XIX

VOR ÄBTISSIN HILDAS KAMMER BLIEB

Schwester Fidelma stehen, sah Bruder Eadulf an und verzog das Gesicht.

«Seid Ihr aufgeregt, Fidelma?» flüsterte Eadulf besorgt.

«Wer wäre unter diesen Umständen wohl nicht aufgeregt?» erwiderte sie. «Unser Widersacher ist stark und gerissen. Und die Beweise, die ich in der Hand habe, sind lückenhaft. Wie ich Euch bereits sagte, gibt es nur einen Schwachpunkt, und es kommt alles darauf an, ob es mir gelingt, die Gegenseite aus der Reserve zu locken. Wenn es nicht klappt .» Sie zuckte die Achseln. «Es ist durchaus möglich, daß uns der Schuldige doch noch entwischt.»

«Ich bin da und werde Euch unterstützen.»

Es klang nicht prahlerisch. Es war eine schlichte, tröstliche Aussage.

Voller Zuneigung lächelte ihn Fidelma an und streckte die Hand nach ihm aus. Eadulf ergriff sie und kurz sahen sie einander tief in die Augen. Dann senkte Fidelma den Blick und klopfte an die Tür.

Wie Fidelma es gewünscht hatte, waren alle versammelt - Äbtissin Hilda, Bischof Colman, König Oswiu, Äbtissin Abbe, Schwester Athelswith, Priester Agatho, Schwester Gwid und Bruder Wighard, der Sekretär des verstorbenen Erzbischofs. Oswiu hockte mit düsterer Miene auf dem Stuhl vor dem

Feuer, der sonst Colman vorbehalten war. Der Bischof hatte hinter Hildas Tisch Platz genommen. Alle anderen standen im Zimmer verteilt.

Erwartungsvolle Blicke wandten sich Fidelma und Eadulf zu.

Fidelma neigte den Kopf vor dem König und sah dann Äbtissin Hilda an.

«Mit Eurer Erlaubnis, Mutter Oberin?»

«Ihr könnt sofort beginnen, Schwester. Wir sind gespannt darauf, was Ihr uns zu sagen habt, und ich bin sicher, wir werden alle erleichtert sein, wenn es vorüber ist.»

«Also gut.» Fidelma hüstelte aufgeregt, vergewisserte sich mit einem kurzen Blick noch einmal Eadulfs Unterstützung und begann:

«Als wir anfingen, Äbtissin Etains gewaltsamen Tod näher zu untersuchen, ließen wir uns von einem Gedanken leiten, der bei vielen schon zur Überzeugung geworden war, nämlich daß dieser Mord auf politischen Motiven gründete.»

«Diese Schlußfolgerung lag ja wohl auch auf der Hand», warf Bischof Colman gereizt ein.

Fidelma ließ sich davon nicht beirren.

«Ihr alle seid wahrscheinlich - ebenso wie wir -davon ausgegangen, daß Etain getötet wurde, um die wichtigste Stimme der Kirche Columbans zum Schweigen zu bringen. Und wer hätte daran ein größeres Interesse haben können als die Anhänger Roms, die in Etain ihre gefährlichste Feindin sahen. Habe ich nicht recht?»

Die Anhänger Columbans murmelten beifällig, nur Wighard schüttelte den Kopf.

«Das ist eine verleumderische Unterstellung.»

Fidelma betrachtete den rundlichen Mönch aus Kent tadelnd.

«Aber doch ein Fehler, der unter den gegebenen Umständen verzeihlich ist», gab sie zurück.

«Ihr räumt also ein, daß es ein Fehler war?» nahm Wighard sie beim Wort.

«Ja. Äbtissin Etain wurde nicht deshalb ermordet, weil sie eine bestimmte religiöse Auffassung vertrat.»

Colmans Miene wurde argwöhnisch.

«Wollt Ihr damit sagen, daß Athelnoth am Ende doch der Mörder war? Daß er sich Etain unzüchtig näherte, zurückgewiesen wurde und ihr aus gekränktem Stolz die Kehle durchschnitt? Und daß er sich, als er sich entdeckt wähnte, selbst das Leben nahm?»

Fidelma lächelte mild.

«Ihr greift mir voraus, Bischof.»

«So lautete jedenfalls das Gerücht, das in dieser Abtei umging. In die Welt gesetzt haben es wohl die Anhänger Roms.» Colmans Stimme bebte vor Zorn.

Der schwarzäugige Priester Agatho, der bis dahin vollkommen still gewesen war, fing plötzlich mit schriller Stimme zu singen an:

«Gerüchte reisen eiliger als der Wind,

nichts ist so schnell, wie es Gerüchte sind.»

Er senkte den Kopf und verstummte so unvermittelt, wie er begonnen hatte.

