Ihr all diese Fragen?» fragte er vorsichtig.

«Wir möchten uns ein klares Bild von Etains letzten Tagen verschaffen», erklärte Eadulf.

«Also gut, dann lautet die Antwort ja. Es war unser erstes Zusammentreffen.»

Fidelma und Eadulf wechselten argwöhnische

Blicke. Beide waren sich ziemlich sicher, daß Athel-noth log. Aber warum?

«Und auf Eurer Reise nach Streoneshalh gab es keine besonderen Vorkommnisse?» fragte Eadulf nach einer Weile.

«Nein.»

«Ihr seid nicht mit der Äbtissin oder ihren Anhängern in Streit geraten?»

Athelnoth biß sich auf die Lippe.

«Ich weiß nicht, wovon Ihr redet», erwiderte er grimmig.

«Ach, kommt schon, Athelnoth», sagte Fidelma gutmütig. «Ihr seid als glühender Verfechter der Lehren Roms bekannt, und Äbtissin Etain sollte die Debatte für die Kirche Columbans eröffnen. Gewiß habt Ihr Euch das eine oder andere Wortgefecht geliefert? Schließlich wart Ihr einige Tage mit ihr und ihrem Gefolge unterwegs.»

Athelnoth zuckte mit den Schultern.

«Ach so. Natürlich gab es das eine oder andere Gespräch.»

«Gespräch?»

Athelnoths Seufzer kündete von kaum verhohlener Verärgerung.

«Wir hatten einen Streit, das war alles. Ich habe ihr meine Meinung gesagt. Das ist ja wohl kein Verbrechen.»

«Natürlich nicht. Ist es durch Euren Streit auch zu tätlichen Übergriffen gekommen?»

Athelnoth errötete. «Ein junger Mönch im Gefolge der Äbtissin mußte zurückgehalten werden. Sein jugendliches Ungestüm machte sein unbotmäßiges Gebaren verzeihlich. Er besaß noch nicht die nötige Reife, um zu wissen, daß sich Meinungsunterschiede nicht mit Gewalt austragen lassen. Ein hitzköpfiger Knabe. Der Vorfall blieb ohne Folgen.»

«Und was geschah, nachdem Ihr hier angekommen seid?»

«Ich hatte meine Pflicht gegenüber meinem Bischof erfüllt. Die Äbtissin und ihr Gefolge hatten Streoneshalh wohlbehalten erreicht, und meine Aufgabe war erfüllt.»

«Wirklich?» fragte Fidelma scharf.

Athelnoth sah sie an, antwortete jedoch nicht.

«Habt Ihr sie nach Eurer Ankunft noch einmal gesehen?» fragte Eadulf.

Athelnoth schüttelte den Kopf.

«Hm.» Fidelma atmete tief. «Ihr habt Etain also nicht in ihrer Zelle aufgesucht und den Wunsch geäußert, mit ihr alleine zu sprechen?»

Fidelma konnte förmlich sehen, wie sich die Gedanken des Mannes überschlugen. Seine Augen weiteten sich, als er an die Zeugin seines Auftritts dachte.

«Ach ja ...»

«Also doch?»

«Ich habe sie einmal aufgesucht.»

«Wann und zu welchem Zweck?»

Athelnoth war vorsichtig geworden. Fidelma

verspürte sogar ein gewisses Mitleid mit ihm, während er verzweifelt auf eine passende Ausrede sann.

«Gleich nach dem prandium, am ersten Tag der Debatte, ihrem Todestag. Ich wollte etwas zurückgeben, das ihr gehörte. Etwas, das sie während der Reise von Catraeth nach Streoneshalh verloren hatte.»

«Wirklich?» Eadulf kratzte sich am Ohr. «Warum habt Ihr es nicht schon vorher zurückgegeben?»

«Ich ... hatte es gerade erst entdeckt.»

«Und Ihr habt ihr zurückgeben - was auch immer es war?»

«Eine Brosche.» Athelnoths Stimme klang jetzt sicherer. «Und ich habe sie nicht zurückgegeben.»

«Warum?»

