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UNGLÄUBIG WANDTE SICH SCHWESTER

Fidelma zu Bruder Taran um.

«Sind diese Sachsen tatsächlich so abergläubisch? Wissen sie nichts über Astronomie?»

«Sie wissen sehr wenig», erwiderte Taran in selbstgefälligem Ton. «Unser Volk hat ihnen einiges beigebracht, aber ihre Auffassungsgabe ist äußerst langsam.»

«Jemand sollte ihnen sagen, daß eine Sonnenfinsternis nichts Übernatürliches ist.»

«Sie würden es Euch nicht danken», zischte Schwester Gwid ihr von der anderen Seite zu.

«Aber viele unserer Brüder und Schwestern hier sind doch mit der Astronomie vertraut und kennen Sonnen- und Mondfinsternisse und all die anderen Himmelserscheinungen», widersprach Fidelma.

Bruder Taran bedeutete ihr zu schweigen, denn Wilfrid, der streitbare Sprecher Roms, hatte sich von seinem Platz erhoben.

«Wenn das Licht der Sonne am Himmel erlischt, meine Brüder und Schwestern, kann das nur ein böses Omen sein. Aber was will es uns sagen? Ich kann es Euch erklären, denn die Botschaft ist ganz einfach: Wenn die Kirchenmänner und -frauen dieses Landes nicht den irrigen Vorstellungen Columbans entsagen und sich der einzigen und wahrhaftigen Kirche Roms zuwenden, wird das Christentum in diesem Land ebenso ausgelöscht werden wie die Sonne am Himmel. Gott hat uns ein Zeichen gegeben. Es liegt an uns, es zu befolgen.»

Die Anhänger Roms applaudierten heftig, während von den Vertretern der Kirche Columbans ein Aufschrei der Empörung zu hören war.

Mit wutverzerrtem Gesicht sprang ein junger Mann mit der Tonsur Columbans von seinem Platz auf und ergriff das Wort.

«Woher will Wilfrid von Ripon das wissen? Hat Gott persönlich mit ihm gesprochen und ihm die Erscheinung am Himmel erklärt? Mit gleichem Recht könnten wir behaupten, das Zeichen deute darauf hin, daß Rom sich Columban anschließen soll. Denn wenn jene, die den römischen Verfälschungen des wahren Glaubens anhängen, nicht endlich einsehen, daß Columbans Lehre den einzig heilbringenden Weg zu Gott und Jesus Christus darstellt, wird das Christentum in diesem Land wahrhaftig untergehen.»

Nun waren es die römischen Anhänger, die empört aufbegehrten.

«Das war Cuthbert von Melrose», erklärte Taran grinsend. Der Streit schien ihm sichtlich Spaß zu machen. «Es war Wilfrid, der ihn - auf Alhfriths Geheiß - von Ripon vertrieben hat, weil er nicht bereit war, den Lehren Columbans abzuschwören.»

Nun erhob sich König Oswiu. Sofort kehrte ehrfürchtige Stille ein.

«Dieser Streit führt uns nicht weiter. Die Versammlung wird ausgesetzt, bis .»

Ein schriller Schrei hinderte ihn daran, seinen Satz zu beenden.

«Die Sonne erscheint wieder!» rief eine Stimme vom Fenster.

Begeistert liefen einige hin, um ihre Köpfe dem blauen Nachmittagshimmel entgegenzurecken.

«Ja, da ist sie wieder. Der schwarze Schatten entfernt sich», riefen sie. «Seht doch, da ist das Sonnenlicht.»

Tatsächlich schwand die trübe Dämmerung, und das Sonnenlicht flutete wieder durch die Fenster.

Schwester Fidelma schüttelte den Kopf. Das Geschehen war ihr ein Rätsel. Schließlich war sie in einem Land aufgewachsen, in dem die Bewegungen der Gestirne schon seit langem beobachtet und aufgezeichnet wurden.