Alle sahen ihn verwundert an.

Fidelma warf Eadulf einen kurzen Blick zu, um ihn zu warnen. Bald würde sie ihre Karten offenlegen müssen. Sie straffte die Schultern und fuhr fort, ohne Agatho weiter zu beachten:

«Ihr habt das zutreffende Motiv genannt, Bischof von Lindisfarne, es jedoch der falschen Person zugeschrieben.»

Colman schnaubte verächtlich.

«Ein Verbrechen aus Leidenschaft? Pah! Ich war immer dafür, Männer und Frauen zu trennen. Heißt es nicht im Buch Hiob: ? Wir sollten diese Doppelhäuser verbieten, wie es der heilige Finnian von Clonard getan hat, der sich weigerte, eine Frau auch nur anzuschauen.»

Äbtissin Abbes Wangen waren rot vor Empörung.

«Wenn es nach Euch ginge, Colman von Lin-disfarne, müßten wir ein Leben ohne Liebe fristen. Wahrscheinlich würdet Ihr auch noch Endas Gelübde gutheißen, selbst mit Faenche, seiner eigenen Schwester, nur noch dann zu sprechen, wenn zwischen den beiden ein Tuch aufgespannt war!»

«Besser ein Leben ohne Liebe als ein Leben voller Ausschweifung und Hedonismus», gab der Bischof hitzig zurück.

Mit hochrotem Kopf funkelte die Äbtissin ihn wütend an. Sie schien kaum Luft zu bekommen, denn sie öffnete den Mund, um zu sprechen, brachte aber kein Wort heraus. Fidelma griff mit mahnender Stimme ein.

«Schwestern, Brüder, vergessen wir nicht den Zweck unseres Treffens?»

Oswiu lächelte höhnisch, während er dem Streit seiner Kleriker lauschte.

«Ihr habt recht, Fidelma von Kildare», stimmte er zu. «Das Gespräch erinnert mich allmählich an die Versammlung im sacrarium. Sagt uns lieber, warum wir den Tod Eurer Äbtissin zu beklagen haben, warum der Erzbischof von Canterbury starb, warum Athelnoth und Seaxwulf ihr Leben lassen mußten und warum selbst Alhfrith, mein erstgeborener Sohn, nicht mehr unter uns weilt. Der Tod scheint in Streoneshalh wie eine Seuche umzugehen. Steht dieser Ort womöglich unter einem bösen Stern?»

«Mit einem bösen Stern hat das alles nichts zu tun. Und was Alhfriths Tod betrifft, kennt Ihr die Antwort selbst am besten. Ich weiß, Ihr trauert einerseits um Euren Sohn, während Ihr Euch andererseits darüber im klaren seid, daß Ihr beinahe einer verräterischen Verschwörung zum Opfer gefallen wäret», erwiderte Fidelma. «Die Frage nach dem Tod Deusdedits von Canterbury kann nur Gott beantworten, denn der Erzbischof ist an einer heimtückischen Krankheit gestorben. Aber die

Morde an Etain, Athelnoth und Seaxwulf hat ein und dieselbe Person auf dem Gewissen.»

Im Zimmer herrschte erwartungsvolles Schweigen.

Fidelmas Blick wanderte von einem zum anderen. Alle sahen trotzig zurück.

«Dann sprecht und sagt uns endlich, wer diese Person ist», befahl Oswiu mit scharfer Stimme.

Fidelma wandte sich zum König um.

«Ich werde sprechen, aber zur gegebenen Zeit und ohne Unterbrechung.»

Agatho hob lächelnd eine Hand und machte das Zeichen des Kreuzes.

«Amen. Die Wahrheit, Deo volente!»

Äbtissin Hilda biß sich auf die Lippe.

«Sollte Schwester Athelswith den Priester nicht zurück in sein cubiculum bringen, Schwester Fidelma? Ich fürchte, nach den Belastungen der letzten Wochen ist ihm nicht ganz wohl.»

«Nicht wohl? Wer unwohl ist, krankt im Gemüt!» krächzte Agatho und lächelte plötzlich. «Aber der Schlaf des Kranken hat scharfe Augen.»

Fidelma zögerte, dann schüttelte sie den Kopf.

«Ich glaube, es ist besser, wenn Agatho hört, was wir zu sagen haben.»