«Als ich die Äbtissin aufsuchte, war sie nicht allein.»

«Warum habt Ihr die Brosche nicht trotzdem dort gelassen?»

«Ich wollte mit ihr persönlich sprechen.» Athel-noth zögerte. «Deshalb beschloß ich, sie ihr später zurückzugeben.»

«Und das habt Ihr dann auch getan?»

«Wie bitte?»

«Ihr habt sie ihr später zurückgegeben?»

«Nein. Später war die Äbtissin tot.»

«Ihr besitzt ihre Brosche also noch immer?»

«Ja.»

Schwester Fidelma streckte stumm die Hand aus.

«Ich habe sie nicht bei mir.»

«Auch gut», meinte Fidelma lächelnd. «Dann werden wir Euch zu Eurem cubiculum begleiten. Ich nehme an, die Brosche ist dort?»

Athelnoth nickte zögernd.

«Wir folgen Euch», sagte Eadulf.

Gemeinsam wandten sie sich zum Gehen. Athelnoth schien sich äußerst unwohl in seiner Haut zu fühlen.

«Was ist an der Brosche denn so wichtig?» fragte er zögernd.

«Solange wir sie nicht gesehen haben, läßt sich das schwer feststellen», gab Fidelma mit ruhiger Stimme zurück. «Im Augenblick verfolgen wir alles, was mit der Äbtissin im Zusammenhang steht.»

Athelnoth schnaubte wütend. «Falls Ihr nach verdächtigen Personen sucht, kann ich Euch eine nennen. Als ich zur Äbtissin kam, um ihr die Brosche zu bringen, war diese seltsame Schwester bei ihr.»

Fidelma hob die Augenbrauen.

«Ihr meint Schwester Gwid?»

Athelnoth nickte. «Die mißgünstige Piktin, die so grobschlächtig aussieht und sich ständig über jede Kleinigkeit ereifert. Die Pikten sind die Erzfeinde unseres Volkes. Mein Vater hat im Krieg gegen sie sein Leben gelassen. Jedenfalls ist diese Gwid der Äbtissin nicht von der Seite gewichen.»

«Wen sollte das wundern?» gab Eadulf zurück. «Sie war ihre Sekretärin.»

Athelnoth verzog das Gesicht.

«Mir war es von Anfang an ein Rätsel, warum Äbtissin Etain sie zu ihrer Sekretärin berufen hatte. Aus Mitleid vielleicht? Das Mädchen folgte der Äbtissin wie ein Hund. Fast hatte man das Gefühl, sie hielt Etain für die Wiedergeburt einer Heiligen.»

«Aber Etain hat Gwid ausdrücklich eingeladen, nach Witebia zu kommen und ihr als Sekretärin zu dienen», sagte Fidelma. «Hätte sie so etwas aus Mitleid getan?»

Athelnoth zuckte mit den Schultern und führte sie stumm durch den schattigen Kreuzgang zu seinem cubiculum.

Es war eine kleine, zweckmäßig eingerichtete Zelle, die sich in nichts von den anderen cubicula in der Abtei unterschied. Doch daß Athelnoth eine eigene Kammer anstelle eines einfachen Bettes in einem dormitorium zugewiesen worden war, zeugte von seiner wichtigen Stellung in der Kirche Northumbriens - eine Tatsache, die Fidelma wortlos zur Kenntnis nahm.

Athelnoth stand zögernd auf der Schwelle und blickte auf die kargen Sandsteinwände.

«Die Brosche .?» erinnerte ihn Fidelma an den Grund ihres Kommens.

Mit einem Nicken ging Athelnoth zu dem Holzhaken, an dem seine Sachen hingen. Darunter befand sich auch die epera, eine Ledertasche, in der reisende Glaubensbrüder ihre Habseligkeiten aufbewahrten.

Er griff mit der Hand in die Tasche, runzelte die Stirn und durchsuchte ihren Inhalt noch einmal gründlich.

Mit verwirrter Miene wandte er sich zu Fidelma und Eadulf um.

«Sie ist nicht da. Ich kann sie nirgends finden.»

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