«Ich kann kaum glauben, daß die Menschen hier in solchem Unwissen leben. In unseren Barden- und Klosterschulen kann jede Lehrerin und jeder Lehrer den Lauf von Sonne und Mond erklären. Jeder halbwegs vernünftige Mensch sollte doch über den Stand der Sonne im Laufe eines Jahres, die Phasen des Mondes und die Zeiten von Ebbe und Flut Bescheid wissen. Und die Sonnenfinsternisse sind dann auch kein Geheimnis mehr.»

Bruder Taran grinste.

«Ihr vergeßt, daß Euer Volk für seine Kenntnisse auf dem Gebiet der Astronomie berühmt ist, während die Sachsen noch Barbaren sind.»

«Aber sie haben doch sicherlich die Abhandlungen des großen Dallan Forgaill gelesen, der erklärt hat, wie oft der Mond vor der Sonne steht und deshalb ihr Licht verdeckt?»

Taran zuckte die Achseln.

«Nur wenige Sachsen können lesen und schreiben. Und das auch erst, seitdem der selige Aidan ins Land kam und sie darin unterrichtete. Bis dahin konnten sie nicht einmal ihre eigene Sprache niederschreiben, geschweige denn die Sprachen anderer Völker verstehen.»

Äbtissin Hilda schlug mit ihrem Amtsstab auf den Steinfußboden, um die Versammlung zur Ruhe zu gemahnen. Zögernd kehrten die Teilnehmer zu ihren Plätzen zurück, und das Gemurmel erstarb.

«Das Licht ist zurückgekehrt, also können auch wir fortfahren. Weilt die Äbtissin von Kildare inzwischen unter uns?» Fidelmas Gedanken wandten sich wieder ihrer Freundin zu. Der ihr zugedachte Platz war noch immer leer.

Hämisch grinsend erhob sich Wilfrid von Ri-pon.

«Wenn die Sprecherin Columbans nicht willens ist, zu uns zu sprechen, können wir getrost auch ohne sie anfangen.»

«Es gibt noch genügend andere, die für unsere Sache sprechen werden!» rief Cuthbert zurück und machte sich dabei nicht einmal die Mühe, von seinem Platz aufzustehen.

Wieder klopfte Äbtissin Hilda mit ihrem Amtsstab auf den Boden.

In diesem Augenblick schwang zum zweitenmal die große Tür auf. Diesmal war es eine junge Schwester, die kreidebleich und mit aufgerissenen Augen ins sacrarium stürzte. Auf den ersten Blick konnte man erkennen, daß sie schnell gelaufen war - ihr Haar war in Unordnung, und ihre Kopfbedeckung war verrutscht. Verängstigt suchte sie nach Äbtissin Hilda, die unmittelbar vor dem Thron des Königs stand.

Besorgt sah Fidelma, wie die Schwester zu Hilda eilte, um ihr etwas ins Ohr zu flüstern. Leider konnte sie Hildas Gesicht nicht sehen, da die Äbtissin gleich darauf zum König ging, sich zu ihm beugte und die Nachricht der Schwester wiederholte.

Einen Augenblick lang herrschte gespannte Stille. Dann erhob sich der König und verließ, gefolgt von Hilda, Abbe, Colman, Deusdedit, Wighard und Jakobus, das sacrarium.

Kaum waren sie gegangen, brach allgemeiner Aufruhr los. Die Versammelten bestürmten einander mit Fragen. Jeder wollte wissen, ob jemand die Bedeutung dieser seltsamen Vorgänge zu deuten vermochte, und bald schwirrten die wildesten Vermutungen durch den Saal.

Zwei Nonnen aus Coldingham, die hinter Fidelma saßen, vertraten die Ansicht, ein Heer von Bretonen müsse den Aufenthalt des Königs bei der Synode genutzt und das Königreich überfallen haben; sie könnten sich noch gut an die Invasion von Cadwallon ap Cadfan, dem König von Gwynedd, erinnern, bei der Northumbrien verwüstet worden sei und viele ihr Leben gelassen hätten.