Widerwillig lenkte Äbtissin Hilda ein. Nach einer kurzen Pause fuhr Fidelma fort:

«Einen Tag vor ihrem Tod erzählte mir Etain, daß sie vorhabe, ihr Amt als Äbtissin von Kildare aufzugeben, sobald die Synode vorüber sei. Wie Ihr alle wißt, war Etain eine Frau von großer Begabung. Ihr selbst habt sie als Sprecherin der Kirche Colum-cilles, den Ihr Columban nennt, nach Streoneshalh eingeladen. Hätte sie nicht zur Familie Brigits gehört, hätte sie sicherlich auch durch eigene Leistung eine hohe Stellung erlangt. Sie heiratete jung, verlor ihren Ehemann und folgte der Tradition ihrer Familie, ins Kloster zu gehen. Sie tat sich durch große Gelehrsamkeit hervor, und so kam es, daß sie zur Äbtissin von Kildare gewählt wurde, der Abtei, die ihre ruhmreiche Verwandte, Brigit, die Tochter Dubhtachs, gegründet hat.»

«Wir alle kennen Etains Ruf und ihre Verdienste», warf Äbtissin Hilda ungeduldig ein.

Mit einem tadelnden Blick brachte Fidelma sie zum Schweigen. «Kurz nach meiner Ankunft in Streoneshalh», führ sie nach einer Weile fort, «traf ich Etain und sprach mit ihr. Sie erzählte mir, sie habe einen Mann gefunden, mit dem sie von nun an zusammenleben wolle. Dieser Wunsch sei so stark, daß sie sich entschlossen habe, ihr Äbtissinnenamt aufzugeben und mit ihrem zukünftigen Ehemann in ein Doppelhaus zu ziehen, wo Männer, Frauen und Kinder gemeinsam ein gottgeweihtes Leben führen können. Dummerweise ging ich zuerst davon aus, daß es sich bei Etains neuer Liebe um einen Iren handeln müsse.»

«Die Vermutung lag nahe», schaltete sich Eadulf zum erstenmal ein. «Wie Ihr wißt, hatte Etain Irland noch nie zuvor verlassen.»

Fidelma schenkte Eadulf einen dankbaren Blick.

«Bruder Eadulf möchte mich über meine Unzulänglichkeiten hinwegtrösten», murmelte sie. «Aber ich mußte wieder einmal erfahren, daß man keine voreiligen Schlußfolgerungen ziehen darf. In Wirklichkeit hatte Etain sich nämlich in einen Sachsen verliebt - und er sich in sie.»

Die anderen hingen gespannt an ihren Lippen.

«Ihr müßt wissen, daß Etain in Emly, wo sie bis zu ihrer Berufung als Äbtissin von Kildare Philosophie lehrte, Athelnoth kennenlernte.»

«Athelnoth hat sechs Monate in Emly studiert», ergänzte Eadulf.

Colman nickte zustimmend.

«Das stimmt. Aus diesem Grund habe ich auch Bruder Athelnoth nach Catraeth geschickt, um die Äbtissin an der Grenze zu Rheged in Empfang zu nehmen und nach Streoneshalh zu bringen. Er kannte Etain.»

«Natürlich kannte er sie», stimmte Fidelma zu. «Eine Tatsache, die er nach dem Mord an Etain leugnete. Warum? Weil er als überzeugter Anhänger Roms bekannt war und fürchtete, daß man ihm die Verbindung mit Etain nachteilig auslegen würde? Ich glaube nicht, daß dies die einzige Begründung war.»

«Viele Anhänger Roms sind in Irland ausgebildet worden», warf Oswiu ein. «Ja, es wohnen der Synode sogar einige irische Brüder bei, die sich auf die Seite Roms geschlagen haben. Niemand hat einen Grund, Freundschaften zu den Anhängern Columbans zu leugnen.»

«Athelnoth wollte nicht über die Beziehung sprechen, weil er der Mann war, den Etain heiraten wollte», sagte Fidelma ruhig.

Äbtissin Abbe sah sie entrüstet an.

«Wie konnte Etain eine Verbindung mit einem solchen Mann überhaupt in Erwägung ziehen?» fragte sie.

Fidelma lächelte schwach.

«Ihr, die Ihr überall predigt, daß die Liebe das größte Geschenk Gottes an die Menschen ist, solltet diese Frage eigentlich am besten beantworten können, Äbtissin Abbe von Coldingham.»

Abbe reckte trotzig das Kinn, und ihre Wangen röteten sich.

«Wenn ich jetzt an mein Gespräch mit Etain zurückdenke», fuhr Fidelma fort, «wird mir klar, daß sie mir damals schon alle nötigen Hinweise gegeben hat. Sie sagte mir, sie würde einen Fremden lieben. Ich deutete diese Worte falsch und dachte, sie meinte damit einen Mann, den sie noch nicht lange kannte. Ich verstand nicht, daß sie damit einen Ausländer meinte, denn in Irland bezeichnen wir Fremde und Ausländer mit ein und demselben Wort. Außerdem sagte sie mir, sie habe mit ihrem Liebsten bereits Verlobungsgeschenke ausgetauscht. Ich hätte schon vorher daran denken sollen, daß es bei den Eoghanacht Brauch ist, sich bei der Verlobung gegenseitig Broschen zu schenken. Als Bruder Eadulf

Athelnoths Leichnam untersuchte, hat er bei ihm Etains Brosche gefunden.»