Ein Bruder aus Gilling, der vor Fidelma saß, hielt dagegen einen Überfall durch die Armee von Mer-cia für viel wahrscheinlicher; schließlich habe Wulfhere, der Sohn Pendas, geschworen, die Unabhängigkeit Mercias wiederherzustellen, und seine Herrschaft südlich des Humber bereits festigen können. Mercia lauere ständig auf eine Gelegenheit, sich an Oswiu zu rächen, der Penda getötet und vor drei Jahren die Herrschaft über Mercia angetreten hatte. Zwar habe Wulfhere einen Abgesandten zur Synode geschickt, doch könne sich dahinter nichts weiter als ein geschicktes Ablenkungsmanöver verbergen.

Fidelma war erstaunt über all die politischen Spekulationen. Auf jemanden, der mit dem Machtkampf der sächsischen Königreiche untereinander nicht vertraut war, wirkten sie höchst verwirrend. Wie anders war es in dieser Hinsicht doch in ihrem Heimatland, wo eine klare Ordnung herrschte, der Hochkönig von allen anerkannt wurde und das Gesetz in allen Dingen das letzte Wort hatte. Auch wenn manche Unterkönige untereinander uneins waren, die Herrschaft Taras zweifelte niemand an. Die Sachsen hingegen lagen ständig miteinander im Streit, und als oberstes Gesetz schien bei ihnen das Schwert zu gelten.

Fidelma spürte, wie sich eine Hand auf ihre Schulter legte. Eine junge Schwester beugte sich zu ihr herab.

«Schwester Fidelma? Die Mutter Oberin wünscht Euch unverzüglich zu sehen.»

Erstaunt erhob sich Fidelma von ihrem Platz. Bruder Tarans und Schwester Gwids neugierige Blicke folgten ihr, als sie in Begleitung der jungen Ordensschwester das von lauten, aufgeregten Stimmen widerhallende sacrarium verließ und durch die ruhigeren Flure zum Gemach der Äbtissin eilte. Mit gefalteten Händen stand Äbtissin Hilda vor dem großen Kamin. Ihr Gesicht war bleich und ernst. Bischof Colman hatte, genau wie am Abend zuvor, auf einem Stuhl vor dem Kamin Platz genommen. Auch er wirkte wie von einer schweren Last niedergedrückt.

Beide waren so tief in Gedanken versunken, daß sie Fidelmas Ankunft kaum bemerkten.

«Ihr habt mich rufen lassen, Mutter Oberin?»

Äbtissin Hilda richtete sich seufzend auf und sah Colman an, der sie mit einer Handbewegung zum Sprechen aufforderte.

«Bischof Colman hat mich daran erinnert, daß Ihr in Eurem Land eine angesehene Gesetzeskundige seid, Fidelma.»

Schwester Fidelma runzelte die Stirn.

«Das ist richtig», bestätigte sie und fragte sich, worauf die Äbtissin hinauswollte.

«Er hat mich auch daran erinnert, daß Ihr die

Gabe besitzt, Rätsel zu lösen und undurchsichtige Verbrechen aufzuklären.»

Eine ungute Vorahnung beschlich Fidelma.

«Meine liebe Schwester», fuhr die Äbtissin nach einer Pause fort, «auf diese Gabe sind wir nun angewiesen.»

«Ich bin gern bereit, Euch mit meinen bescheidenen Fähigkeiten zu Diensten zu sein», erwiderte Fidelma.

Äbtissin Hilda rang die Hände und suchte nach den passenden Worten.

«Ich habe schlechte Nachrichten, Schwester Fidelma. Äbtissin Etain von Kildare wurde in ihrer Zelle gefunden, und zwar mit durchgeschnittener Kehle. Was wir gesehen haben, läßt nur eine Deutung zu: Äbtissin Etain ist heimtückisch ermordet worden.»


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