Eadulf bestätigte ihren Bericht mit einem Nicken.

«Und Athelnoths Brosche fanden wir bei dem toten Seaxwulf», ergänzte er. «Beide Broschen waren an einem Stück Pergament befestigt, dessen Inschrift aus einem Buch mit griechischen Liebesgedichten stammte.»

Oswiu sah sie verständnislos an.

«Wollt Ihr etwa behaupten, daß Seaxwulf der Mörder war?»

Fidelma schüttelte den Kopf.

«Nein. Die Brosche, die Athelnoth bei sich hatte, war eindeutig in Irland angefertigt worden. Ganz offensichtlich handelte es sich bei dieser Brosche um das Verlobungsgeschenk, das Etain ihm gegeben hat. Seaxwulf dagegen hatte eine Brosche bei sich, die aus Sachsen stammt. Athelnoth hatte sie Etain geschenkt. Die Person, die Äbtissin Etain ermordet hat, hat die sächsische Brosche an sich genommen, die wir später beim toten Seaxwulf fanden. Seaxwulf hatte sie entdeckt und wollte sie mir zeigen. Um dies zu verhindern, ist er ermordet worden. Er hätte mir den Namen der Person nennen können, die all diese Morde auf dem Gewissen hat. Aber diese Person entdeckte, daß Seaxwulf Brosche und Pergament gestohlen hatte, und tötete ihn. Ich kam dazu, so daß besagte Person keine Zeit mehr hatte, die Brosche und das belastende Pergament mit dem Gedicht an sich zu nehmen.»

«Belastend?» fragte Hilda. «Für wen?»

Eadulf trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. Bisher hatte die verdächtigte Person Nerven aus Stahl bewiesen. Ihre Miene war wachsam, aber gelassen.

«Laßt uns das noch einmal klarstellen», warf Wighard ein. «Ihr sagt, Etain sei von einem eifersüchtigen Liebhaber getötet worden. Athelnoth, mit dem sie sich heimlich verlobt hatte, habe sie jedoch nicht umgebracht. Statt dessen wurde er von demselben Mann getötet, der auch Etain umgebracht hatte. Und dann hat der gleiche Täter auch noch Seaxwulf ermordet. Warum?»

Eadulf hatte das Gefühl, sich erklärend einschalten zu müssen.

«Athelnoth wurde nicht bloß deshalb umgebracht, weil er von Etain geliebt wurde, sondern auch, weil er den Verdacht in die richtige Richtung hätte lenken können. Seaxwulf wußte, wer Etains und Athelnoths Mörder war, weil er ihm die Brosche und das griechische Gedicht gestohlen hatte. Er hatte sie an sich genommen, ohne zu wissen, was er in den Händen hielt. Als ihm klar wurde, daß es sich um ein Beweisstück handelte, bat er Fidelma um ein heimliches Treffen. Damit er den Mörder nicht preisgeben konnte, wurde er selbst ermordet.»

Oswiu seufzte.

«Das ist mir alles zu verwickelt. Ihr dürft uns jetzt nicht länger auf die Folter spannen. Wer ist

Etains eifersüchtiger Liebhaber. Nennt uns endlich den Namen dieses Mannes!»

Schwester Fidelma lächelte hintergründig.

«Habe ich denn gesagt, daß es ein Mann ist?»

Langsam wandte sie sich zu Schwester Gwid um. Das Gesicht der Schwester war grau, fast wie versteinert. Haßerfüllt starrte sie Fidelma an.

«Schwester Gwid, wie ich sehe, habt Ihr einen Riß in Eurer tunica, der sich nur schwer stopfen ließ. Würdet Ihr uns bitte erklären, wie Ihr zu dem Riß gekommen seid? Ich nehme an, Ihr seid mit der tunica am Bettpfosten hängengeblieben, als Ihr Euch unter Athelnoths Bett vor Schwester Athelswith versteckt habt.»

Ehe die Anwesenden wußten, wie ihnen geschah, zog Gwid ein Messer aus den Falten ihres Gewandes und warf es nach Fidelma.

Fidelma war von Gwids unerwartetem Handeln so überrascht, daß sie erstarrte.

Sie hörte nur einen heiseren Warnruf, dann wurde sie auch schon so heftig zu Boden gestoßen, daß ihr der Atem stockte.

Gleich darauf ertönte ein schriller Schrei.

Der heftige Aufprall auf den Steinboden war sehr schmerzhaft gewesen. Fidelma fand sich unter einem keuchenden Eadulf wieder, der sich auf sie geworfen hatte, um sie vor dem todbringenden Wurfgeschoß zu retten. Fidelma hob den Kopf, um festzustellen, woher der Schrei kam.

Offenbar hatte Agatho hinter ihr gestanden.

Gwids Messer steckte in seiner Schulter, und Blut floß über seine Tunika. Ungläubig starrte er auf den Griff. Dann begann er zu jammern und zu schluchzen.

Gwid lief zur Tür, doch der hochgewachsene Oswiu stellte sich ihr in den Weg und hielt sie mit beiden Händen fest. Die sich heftig wehrende junge Frau war so kräftig, daß Oswiu sein Schwert ziehen mußte, um sie in Schach zu halten, während er laut nach seinen Wachen rief. Es bedurfte zweier Krieger, um die rasende Furie abzuführen. Oswiu befahl ihnen, sie in eine Zelle zu sperren und gut zu bewachen.

Der König betrachtete die roten Kratzspuren auf seinen Unterarmen, die Gwid ihm beigebracht hatte. Dann wandte er sich Fidelma zu.

«Ich glaube, Ihr schuldet uns eine Erklärung, Schwester», sagte er und fügte dann etwas freundlicher hinzu: «Seid Ihr verletzt?»

Eadulf half Fidelma vom Boden auf, klopfte ihre Kleider ab, goß Wein in einen Pokal und reichte ihn ihr.

Fidelma lehnte dankend ab.

«Agatho ist der Verletzte, um den Ihr Euch kümmern müßt.»

Sie drehten sich zu Agatho um. Schwester Athelswith war schon dabei, seine Blutung zu stillen.

Trotz des Messers und des Blutflecks lachte Agatho jetzt und kreischte mit schriller Stimme:

«Wem außer den Göttern ist es vergönnt, auf Erden zu wandeln, ohne Schmerzen zu leiden?»

«Ich werde ihn zu Bruder Edgar, unserem Medikus, bringen», bot Schwester Athelswith an.

«Das wird das beste sein», stimmte Fidelma traurig lächelnd zu. «Bruder Edgar wird die Schnittwunde zu behandeln wissen. Für den um-nachteten Geist des armen Mannes wird er wohl leider kaum etwas tun können.»

Während die domina des domus hospitale Aga-tho zur Tür führte, wandte sich Fidelma zu König Oswiu um.

«Ich hatte vergessen, wie stark und geschickt Schwester Gwid ist», sagte sie entschuldigend. «Und ich konnte nicht ahnen, daß sie vor Zeugen zu Gewalt greifen würde.»

«Schwester Fidelma, wollt Ihr uns sagen, daß Gwid diese abscheulichen Morde ganz allein auf dem Gewissen hat?» fragte Äbtissin Abbe mit grimmiger Miene.

«Ja», bestätigte Fidelma, «genau das will ich sagen. Und Schwester Gwid hat Euch den Beweis für ihre Schuld selbst geliefert.»

«Allerdings», stimmte Äbtissin Hilda zu. Der Schreck über Gwids Gewalttätigkeit stand ihr noch ins Gesicht geschrieben. «Aber daß eine Frau ... so stark sein kann .!»

Fidelma wandte sich lächelnd an Eadulf. «Ich glaube, ich könnte jetzt doch etwas von dem Wein vertragen.»

Eifrig reichte ihr der sächsische Bruder den Weinpokal. Sie trank ihn aus und stellte ihn auf den Tisch.

«Ich wußte, daß Gwid Äbtissin Etain verehrte und sich große Mühe gab, ihr zu gefallen. Aber es war ein Irrtum anzunehmen, daß diese Verehrung bloßem Respekt entsprang. Nach den jetzigen Ereignissen sind wir alle schlauer. Gwid hat in Emly bei Etain studiert. Sie ist ein einsames, unglückliches Mädchen, das übrigens als Kind aus seinem Heimatland verschleppt worden war und fünf Jahre lang hier in Northumbrien als Sklavin leben mußte. Mit der Zeit begann sie, Etain förmlich anzuhimmeln. Sie empfand es als schweren Schlag, als Etain zurück nach Kildare ging, sie ihr jedoch nicht folgen konnte, weil sie noch einen weiteren Monat in Emly bleiben mußte. Als sie endlich frei war und Etain nachreisen wollte, hörte sie, daß Etain zur Teilnahme an der Synode in Streoneshalh berufen worden war. Sie entschloß sich zur Überfahrt von Irland nach Iona. Dort, in Iona, lernte ich Gwid kennen. Um sich unserer Reisegruppe nach Streo-neshalh anschließen zu können, behauptete sie, Etain habe sie zu ihrer Sekretärin ernannt. Hinweise darauf, was in Wirklichkeit geschehen war, gab es reichlich, doch weder ich noch alle anderen wußten sie richtig zu deuten. Als ich Etain sah, erkannte sie Gwid nur sehr zögerlich als ihre Sekretärin an. Und Athelnoth gab uns zu verstehen, daß Gwid nicht auf Wunsch Etains, sondern aus freien

Stücken nach Streoneshalh gekommen sei. Seiner Meinung nach hatte Etain die Schwester, nachdem sie nun einmal hier war, nur aus Mitleid zu ihrer Sekretärin gemacht. Er führte nicht näher aus, worauf er diese Annahme stützte, weil er seine Beziehung zu Etain nicht offenbaren wollte. Doch wurde seine Meinung von Seaxwulf bestätigt. Wil-frids Sekretär sagte uns ganz unmißverständlich, daß Gwid nicht Etains Vertrauen besäße und auch nicht in die Verhandlungen eingeweiht worden sei, die Wilfrid mit Etain geführt hatte. Wir alle waren so entsetzt, als wir von diesen Verhandlungen erfuhren, daß wir diesen wichtigsten Punkt übersahen.»

Fidelma hielt inne. Sie goß sich noch etwas Wein ein und nippte nachdenklich an dem Pokal.

«Gwid hatte sich in eine unnatürliche Verehrung für Etain hineingesteigert - eine Leidenschaft, die Etain niemals erwidern konnte. Etain selbst hat mir einen Hinweis darauf gegeben, den ich jedoch lange Zeit übersehen habe. Sie sagte, Gwid könne zwar sehr gut Griechisch, verwende aber mehr Zeit darauf, die Gedichte Sapphos zu lesen, als die Evangelien zu studieren. Da ich selbst auch die griechische Sprache beherrsche, hätte ich die Bedeutung dieser Worte sofort verstehen müssen.»

«Ich kann kein Griechisch», unterbrach sie Oswiu. «Wer ist Sappho?»

«Eine große Dichterin, die auf der Insel Lesbos lebte. Sie scharte einen Kreis von Frauen und Mädchen um sich und schrieb Gedichte, die von ihrer leidenschaftlichen Liebe für die Mitglieder dieses Kreises erzählen. Der Dichter Anakreon sagt, es ginge auf Sappho zurück, daß der Name der Insel Lesbos mit der gleichgeschlechtlichen Liebe der Frauen verbunden wird.»

Äbtissin Hilda rang verzweifelt die Hände.

«Wollt Ihr uns sagen, daß Schwester Gwid eine ... unnatürliche Leidenschaft für Etain empfand?»

«Ja. Und diese Leidenschaft beherrschte sie vollkommen. Sie offenbarte Etain ihre Liebe, indem sie ihr Kopien zweier Gedichte Sapphos schenkte. Eines davon gab Etain Athelnoth, vermutlich um ihm zu erklären, was vor sich ging. Jedenfalls hat er das uns gegenüber angedeutet. Das andere Gedicht behielt sie selbst. Am Tag der Eröffnung der Synode muß es dann zu einer Aussprache gekommen sein. Etain sagte Gwid, daß sie ihre Liebe nicht erwidern könne, und wahrscheinlich erklärte sie ihr auch, daß sie Athelnoth liebe und nach der Synode mit ihm in einem Doppelhaus zusammenleben wolle.»

«Gwid verlor darüber den Verstand», warf Eadulf ein. «Ihr habt ja vorhin selbst gesehen, wie rasch sie in Wut gerät. Und sie ist den meisten von uns an Körperkraft überlegen. Sie stürzte sich auf die zierliche Etain und schnitt ihr die Kehle durch. Dann nahm sie Etains Verlobungsgeschenk, die sächsische Brosche, an sich und suchte nach den beiden Gedichten, die sie Etain geschenkt hatte.

Weil sich das andere bereits in Athelnoths Besitz befand, konnte sie jedoch nur eines entdecken.»

«Ich erinnere mich noch gut daran, daß sie am ersten Tag der Debatte verspätet ins sacrarium kam», sagte Fidelma. «Sie war offenbar schnell gelaufen, ihr Gesicht war gerötet, und sie keuchte atemlos. Sie war direkt vom Mord an Etain ins sacrarium gekommen.»

«Solange Etain im Zölibat lebte, konnte Gwid sich damit abfinden, ihre ergebene Sklavin zu sein», erklärte Eadulf. «Ihr nahe sein zu dürfen, war ihr vermutlich genug. Aber als Etain ihr offenbarte, daß sie Athelnoth liebte . » Er zuckte vielsagend die Achseln.

«Nichts ist vernichtender als der Haß, der aus verschmähter Liebe entsteht», bemerkte Fidelma. «Gwid ist eine starke junge Frau, aber sie ist auch klug und gerissen. Jedenfalls versuchte sie, den Verdacht auf Athelnoth zu lenken. Bald wurde ihr klar, daß Etain ihm das zweite Gedicht gegeben hat. Wieder wurde sie von Zorn überwältigt. Daß Etain ihre Liebe verraten und sie vor diesem Mann lächerlich machen konnte! Ja, sie sagte mir sogar, der Mord sei eine Art Absolution für Etains Sünden. Natürlich drückte sie das nicht so direkt aus, aber ich hätte es trotzdem richtig deuten müssen.»

Oswiu sah sie fragend an.

«Gwid sah sich gezwungen, Athelnoth zu töten?»

Fidelma nickte.

«Sie war stark genug, ihn erst bewußtlos zu schlagen und ihn dann an einem Pflock in seinem cubiculum aufzuknüpfen, so daß er erstickte und es auf den ersten Blick wie ein Selbstmord wirkte.»

«Womit sie jedoch nicht gerechnet hatte», ergänzte Eadulf, «war, daß Schwester Athelswith sie hörte und zur Tür kam. Gwid hatte gerade noch genug Zeit, sich unter dem Bett zu verstecken, als die domina Athelnoths cubiculum betrat. Athelswith erblickte den Toten und lief davon, um Alarm zu schlagen. Gwid konnte fliehen, hatte aber keine Zeit mehr, nach dem Pergament mit dem zweiten Gedicht zu suchen.»

«Aber wie ist Seaxwulf an die sächsische Brosche mit dem anderen Gedicht gekommen?» fragte Wighard. «Ihr sagtet doch, Gwid habe beides nach dem Mord an Etain an sich genommen.»

Schwester Athelswith kehrte zurück, nickte Fidelma zu und bedeutete ihr fortzufahren.

«Bruder Seaxwulf hatte eine große Schwäche. Wie die Elstern liebte er hübsche, glitzernde Dinge. Er war bereits dabei erwischt worden, wie er die persönlichen Habseligkeiten der Brüder im dormitorium der Männer durchwühlte. Obgleich Wilfrid ihn mit Rutenschlägen bestraft hatte, muß Seaxwulf später auch noch das dormitorium der Frauen durchsucht haben. Jedenfalls stieß er dabei auf Etains Brosche. Sie war in ein Pergament mit griechischen Gedichtzeilen eingewickelt, und er steckte beides ein. Die Gedichtzeilen fesselten ihn.

Er sah im librarium nach und stellte fest, daß sie den Versen Sapphos entnommen waren. Als wir ihn im librarium trafen, fragte er mich sogar nach dem Brauch irischer Liebender, untereinander Geschenke auszutauschen. Ich verstand nicht, worauf er hinauswollte, bis es dafür zu spät war. Seaxwulf muß Gwid verdächtigt haben. Als er hörte, daß Athelnoth ermordet worden war, sprach er mich im Refektorium an. Da er Angst hatte, die anderen Schwestern könnten ihn verstehen, vereinbarte er auf griechisch mit mir ein heimliches Treffen. Allerdings vergaß er dabei, daß Gwid in Hörweite saß und besser Griechisch konnte als wir alle zusammen. Es war ein tödlicher Fehler. Gwid mußte ihn zum Schweigen bringen. Sie folgte ihm ins Kellergewölbe, versetzte ihm einen Schlag auf den Hinterkopf, stieß ihn ins Weinfaß und drückte seinen Kopf so lange in die Flüssigkeit, bis er kein Lebenszeichen mehr von sich gab. Dann kam ich, und sie hatte keine Zeit mehr, die Leiche zu durchsuchen. Als ich die Leiche im Weinfaß entdeckte, rutschte ich von dem Schemel, auf den ich gestiegen war, und verlor das Bewußtsein. Mein Schrei rief Eadulf und Schwester Athelswith herbei, die mich in mein cubiculum brachten. Das gab Gwid Zeit, Seaxwulfs Leichnam aus dem Faß zu zerren, durch den Tunnel zum defectorum an den Klippen zu schleifen und ins Meer zu werfen. Nicht ohne ihn vorher zu durchsuchen, versteht sich.»

«Und warum hat sie Brosche und Gedicht nicht an sich genommen?» fragte Äbtissin Hilda. «Schließlich hätte sie dafür genug Zeit gehabt.»

Fidelma lächelte.

«Seaxwulf folgte der neuesten Mode. Er hatte einen dieser neuartigen sacculi in seine tunica eingenäht und bewahrte darin seine kostbarsten Beutestücke auf. Die arme Gwid wußte nichts von der Existenz des sacculus. Aber sie machte sich darüber auch keine großen Sorgen, da sie glaubte, den Leichnam und damit auch alle Beweisstücke ein für allemal losgeworden zu sein, indem sie ihn über den Rand der Klippen ins Meer stieß. Sie konnte nicht ahnen, daß die Strömung ihn innerhalb der nächsten sechs bis zwölf Stunden in der Nähe des Hafens anspülen würde.»

«Ihr sagt, Schwester Gwid habe Seaxwulfs Leiche durch den Tunnel zum Meer geschleift. War sie wirklich so kräftig?» fragte Hilda. «Und woher wußte Gwid, die in Streoneshalh doch eine Fremde war, von dem defectorum? Dieser Ort ist unseren Brüdern vorbehalten, und nur männliche Gäste erfahren von seiner Existenz.»

«Schwester Athelswith hat mir gesagt, daß man den Schwestern, die in der Küche arbeiten, von dem defectorum erzählt, damit sie sich nicht versehentlich dorthin verirren und das männliche Schamgefühl verletzen. Nach Etains Tod arbeitete Schwester Gwid in der Küche.»

Schwester Athelswith errötete.

«Das stimmt», räumte sie ein. «Schwester Gwid bat mich, in der Küche arbeiten zu dürfen, um in der verbleibenden Zeit ihres Aufenthalts etwas Sinnvolles tun zu können. Ich hatte Mitleid mit ihr und erklärte mich einverstanden. Die oberste Köchin hat sie dann wahrscheinlich vor dem defectorum der Männer gewarnt.»

«Eine Weile lang haben wir uns von den Ränken Eures Sohnes Alhfrith ablenken lassen», sagte Eadulf, an König Oswiu gewandt. «Wir dachten, Taran oder Wulfric könnten in die Morde verwickelt sein.»

Schwester Fidelma breitete abschließend die Hände aus. «Nun kennt Ihr das Ergebnis unserer Ermittlungen.»

Eadulf lächelte finster.

«Eine Frau, deren Liebe verschmäht wird, ist wie ein gestauter Strom: tief, undurchsichtig, aufgewühlt und von mächtigen, untergründigen Strudeln beherrscht. So war es auch bei Gwid.»

Colman seufzte.

«Schon Publicius Syrus sagte: »

Äbtissin Abbe lachte höhnisch.

«Syrus war ein Narr wie die meisten Männer.»

Oswiu erhob sich.

«Jedenfalls bedurfte es einer Frau, um diese Greueltaten aufzudecken», sagte er. Dann runzelte er die Stirn. «Hätte Gwid allerdings nicht ein so unbeherrschtes Wesen, wäre Eure Beweislage recht dünn gewesen. Zwar fügt sich alles zu einem Bild zusammen, doch hättet Ihr Gwid auch überfuhren können, wenn sie ruhig geblieben wäre und alles abgestritten hätte?»

Fidelma lächelte. «Das werden wir wohl niemals erfahren, Oswiu von Northumbrien. Aber ich denke schon. Kennt Ihr Euch in der Kunst der Kalligraphie aus?»

Oswiu verneinte.

«Ich habe diese Kunst bei Sinlan von Kildare studiert», erklärte Fidelma. «Für ein geübtes Auge ist es nicht schwer, die persönlichen Besonderheiten einer Schrift zu erkennen - die Art, wie die Buchstaben geformt sind, die Verzierungen, die Neigung der Schrift. Sapphos Verszeilen waren eindeutig von Gwid abgeschrieben.»

«Dann sollten wir Euch dankbar sein, Fidelma von Kildare», sagte Colman ernst. «Wir schulden Euch viel.»

«Bruder Eadulf und ich haben den Fall gemeinsam gelöst», entgegnete Fidelma verlegen.

Sie lächelte Eadulf rasch zu.

Eadulf erwiderte diese Geste.

«Schwester Fidelma ist zu bescheiden. Ich habe nicht viel zur Lösung beigetragen.»

«Immerhin genug, um Eure Ergebnisse der Versammlung bekannt zu geben, ehe ich heute mittag meine Entscheidung verkünde», gab Oswiu zurück. «Genug, um meinen Worten die Schärfe zu nehmen und das Mißtrauen zu zerstreuen, das sich in den Köpfen unserer Brüder und Schwestern eingenistet hat.»

Er hielt inne und lachte bitter.

«Ich spüre, wie eine Last von meinen Schultern fällt, weil der Mord an Äbtissin Etain nicht für Iona oder Rom, sondern im Namen der Sinneslust, die zu den niedrigsten Beweggründen zählt, begangen wurde.»

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